Kapitel 7

 

Seit fünf Tagen hatte es nicht mehr geregnet, und Gerüchte über eine Dürreperiode verbreiteten sich in der Grafschaft. Selbst die Nebel, die sonst die Gipfel der Höhenzüge verhüllten, hatten sich aufgelöst. Dem unvermindert grellen Licht des ununterbrochenen Sonnenscheins ausgesetzt, fingen die Leute schon an, sich leicht unwohl zu fühlen, als würde ein Fremdkörper ihr Privatleben bedrohen. Gutes Wetter war stets für eine Gnade des Himmels gehalten worden, doch nun verlor sich das Gefühl, besonders begnadet zu sein. Stattdessen erlebten sie eine Folge von Tagen, von denen jeder dem nächsten glich, so dass Abwechslung und Überraschung, die ihnen das Wetter normalerweise bot, aus ihrem Leben verschwunden waren. Der Stechginster und das Heidekraut auf den Berghängen sahen am Mittwoch genauso aus, wie sie am Montag oder Dienstag ausgesehen hatten. Und die höchsten Bergspitzen blieben stets sichtbar, waren leicht auszumachen, verschwanden nie, waren immer da.

Vorhersagbarkeit hatte sich eingestellt, ein Phänomen, an das sich niemand gewöhnen konnte. Bislang war Unzuverlässigkeit die Norm gewesen, und nun musste man mit der Bedrohung, genannt Zuverlässigkeit, fertig werden: Steten Wechsel gab es nicht mehr, und eine Folge von Tagen, bei der einer dem anderen glich, konnte im Laufe der Zeit leicht Gleichförmigkeit in den Menschen bewirken, so dass auch bei ihnen einer dem anderen glich, ein Erscheinungsbild, das in ihrem Volksstamm unbekannt war. Freilich dauerte diese Wetterkonstellation erst den fünften Tag an, noch hatte sich das generelle Unbehagen nicht zu nackter Angst gesteigert, aber eine gewisse Spannung war bereits entstanden.

Pater Colavinwar, wieversprochen, erschienenundhatte – ohne etwas zu erreichen – neben dem Webstuhl und der Harfe in Anwesenheit von Kitty und Kieran eine Messe zelebriert. Als Kieran von der in Aussicht genommenen liturgischen Feier erfuhr, hatte er sofort vorbehaltlos zugestimmt und sich lediglich gefragt, warum weder er noch seine Frau nicht schon früher an so ein Mittel gedacht hatten, dem bekümmerten Paar zum Frieden zu verhelfen.

Dass er überhaupt keine Einwände erhob, sondern sofort einverstanden war, hatte Kitty als weiteren Beweis seiner Untreue gedeutet. Gewiss hatte er sich nicht getraut, seine Stimme gegen das Ereignis zu erheben. Denn das hätte sogleich Fragen aufgeworfen, die zu beantworten er nicht gewillt war, hätte er dann doch seinen Schmerz über den möglichen Verlust von Brid eingestehen müssen.

Natürlich hätte auch Kitty ihre Probleme mit einem plötzlichen Verschwinden von Taddy gehabt. Sie hätte ihren Verlust gegen den von Kieran abwägen müssen – aber bisher hatte sie sich dergleichen nicht eingestanden, sie hätte ja sonst zugeben müssen, dass ihre Verdächtigungen hinsichtlich Kierans Treubruch etwas mit eigenen Empfindungen zu tun hatten. Also dachte sie lieber nicht ernsthaft darüber nach. Sie konnte es sich einfach nicht leisten.

Zu ihrer Enttäuschung waren die Geister der heiligen Opferhandlung ferngeblieben. Pater Colavin hatte sich auf ihre Anwesenheit vorbereitet; Kitty und Kieran hatten auf den überzeugenden Beweis ihrer Behauptungen gehofft. Nach einem reichhaltigen Frühstück mit Haferbrei, Eiern, Würstchen, Muffins, Kartoffeln und Kaffee hatte sich Pater Colavin verabschiedet und nur darum gebeten, dass man ihn auf dem Laufenden hielt, ob seine Bemühungen einen Erfolg zeitigten. Der Fall war nicht eingetreten. Brid war zum abendlichen Melken erschienen, und Taddy hatte in Gesellschaft des Schweins den Sonnenschein genossen.

Am Tag danach war es Kieran, der mit der plausibelsten Erklärung für ihre Abwesenheit während der Messe aufwartete. Sie war auf Irisch gelesen worden, war also nicht die lateinische Liturgie, mit der Brid und Taddy vertraut waren. Da sie diesen verbliebenen Rest der Reformen des Konzils nicht kannten, hatten sie zweifelsohne angenommen, die feierliche Handlung stünde unter der Ägide der protestantischen Kirche Irlands – die von ihrem Anbeginn vor etlichen Jahrhunderten der Auffassung war, es habe keinen Sinn, die Liturgie getrennt von den Gläubigen zu feiern; Gott seien ohnehin alle Sprachen geläufig, selbst Irisch. Kieran schlug vor, Pater Colavin solle wiederkommen und eine lateinische Messe lesen, doch Kitty wandte ein, die Wirksamkeit einer Messe hänge nicht davon ab, wer zugegen sei und wer nicht. Die göttliche Gnade sei grenzenlos. Sie hatten gläubig der Mühewaltung ihres Priesters beigewohnt und könnten jetzt auf andere Mittel sinnen, den in Not Befindlichen Frieden zu bringen – wer auch immer damit gemeint sein mochte.

Eine weitere Auswirkung des ungewöhnlichen Wetters – die ständige Überwachung durch die Sonne – war zumindest bei Kitty darin zu sehen, dass sie bei ihrer Arbeit ungeduldig wurde. Natürlich hätte das auch an Brids fortwährender Gegenwart liegen können, nur kam sie erst gar nicht auf diese Möglichkeit. Auf jeden Fall war Kitty gewillt, Maggie Tulliver, Tom und Stephen Guest im Hochwasser des Floss zu ertränken und sich dieser ihr wenig entgegenkommenden elenden Geschöpfe zu entledigen. Doch bevor sie sich zu einer so ruchlosen Tat hinreißen lassen konnte, gab es Abhaltungen, erstens durch die Ankunft von Lord Shaftoe und zweitens durch eine urplötzlich hereinbrechende Sintflut, bei der eine Kuh fast im Bach ertrank und das Schwein in dem auf dem Burghof entstandenen Schlammbad geradezu in Ekstase geriet.

Lord Shaftoes Erscheinen am fünften der Sonnentage war etwas unerwartet. Doch mit einem Mal war er da, der Mann, der von eben dem Lord Shaftoe abstammte, der die Burg von Cromwell als Geschenk erhalten hatte, als Belohnung nämlich für das höchst effektive Abschlachten der ansässigen Bevölkerung in jenen weit zurückliegenden Tagen. Gleichermaßen stammte er auch von dem Lord Shaftoe ab, der von der Verschwörung erfahren hatte, die Burg in die Luft zu sprengen, und der die beiden jungen Leute deswegen hatte hängen lassen. Jene Lordschaft war dann etwas überstürzt aus Furcht vor dem irgendwo verborgenen Schießpulver abgereist, hatte jedoch seine Gefolgsleute angewiesen, erbarmungslos die Pachten und den Kirchenzehnten einzutreiben, die Säumigen auszupeitschen und von Haus und Hof zu jagen.

Danach hatte eine Reihe willfähriger Gutsverwalter auf den Ländereien residiert, aus Angst vor der zu erwartenden Explosion aber nicht in der Burg selbst, die stand leer. Sie lebten in Saus und Braus und hatten sich mit einer Schar von Henkern umgeben, die nur zu bereit war, die Leute zu demütigen und auszupeitschen, was, wie man weiß, zu den Lustbarkeiten hoher Herrschaften gehörte. Der Stammbaum der Lords erhielt im Laufe der Zeit unübersichtliche Verzweigungen, da auch etliche Bastarde ihre Ansprüche geltend machten. Um den Besitz der Burg zogen sich endlos Prozesse hin, bis jetzt plötzlich ein einziger Überlebender auftrat, der auf seine Rechte pochte. Ein Problem jedoch bedurfte noch der Lösung. Dank des unnachgiebigen Durchsetzungsvermögens von Kitty McCloud und der Machenschaften (die ihr mehr lagen als Verhandlungen) ihrer noch unnachgiebigeren Anwältin, Debra McAlevy, war das Eigentum in die sicheren Hände von Mrs. McCloud übergegangen, die voller Stolz von dem Anwesen Besitz ergriffen hatte und die es nicht kümmerte, ob darauf ein Fluch lastete oder nicht, ob da Schießpulver lagerte oder nicht. Sie sah es als Rückgabe gestohlenen Eigentums an, hatte man ihr doch von Kindheit an vorgegaukelt, sie stamme mütterlicherseits von Königen ab, die man vor langer Zeit enteignet hätte und die in vieler Herren Ländern verstreut leben mussten, wo niemand sich ihrer adligen Herkunft bewusst war und wo man sich ihrem Elend gegenüber gleichgültig verhielt. Hier in dieser Burg würde sie aufleben, würde sich ihrem Verlangen nach vertraulichem Umgang in Gesellschaft ihres geliebten Mannes, Kieran Sweeney, hingeben, der seinerseits von Königen gleichermaßen dunkler Herkunft abstammte.

Doch nun unter einem wolkenlosen Himmel, dessen Farbe dem Gewand der Heiligen Jungfrau glich, fuhr der gegenwärtige Lord Shaftoe – George Noel Gordon Lord Shaftoe – in einem geländegängigen Sportwagen von Walgröße vor, stieg aus und ließ aus dem hinteren Teil des Fahrzeugs einen übel aussehenden Rottweiler heraus. Der Riesenköter, den der Geruch der Kühe anzog, jagte bellend und japsend den Hang hinunter zum Bach. Derweil überquerte Lord Shaftoe die Auffahrt und öffnete, von niemanden unterstützt oder willkommen geheißen, die massive Tür, betrat die Große Halle und rief mit einer Stimme, in der angeborene Arroganz und Hochmut mitschwangen: »Miss McCloud? Ich suche eine Miss McCloud! Hallo! Miss McCloud?«

Kitty, die sich von ihrem Computer losgerissen hatte, ehe die Rufe wiederholt wurden – oder bevor Maggie und Tom und Stephen ersäuft worden waren –, erschien an der Brüstung der Galerie und rief: »Wenn das Ihr Hund ist, empfehle ich, ihn zurückzurufen, ehe ich auf ihn anlege und schieße.«

»Miss McCloud!« Lord Shaftoe hob die rechte Hand zu einem lässigen Gruß. Er trug gelbbraune Freizeithosen, von der Art, mit denen Kitty ihre männlichen Romanhelden anzog, die sie am Ende als ungemein eitel bloßstellte, und dazu das obligatorische teure Tweed-Jackett mit den aufgenähten, völlig unnötigen Lederflecken. »Ich bin Lord Shaftoe. Gewiss haben Sie von mir gehört. George Noel Gordon Lord Shaftoe.«

»Rufen Sie Ihren Hund zurück, oder muss ich meine Flinte holen!«

»Keine Angst. Er ist ganz harmlos. Gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, ich habe mich auf diesen Augenblick, Ihnen zu begegnen, schon lange gefreut. Ich habe Ihre Bücher gelesen.«

»Wer hat das nicht?«

»My Dream of You. Köstlich.«

»My Dream of You hat Nuala O’Faolain geschrieben.«

»Sind sie sicher?«

»Ziemlich sicher. Aber es ging mir mehr um Ihren Hund.«

»Ich wiederhole: Er ist harmlos. Es sei denn, Sie haben Hühner oder eine Katze. Oder halten sich vielleicht einen Hund. Er hat die Angewohnheit, sein Terrain zu sichern.«

Seine Lordschaft war groß gewachsen, das Haar fing an grau zu werden. Sein Gesicht hätte man kantig nennen können, hätte die Schwerkraft es nicht zur Erde gezerrt. Der ganze Mann schien nach unten zu sacken und zu erschlaffen, als wollte er sich nicht länger mühen, die Haut fest auf den Knochen zu halten. Sogar die Augen hatten einen Hang nach unten, und der fast lippenlose Mund zog sich in einem ständigen Unmut ausdrückenden Bogen abwärts, was den Menschen der Mühe enthob, die Gesichtszüge umzuarrangieren, wenn Missvergnügen auszudrücken war.

Kitty hatte keinen Zweifel, dass unter der maßgeschneiderten Kleidung auch die Brust- und Bauchmuskeln, die Wampe und das Gesäß schwabbelten, dem Dahinschmelzen eines Wachsgebildes ähnlich. Die Ohren waren klein, eigentlich sogar winzig, waren auf dem Weg, rudimentär zu werden. Dieses Phänomen der Evolution wurde wahrscheinlich hervorgerufen durch die seit langem bestehende Abneigung, auf das von anderen Gesagte zu hören. Seine Lordschaft war jedoch klug genug gewesen, sich in die Hände eines erstklassigen Schneiders zu begeben – der Hauptzuflucht hoffnungslos Unansehnlicher. Er hatte eine geschmackvolle modische Aufmachung geschaffen, die den Betrachter von der unschönen Anatomie ablenkte, welche so dem Blick verborgen blieb. Entschlossenen Schrittes kam Kitty die Steinstufen herunter, ging an Seiner Lordschaft vorbei zur Tür hinaus, um die eine Seite der Burg herum und den Hang zum Sumpfgelände hinunter. Das ängstliche Muhen der Kühe übertönte das Gebell, eine Kakophonie, die unweigerlich auf das Heranpreschen des Hundes zurückzuführen war. Kittys Anspannung ließ nach, als sie sich erinnerte, dass Sly mit Kieran den Nachmittag über in Tralee war. Sie ging so rasch, dass George Noel fast rennen musste, um sie einzuholen; wollte er an ihrer Seite bleiben, musste er ab und an einen Hopser tun. »Darf ich annehmen, Sie haben keinen Brief von Ihrem Anwalt bekommen … oder von meinem? Oder vielleicht eine E-Mail? Auch keinen Anruf? Eine Nachricht auf Ihrem Faxgerät?«

»Wenn ich arbeite, achte ich auf keines der Kommunikationsmittel. Und ich bin ständig am Arbeiten.«

»Sie haben mich also nicht erwartet?«

»Rufen Sie Ihren Hund!«

»Dann haben Sie also keine Ahnung, was Ihnen bevorsteht?«

»Ich weiß, was Ihrem Hund bevorsteht, wenn Sie ihn nicht zurückrufen.«

»Das ist mir wirklich sehr peinlich.«

Drei in Panik geratene Kühe brachen durch das Gesträuch, das den Sumpf umgab. Der Hund knurrte und schnappte mal nach der einen, dann nach der anderen. Kitty drehte sich abrupt um, griff vorn ins Tweedjackett der Lordschaft und drehte den Stoff im Uhrzeigersinn, um sein Gesicht näher an ihres zu bringen. »Hören Sie«, sagte sie, »ich bin eine Frau von unendlicher Geduld, aber nun hat sich die Unendlichkeit erschöpft. Sie betreten widerrechtlich mein Grundstück. Ihr Hund bedroht meine Kühe, und wenn Sie nicht von hier verschwinden, sobald ich auch nur eins zähle, prozessiere ich Ihnen das Hemd vom Leibe.«

»Ich denke, Sie sollten zuallererst mein Jackett loslassen.«

In dem Moment drangen lautes Gequieke und schrilles Quietschen aus dem Unterholz, und schon kam der Hund, verfolgt vom Schwein, den Hang heraufgaloppiert, wich urplötzlich zur Seite aus, raste hinunter und wieder herauf. Dann ging das Schwein zum Nahkampf über, und der Gejagte blieb, von der Kühnheit des Angriffs überrascht, wie erstarrt stehen, verharrte so vielleicht zwei Sekunden und retirierte hinter die Beine Seiner Lordschaft. Das Schwein steuerte in raschem Lauf auf Hund und Herr zu, dachte nicht daran, stehenzubleiben, sondern drängte sich ungestüm zwischen die hellbraunen Hosen und Kittys blaue Jeans. Der Hund drohte das Schwein anzufallen, fletschte die Zähne, wollte schon zuschnappen. Kitty drehte die Kragenaufschläge noch fester, bis sich ihre Nase und die Seiner Lordschaft fast berührten. Sie, George Noel Gordon, der Hund und das Schwein, alle erstarrten in ihrer jeweiligen Pose.

Seine Lordschaft, Kittys zusamengekniffene Lippen unmittelbar vor sich, bat: »Könnten Sie vielleicht mal Ihr Schwein zur Ordnung rufen? Es beschmutzt meine Hosen.«

Und damit endete die Episode. Kitty ließ den Tweed Seiner Lordschaft fahren, was beiden ermöglichte, sich wieder frei zu bewegen und das an ihren Beinen schubbernde Schwein loszuwerden. Der Hund wurde in den Sportwagen verfrachtet. Das Schwein schnüffelte im Gras.

»Ich hatte nicht …«, sagte Seine Lordschaft und versuchte sein Jackett an der hohlen Brust glatt zu streichen, »… hatte nicht so etwas Unziemliches erwartet.«

»Dafür wissen Sie nun, woran Sie sind«, erwiderte Kitty. »Ich empfange selten Gäste am Nachmittag.«

»Ich hatte gehofft, wir könnten – wie in der E-Mail und der telefonischen Benachrichtigung übermittelt – uns über gewisse Absprachen verständigen.« Er wischte einen Fleck des noch feuchten Schweinesabbers vom linken Knie seiner Freizeithose.

»Absprachen?«

»Sie werden doch wohl erfahren haben, was sich getan hat.«

»Ich meine, für einen Tag hat sich bereits genug getan.« »Ich bin der Besitzer der Burg.«

Ihre Augen trafen sich. Seine waren blassblau. Ihre, wie sie wusste, waren ebenfalls blau, aber dunkler, tiefer. Sie spürte auch – und das sofort –, dass sie sich mit diesem Mann in einem Kampf auf Biegen und Brechen befand. Ein Rechtsstreit hatte begonnen, bei dem einer gewinnen und der andere verlieren würde.

Sie zweifelte keinen Augenblick daran, wie er ausgehen würde. Beider Augenfarbe hatte längst entschieden. Seine waren zu blass, zu wässrig. Ihre hatten die richtige Farbschattierung, genau das richtige tiefe Blau. Der Ärmste würde sich dreinfinden müssen, daran war überhaupt nicht zu zweifeln. Man musste nur die verfügbaren Kräfte in Stellung bringen, die Finten und Paraden gewitzt und clever einsetzen. Am Ende würde Kitty triumphieren, während George Noel Gordon wie der Schlange nichts blieb, als »Erde zu fressen ihr Leben lang«1. Nachdem Kitty sich das alles zu ihrer Zufriedenheit zurechtgelegt hatte, war sie willens, eine der Situation angemessene Herablassung an den Tag zu legen. »Wenn ich auch gewöhnlich nachmittags keine Gäste empfange und unterhalte, bedeutet das nicht, dass ich nicht willens wäre, mich von anderen unterhalten zu lassen. Kommen Sie also besser herein und erzählen Sie mir, was das Ganze soll.«

»Gerne. Wenn Sie bitte mein Aussehen entschuldigen wollen. Meine Krawatte ist alles andere als präsentabel.«

»Einem Lord sieht man stets etwas nach.«

Und somit folgte ihr Lord Shaftoe in die Große Halle. Kitty war von einer inneren Unruhe getrieben, und um nicht bloß dasitzen und zuhören zu müssen, schlug sie vor, durch einige Räumlichkeiten der Burg zu wandern, während Seine Lordschaft berichtete, was zu berichten war. Im Folgenden ist Kittys Version wiedergegeben, wie sie sie in ihrem Gedächtnis abspeicherte.

Seiner Lordschaft Großvater, Urenkel des ersten Lord Shaftoe, hatte beabsichtigt, ständig auf Burg Kissane zu residieren, nachdem Generationen von Burgherren durch Abwesenheit geglänzt hatten, war aber stattdessen auf Geheiß Seiner Majestät nach Australien entsandt worden. Er hatte den Auftrag erhalten, den deportierten Verbrechern, die den Kontinent urbar machen sollten, die nötige Disziplin beizubringen, konnte die Familie doch auf einige diesbezügliche Erfahrung in Irland zurückblicken. Die Krone betrachtete Irland als wichtigstes Trainingsfeld für eine effektivere Form der Tyrannei und hatte sich bemüßigt gefühlt, auf die Sachkenntnis der Shaftoes zurückzugreifen, die aus der Zeit herrührte, da die Cromwellschen Marodeure bei der völligen Unterwerfung einen Teil der Grafschaft Kerry dem Clan der Shaftoes überantwortet hatten.

Augenscheinlich war es eine allseits anerkannte Tatsache, dass Habgier und Blutdurst genetisch bedingt waren, dass Grausamkeit und Hochmut zum Erstgeburtsrecht gehörten und, wie es die Natur vorsah, von Generation zu Generation in männlicher Linie weitergegeben wurden. Wahr ist freilich, dass sein Großvater in seinem Gartenschuppen ermordet wurde, und wahr ist auch, dass er vor diesem Ereignis einige Bastarde mit den losen Weibern gezeugt hatte, die Mutter England in dem vergeblichen Bemühen, das Mutterland moralisch zu säubern, nach Australien verschifft hatte. Ferner ist wahr, dass die Bastarde Erbansprüche stellten, zweifelsohne auf Betreiben ihrer liederlichen Mütter. Auch ist wahr, dass zwei der Dirnen Heiratsurkunden vorweisen konnten. Und wahr ist sogar, dass Lady Shaftoe anfänglich als die Mörderin im Gartenschuppen galt, doch das Blut auf ihrer Kleidung wurde von allen Untersuchungsbehörden als Spritzer von dem Schaf gedeutet, das sie an jenem Morgen geschlachtet hatte, wenngleich das dazu benutzte Messer just in Seiner Lordschaft linken Herzkammer steckte.

Das Recht des Erstgeborenen galt jedoch immer noch, wie in den beizeiten eingeleiteten Gerichtsverfahren bekräftigt wurde, in deren Ergebnis der legitime George Noel Gordon Lord Shaftoe, Vater des gegenwärtigen Lords, als der lange verschollene Erbe der Burg Kissane anerkannt wurde, inklusive all der Länderein, die immer noch nicht den Familien zurückgegeben worden waren, denen man sie vor Jahrhunderten so brutal entrissen hatte. Jetzt war der Sohn erschienen, um sein Erbe einzufordern.

All das war in Briefen offengelegt worden, die Mrs. McCloud noch nicht gelesen hatte. Seine Lordschaft stand nun auf dem Anwesen, um eine Übergabe in beiderseitigem Einvernehmen zu vereinbaren, infolgedessen Mrs. McCloud weichen und Seine Lordschaft den Familiensitz übernehmen würde, der, seit man den Sprengstoffanschlag verhindert hatte, unbewohnt geblieben war.

Im Verlaufe der Darlegungen hatte Seine Lordschaft immer wieder Bemerkungen eingeflochten wie »Sie können sich gewiss meine Überraschung vorstellen …«, und »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr mir Ihre Enttäuschung nahegeht …«, und »Stellen Sie sich vor, wie ich erleichtert war, als ich erfuhr, Sie würden vollauf entschädigt werden, nachdem, wie sich von selbst versteht, die Gerichts- und Anwaltskosten bezahlt sind.«

Ihrerseits stellte sich Kitty überhaupt nichts vor. Sie ließ es geschehen, dass der Mann sich in seinen absurden Vorstellungen erging, gönnte ihm diese Momente der Überheblichkeit, ermunterte ihn sogar, sich seine Erwartungen auszumalen und darin zu schwelgen. Sie war entschlossen, so gut wie gar nichts dazu zu sagen, wollte ihn einfach reden lassen, etwa so, wie sie – aus reinem Mitleid – dem Geschwätz eines geisteskranken Kesselflickers Gehör schenken würde. Was Kitty aber regelrecht amüsierte, war, wie ungeniert Seine Lordschaft durch die Burg eilte, während er seine Rückerstattungs-Geschichten absonderte. Es genügte ihm nicht, sich in der Großen Halle umzusehen, nein, er öffnete auch Türen, die in eine zur Waschküche umfunktionierten Vorratskammer führten oder ins Esszimmer, wo auch die Tischtennisplatte stand. Dann stieg er die Wendeltreppe hoch zur Galerie, inspizierte alles Mögliche, schaute in die Kamine und ihre Abzüge und prüfte im Vorbeigehen die Festigkeit des Mauerwerks.

Als sie ans Schlafzimmer kamen, das Kitty mit ihrem Gatten teilte, schloss sie einfach die Tür, die sie offen gelassen hatte. Seine Lordschaft konnte nur den allerflüchtigsten Blick auf eine massive Bettstatt erhaschen mit zerwühlten Laken und achtlos hingeworfenen Decken und Kissen, woraus man auf einen Aufruhr schließen konnte, dessen Elan sich nicht unbedingt erschöpft, sondern der eher eine Pause eingelegt hatte, um Kräfte für neue Kampfspiele zu sammeln. Lediglich das Zucken einer Augenbraue verriet, dass der Lord gesehen hatte, was er nicht hatte sehen sollen; er gestattete sich nun, die übrigen Türen am Gang zu öffnen und zu schließen. Mit einem unterdrückten »Ah!« gab er seiner Verwunderung und Anerkennung beim Anblick des renovierten Badezimmers Ausdruck, nahm sich sogar die Zeit, Kitty zur Reinlichkeit der Einrichtung zu gratulieren. Da sie ein paar Schritte hinter ihm war, streckte sie ihm die Zunge aus.

»Ich denke, Sie haben sich jetzt davon überzeugt«, sagte Kitty, »dass alles in bester Ordnung ist und dass sich eine weitere Besichtigung erübrigt.«

Seine Lordschaft hatte jedoch schon den Fuß auf die unterste Stufe der Treppe gesetzt. »Hier geht es wohl hinauf auf den Turm?«

Kitty fand, dass sie sich für einen Tag bereits genug herabgelassen hatte. »Dort oben ist der Raum, in dem ich arbeite, in dem ich schreibe«, erklärte sie. »Ab hier hat kein Außenstehender Zutritt. Das werden Sie gewiss verstehen.« In Wahrheit ging es ihr nicht darum, ihr geheiligtes Zimmer zu schützen, sondern das, was sie für sich den Webstuhlraum nannte. Jener Raum war ihr heiliger als der, in dem sie ihr Gewerbe betrieb. Dass dieser Mensch mit seiner bloßen Anwesenheit ihre Arbeitsumgebung entweihen könnte oder auch nur durch die Turmstube ginge, war etwas, wovon sie und ihr künstlerisches Schaffen sich erholen konnten. Aber allein bei dem Gedanken, er könnte seinen Fuß ins Allerheiligste setzen, in dem Brid an ihrem Webstuhl ohne Garn arbeitete und unaufhörlich die Mysterien wob, zu denen sie und Taddy so ungerechterweise verdammt waren, bäumte sich in Kitty alles auf.

Dass ein Shaftoe dort vorbeigehen könnte, ohne etwas zu sehen – ohne etwas zu wissen und ohne sich über das Verbrechen zu entsetzen, das Shaftoes an diesen jungen Leuten begangen hatten –, war mehr, als Kitty zu ertragen gewillt war.

Doch ehe die aufkeimende Wut sich in Worte entladen konnte, kam ihr ein anderer Gedanke. Unter Umständen würde er Brid und Taddy sogar sehen. Wenn er die Turmstube betrat, würden sich die beiden vielleicht zu ihm umdrehen und ihn anschauen – ihr Kummer, ihre ganze Verwirrtheit würden sich ihm offenbaren. Kitty würde ihm sagen, wer sie waren und wer sie sind und warum sie hier seien. Am Hals hätten sie noch die Wunden von dem groben Strick, ihre Seelen schwebten irgendwo in der Ferne – sie wüssten nicht wo – und warteten auf einen Akt der Gerechtigkeit oder der Barmherzigkeit, der sie mit ihrem Leib wieder vereinigen würde, sei es im Himmel oder in der Hölle. Dann würde es George Noel Gordon Lord Shaftoe wie Schuppen von den Augen fallen. Und das Bild, das sich ihm bot, würde aus den Nebeln der Zeit die Furien der Alten heraufbeschwören, die ihn packen und mit namenlosen Qualen quälen würden. Kitty verspürte große Lust, das zu erleben.

Und beinahe ohne Pause setzte sie den begonnenen Satz fort: »Aber da Sie so freundlich waren, meine Bücher zu lesen, steht es mir nicht an, mich selbstsüchtig zu verhalten. Bitte, gehen Sie voran. Doch seien Sie vorsichtig. Einige Stufen sind wacklig. Ich möchte nicht, dass Sie sich den Hals brechen.« Als sie sich das bildlich vorstellte, konnte sie ein Lachen nicht unterdrücken. Ein Lachen, von dem sie hoffte, es würde ihm nicht so klingen, wie es ihr klang: wie das schadenfrohe Gelächter einer Hexe.

»Es ist mir eine Ehre.« Natürlich empfand er das durchaus nicht so. Ihm wurde lediglich gewährt, was ihm ohnehin zustand. Er stammte von den Shaftoes ab. War selbst ein Shaftoe. Und ein Shaftoe zu sein, bedeutete keineswegs, wie es ein unehrerbietiger Bekannter einmal gesagt hatte, ein Haufen Scheiße zu sein. (Gab es eine Tür, die verschlossen blieb, sobald nur sein Name genannt wurde?) Und so begann Seine Lordschaft den Aufstieg.

»Hier also bringen Sie Ihre Wunderwerke zustande«, bemerkte er mit einem selbstgefälligen Lächeln.

»Sie sind wirklich sehr freundlich«, sagte Kitty.

Der Lord erlaubte seiner Nase und seinen Lippen, einen summenden Ton zu produzieren und Kitty damit anzudeuten, dass er ganz ihrer Meinung sei. »Darf ich fragen, woran Sie gegenwärtig arbeiten?«

»An einem Buch«, erwiderte Kitty.

»Das hätte ich mir denken können.« Rasch begab er sich zu der enger werdenden Treppe, die zu Brid und Taddy führte. Bevor er einen Fuß auf die erste Stufe setzte, fragte er beiläufig: »Wird das Buch ebenso gut werden, wie Ihr Werk In the Forest

Ihre Gesichtszüge erstarrten. »In the Forest ist von Edna O’Brien.«

»Wirklich? Hätte ich nicht gedacht.« Er ging die Stufen hoch. »Führt diese Treppe auch auf die Plattform oben auf dem Turm? Ich möchte die Aussicht genießen. Sie werden das gewiss verstehen.«

Kitty verstand es. Er wollte an der Brustwehr stehen und alles als sein eigen verkünden, über das sein Blick schweifte. Das sollte sie ihm gestatten, meinte sie, um ihn auf jede nur denkbare Enttäuschung vorzubereiten, wenn es sich herausstellte, dass, so sehr er sich auch als Shaftoe fühlte, die Burg Kitty gehörte und gehören würde, bis sie ihre kümmerlichen Überreste der Erde überantwortete, aus der sie geworden war. Ja, er sollte sich sattsehen. Doch zuerst waren Taddy und Brid dran.

Kitty hätte es wissen müssen. Sie waren wirklich da, er mit der Harfe, sie am Webstuhl. Doch nur ihr und Kieran war es gestattet, mit Augen von Sterblichen die leibhaften Geister zu sehen, die gegenwärtig waren und sie umschwebten. Es war klar, sie hatte ihre Geisterfreunde verletzt. Kitty war noch nicht ganz in der Turmstube, da waren Brid und Taddy von ihren üblichen Plätzen geflohen und hatten sich in den hintersten Winkel gedrängt. Taddy hatte den Arm um die zitternde Brid gelegt, sie bedeckte mit den Händen den Hals, als wollte sie die Wunde vor dem Mann, der durch den Raum ging, verbergen. Sie sahen hilflos aus, fanden keine schattige Ecke oder einen Nebelschleier zu ihrem Schutz.

»Verzeiht mir«, sagte Kitty zu den Geistern auf Irisch. »Ich hatte es mir anders vorgestellt.«

»Was haben Sie gesagt?«

»Nichts von Bedeutung«, sagte sie auf Englisch. »Ich meine – machen Sie sich nichts draus. Meistens rede ich in meiner Muttersprache. Das ist natürlich ungehörig in Gegenwart von weniger Gebildeten.«

Seine Lordschaft hob beide Augenbrauen und gab den bekannten Summton von sich, womit er ihr Eingeständnis, unhöflich gewesen zu sein, akzeptierte, wenn nicht gar die darin versteckte Beleidigung. Entschlossen schritt er die Steinstufen hinauf, die an die Brustwehr führten.

Brid zitterte nicht mehr, und Taddy hatte sie losgelassen. Dicht nebeneinander standen sie, würdevoll in ihrem Leiden, die körperlosen Trugbilder waren erstarrt, als der Mann an ihnen vorüberging und sie ebenso wenig beachtete wie seine Vorfahren, wenn sie die Dienste der Untergebenen nicht brauchten oder sie einfach nur demütigen wollten.

Kitty ärgerte sich, wie ungeheuer dumm sie gewesen war, zu hoffen, George Noel Gordon würde ein Quäntchen Schuld oder Reue oder sogar Furcht empfinden. Statt seiner fühlte sie sich schuldig, bereute ihr Verhalten und hatte ihre Befürchtungen – und das zu Recht. Sie hatte vorhandene Leiden vergrößert, hatte durch ihre unbedachte Handlungsweise altes Unrecht wieder aufleben lassen. Bei dem Mann aber, der es am meisten verdiente, mit Schuldgefühlen gestraft zu werden, dem Burgherrn, dem Herrn der Ländereien, dem Landlord, war das ohne Wirkung geblieben. Nur Kitty und Brid und Taddy, die von entthronten Königen abstammten und die rechtmäßigen Erben von Herren und Knechten waren, von denen, die das Land bestellten und die See befischten, nur sie hatten ein Gespür für die uralten schmerzvollen Leiden. Und das war immer so gewesen.

Seiner Lordschaft bereitete es einige Mühe, die alte hölzerne Falltür anzuheben, die den Himmel ausschloss. Kitty bot an, sie hochzudrücken, doch er wollte es selbst schaffen. Schließlich war das seine Burg. Und alles, was darin war, musste sich ihm fügen.

Endlich stiegen sie hinaus und standen an den Zinnen.

Im Norden erstreckten sich die welligen Hügelketten, die bescheidenen Berge, gebeutelt von der über sie dahingegangenen Zeit, von Wind und Regen, von dem, was die Himmel sonst noch an Plagen aufzubieten hatten, und die sich trotz alledem mit heiligem Ernst vor dem Horizont abhoben. Sie waren grün und von niedrigen Wällen durchzogen. Stein um Stein hatte man der Erde abgerungen und zu Wällen aufgeschichtet, die den Acker des einen Landmanns von der Wiese des anderen abgrenzten; höher hinauf auf den Hängen unterhalb der Gipfel erstreckten sich die Wiesen der Gemeinde. Massige weiße Felsbrocken lagen gleichmütig, fast schicksalsergeben in der Sonne. Auch Schafe waren ohne erkennbares Muster in die Landschaft gesetzt und zogen im Schneckentempo hin zu Grasflächen, die ihnen noch grüner erschienen. Ein Sonnenstrahl funkelte wie ein Blitz auf dem Fluss, dann noch einer. Graue, von wild wachsenden Fuchsien und Geißblatt gesäumte Wege schlängelten sich durch die Landschaft, und die Schieferdächer der kleinen Häuser überraschten in der Nachmittagssonne mit einem schimmernden Blau. Ein Pick-up und ein Bus waren zur Stadt unterwegs, einem einzigen Gedränge von Gebäuden. Die einzelnen Häuser waren von hier oben nicht zu erkennen.

Lord Shaftoe stand an der Mauerbrüstung, reckte das ausdruckslose Kinn vor, genoss die Aussicht und war zufrieden mit dem, was er sah. Eine leichte Brise versuchte vergeblich, die zerknautschte Seidenkrawatte anzuheben. Während Kitty dem spielerischen Bemühen des Windes zuschaute, wandte sich der Lord nach Westen, dem Meer zu. Zwei Curraghs, altirische Flechtwerkboote, schaukelten in der Dünung vor Dunquin, und eine Fähre nahm von Dingle Kurs auf Great Blasket, die Insel, die sich sanft ansteigend als letztes Stück Land den Geheimnissen der See entgegenschob.

Auch jetzt betrachtete Lord Shaftoe mit Wohlgefallen, was sich seinem Blick darbot. Oder besser, so schien es jedenfalls Kitty, er stand reglos da wie ein Monarch, der die Huldigung seines Reichs entgegennimmt.

Unversehens hatte Kitty den Einfall, sich hinter ihn zu stellen, ihn kraftvoll hochzustemmen und über die Zinnen auf die Felsen unten zu stoßen. Ihn in diesem Augenblick des Hochgefühls herabzustürzen, würde mit Sicherheit zur Folge haben, dass er nicht nur am Fuße des Turms, sondern gleich in der Unterwelt landen würde.

In Kittys Rückgrat und in den Armen baute sich Kraft auf. Sie fühlte, wie sich die Muskeln in den Beinen und der Bauchdecke spannten. Auch die Lunge sicherte ihr bereitwillig Hilfe zu. Ihr gesamtes Wesen fieberte dem Vorhaben entgegen. Und was musste sie da sehen? Die Brust Seiner Lordschaft dehnte sich. Selbst die Luft machte er sich zu eigen. Kitty schäumte, der unheilvolle Gedanke erfüllte ihre Seele bis in die letzte Faser. Jetzt oder nie.

Doch ehe sie zur tödlichen Aktion ausholen konnte, bemächtigte sich ihrer – Hamlet gleich – eine andere Eingebung. Wenn sie ihn jetzt ins Jenseits beförderte, würde sie sich des zu erwartenden großen Moments berauben, da Seine Lordschaft im eigentlichen Sinne zur Strecke gebracht dalag. Nämlich, wenn ihm in einem unabdingbaren Urteil und ohne jede Möglichkeit, Berufung einzulegen, klargemacht würde, dass er einer Fehlinformation aufgesessen sei, so dass er sich Illusionen hingegeben und Einbildungen genährt habe. Die Burg würde schließlich und endlich nie ihm gehören. Sie bliebe in alle Ewigkeit der Besitz von Kitty McCloud und Kieran Sweeney. Jedes Wort und jede Geste des heutigen Nachmittags würde vor seinen Augen Revue passieren, würde sich nach dieser Niederlage tief in seine Seele eingraben. Konnte sich Kitty wirklich den Anblick verwehren, den Seine Lordschaft, all seiner Anmaßung entkleidet, all seiner Illusionen beraubt, bot? Schon kamen ihr die Worte eines irischen Schriftstellerkollegen in den Sinn: »Enthalte dich noch der Glückseligkeit für eine Zeit …«2

Überzeugt, diese noch größere Genugtuung bald genießen zu können, baute Kitty die zusätzlichen Kräfte ab, die ihr zugewachsen waren und die sie für das nun aufgegebene Vorhaben nicht mehr benötigte. Sie entspannte die gestrafften Muskeln, bedeutete ihrem Magen, sich zu entkrampfen. Und eigentlich durfte sie auch wieder die zusammengebissenen Zähne voneinander trennen und dem erhitzten Blut gestatten, aus den Wangen zu weichen.

Als jedoch Seine Lordschaft sich ihr zuwandte –mehr an ihr vorbeiblickte, als sie ansah – und dabei bemerkte: »Ja, das alles wird mir gut zustatten kommen«, da spürte Kitty, dass ihre Kraft erneut anschwoll und ihr Blut abermals in Wallung geriet. Abwärts mit ihm – ohne auch nur eine Minute zu warten.

Aber schon ergab sich eine Änderung der Lage: weit, weit hinten am Horizont, aus der See aufsteigend, breitete sich eine rosig gefärbte Wolke von einem Ende des Ozeans bis zum anderen aus. Das ersehnte Unwetter zog herauf, die Dürre, von der die Gerüchte umgingen, würde nicht über sie kommen. Die Rettung war nahe, dank der Wasser aus der Tiefe. Die Fischerboote strebten Dunquin zu. Die Dingle-Fähre setzte ihre Fahrt fort. Kitty fand zu ihrem zweiten Entschluss zurück. Sie würde abwarten. Das Gefühl auskosten, egal, wie lange die schwerfällige Gerechtigkeit bis zur Entscheidung brauchte.

Kitty forderte den Ärmsten auf, voranzugehen und die enge Treppe hinabzusteigen. Sie wollte die Falltür, die sich widerspenstig gebärdete, wegen des aufziehenden Sturms selbst schließen. Sie war sich ziemlich sicher, dass Brid und Taddy jetzt nicht bei ihren Beschäftigungen sein würden, und damit hatte sie recht. Denn, von Seiner Lordschaft unbemerkt, war die Harfe auf dem Schemel abgestellt worden, und auch das Schiffchen lag sicher auf dem Rahmen des Webstuhls. Ob die beiden sich irgendwo in dem größer werdenden Schatten aufhielten, wusste sie nicht, doch als das Licht eines Blitzes in den Raum zuckte, glaubte sie, hinten in der Ecke Brid zu sehen. Sie saß auf einem Schemel, hielt den Kopf gesenkt, und ihr schwarzes, schwarzes Haar fiel ihr über die Knie. Doch mit dem Krachen des Donners war alles ausgelöscht, denn plötzliches Dunkel füllte den Raum.

Nun ging Kitty voran und half dem Lord, wobei sie ihn – auf seine Bitte hin – an seiner feingliedrigen Hand hielt. Bevor sie die letzte Treppenflucht erreichten, von der aus es zu dem langen Gang ging, sagte der Mann plötzlich: »Scarlet Feather?«

Tonlos erwiderte Kitty: »Maeve Binchy.«

»Ach ja. Natürlich. War sehr gut übrigens.«

Kitty führte ihn durch das zunehmende Dunkel über die Galerie und in die Große Halle. Das Gewitter hatte sich jetzt voll entfaltet, der Sturm brauste, Donner und Blitz genossen das Chaos.

»Einen Schirm haben Sie wohl nicht übrig?«, fragte Seine Lordschaft.

Lügen wollte sie nicht, und so erwiderte Kitty einfach: »Wer nass wird, wird auch wieder trocken.«

Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen, dem zu entnehmen war, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, was sie meinte, schritt der Lord hinaus in das Unwetter. Während Kitty die Tür schloss, sah sie noch, wie er die rechte Hand hob, mit der Handfläche nach oben, wie um sich zu vergewissern, dass es wirklich auf des Lords ungeschützten Kopf zu regnen begonnen hatte.