Jahr Zwei, 18. Oktober, Morgen III

»Nun, wie ist es denn um unsere Befindlichkeit heute bestellt, Professor?«

Der Marschall schien guter Dinge zu sein, denn als er vor wenigen Minuten den Labortrakt betreten hatte, konnte man ihn in den Gängen pfeifen hören. Dass es ausgerechnet ein Lied der Gruppe Rammstein war, dass er nachpfiff, verwunderte mit Sicherheit den einen oder anderen Labormitarbeiter.

Der Professor sah nicht von seinem Mikroskop auf, in das er angestrengt hineinblickte. Er wedelte mit der Hand. »Sofort. Bin gleich bei Ihnen!«

Der Marschall konnte solche Respektlosigkeiten üblicherweise nicht ausstehen, doch hier war er durchaus gewillt, eine Ausnahme zu machen und über den Affront hinwegzusehen, zeigte das Benehmen des Professors doch, dass dieser mit Leib und Seele in der neuen Aufgabe steckte, nämlich das Z1V34 und V35 zu kreieren. Nun, von V35 wusste auch der Professor noch nicht wirklich etwas, aber wenn die Variante vierunddreißig erst einmal erfolgreich in der Anwendung stand, würde der nächste Schritt kein großes Problem darstellen, soweit verstand der Marschall die wissenschaftlichen Ansätze der Sache schon. Über Ethik und Moral gab es angesichts der sich bietenden Möglichkeiten sowieso nichts zu verhandeln; erlaubt war alles, was man möglich machen konnte.

Der Marschall sah sich um und erblickte einen freien Schemel auf Rollen, der an einem der großen Labortische stand. Insgesamt gab es in diesem großzügig gehaltenen Raum drei große, mit Keramikplatten belegte Labortische; jeder für sich war ungefähr zehn Quadratmeter groß.

In der Mitte der Tische gab es mehrstöckige Regale, in denen allerlei Arbeitsmaterial einsortiert lag. Der gesamte Raum war weiß gestrichen, modern und hell eingerichtet und Dutzende Neonröhren tauchten ihn in kaltes, weißes Licht.

Überall standen Computermonitore, die Datenkolonnen, Diagramme und Mikroskopbilder zeigten. An den Wänden des Labors gab es weitere Arbeitsplatten, auf denen die hochwertigen elektronischen Geräte wie Reinkammern, Zentrifugen und Gensequenzer standen.

Die Zeiten, in denen genetische Sequenzen umständlich in Gel-Matrizen fixiert und mit Kontrastmitteln nach 24 Stunden sichtbar gemacht wurden, waren längst Bestandteil wissenschaftlicher Vergangenheit.

Die heutigen Sequenzierautomaten (NGS) mit FLX-Technologie konnten ein Genom binnen Minuten komplett dechiffrieren. Vier dieser kühlschrankgroßen Maschinen standen hier im virologischen Labor bereit.

Allein die Einrichtung dieses Raumes hatte mehr als vierzig Millionen Euro verschlungen, doch heute sollte sich herausstellen, wie erfolgversprechend diese Investition war. Zwei der Sequenzierer liefen mit kaum hörbarem, sonorem Brummen, während der Computer die Millionen Zeilen von Basenpaaren auflistete.

Im hinteren Bereich gab es noch einen Zugang zum Hochsicherheitslabor; dort waren die tödlichsten Viren und Mikroorganismen gebunkert, die auf diesem Planeten vorkamen.

Eine doppelte Sicherheitsschleuse mit Dekontaminationskammer und strikter Vollschutzzwang sorgten dafür, dass es auch so blieb.

Der Professor hatte seine Analyse beendet und blickte vom Okular auf. Er sicherte die Daten und wandte sich um zu Marschall Gärtner. In der Hand hielt er eine Edelstahlkanne. Und einen Thermobecher.

»Guten Morgen, Herr Marschall. Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie eben abgewimmelt habe. Darf ich Ihnen einen Becher Kaffee anbieten? Er ist ausgezeichnet.«

Gärtner nickte und der Professor schenkte ihm den Becher halbvoll, dann reichte er ihn hinüber. Der Marschall nahm eine Schluck, der Kaffee erwies sich als ausgesprochen schmackhaft und ausreichend heiß.

»Ich sehe«, folgerte er, »Sie haben sich hier schon ganz gut eingelebt. Gleich voll im Einsatz, was, Professor?«

»Nun, für jemanden wie mich übt ein exzellent ausgestattetes Labor wie dieses hier natürlich einen ungeheuren Reiz aus. In einer solchen Umgebung arbeitet man selbstverständlich gern und auch produktiv.«

»Das trifft auf Ihre Kollegin ebenso zu?«

»Na ja, sie tut sich noch etwas schwer mit dem Forschungsgegenstand …«

»… dem Struggler?«

»Äh, ja. Er hat mir erläutert, er hieße Gap oder so. Es ist nicht einfach, einen ehemaligen Kollegen, den man bewundert hat, in einer solch, nun ja, misslichen Lage zu sehen. Das fällt Doktor Newark halt auch nicht leicht.«

»Ihnen fällt das leichter?«

»Ach, ich sehe das eigentlich aus rein wissenschaftlicher Perspektive, und die verspricht erstaunliche Ergebnisse, wenn ich das mal so vorschnell postulieren darf.«

Der Marschall nahm einen weiteren Schluck aus dem Becher.

»Was haben Sie entdeckt, Professor?«

»Ja. Also, das Z1V33, das wir, ähm … Gap entnommen haben, ist im Grunde ein hochkomplexer Informationsspeicher. Es verfügt über mehrere, komprimierte DNA-Stränge, die wiederum in anderen DNA-Strängen verborgen sind.«

»Wie habe ich das zu verstehen?«

»Ähm … ja … also. Sind Sie vertraut mit einem Datenmaskierungsverfahren namens Camouflage?«

Gärtner schüttelte den Kopf. In seinem Berufsfeld bedeutete dieses Wort Tarnnetz, Flecktarnanstrich und Zweige am Helm. Der Professor fuhr fort:

»Bei diesem System werden verschlüsselte Daten in den nicht belegten Bytes einer völlig anderen Datei zwischengespeichert. Nehmen wir an, Sie haben ein JPEG-Bild auf Ihrem Computer. Das Bild beziehungsweise die Informationen, also Bits und Bytes, werden auf einer Festplatte in Cluster geschrieben. Doch diese Cluster sind nicht immer vollständig mit Daten gefüllt. Nun ist es möglich, in die nicht belegten Clusterbereiche Bits und Bytes einer anderen Datei hineinzuschreiben und somit zum Beispiel eine Textnachricht in einer Bilddatei zu speichern. Die Software des Computers zeigt die normale Bilddatei an, nicht jedoch die geheime Nachricht. Dafür braucht man die Camouflage-Software, mit der die Daten inseriert wurden, und natürlich das Passwort.«

»Ah, verstehe. Und das Virus beinhaltet auch geheime Nachrichten? Wollen Sie das damit sagen?«

»So ist es, Herr Marschall. Bei der Gensequenzierung des Zombievirus habe ich große Mengen von Basen gefunden, die ich auf Anhieb nicht zuordnen konnte. Eine Parallelsequenzierung ergab, dass es sich bei diesen Basen um Doppelhelix-Doubletten unbekannter Herkunft handelt. In der näheren Betrachtung erwiesen diese sich dann als wahre Wunderwerke der Genetik. Sie sind allen genetischen Konstrukten, die mir bekannt sind, haushoch überlegen.«

»Inwiefern, Professor? Dieses Virus stellt doch lediglich eine Mutation des Z1V31 dar, oder irre ich mich?«

»Ja und nein«, antwortete der Wissenschaftler. »Richtig ist, dass Z1V31 die organische Basis dieses Virus darstellt. Doch V33 würde ich eher als evolutionären Sprung ansehen. Auf eine Weise, die mir nicht bekannt ist, wurde im Schritt von V32 zu V33 diese massiv komprimierte DNS in die ursprüngliche Doppelhelix eingeschleust. Es handelt sich dabei nicht einfach um eine Kopie der Ursprungs-DNS oder um eine zufällige Variation, bei der das Splitting auf irgendeine Weise schief ging. Was Z1V33 mit sich führt, ist komplett anders

»Und das bedeutet was?«

Der Professor zuckte mit den Schultern.

»Ich bin nicht schlussendlich sicher, es ist noch zu früh, um treffende Aussagen zu formulieren.«

»Dann raten Sie, Professor. Meine Geduld ist nicht unendlich.«

»Vorsichtig formuliert würde ich postulieren, dass sich in der Variante 33 eine hypothetische Lebensform verbirgt. Sind Sie vertraut mit den Theorien von Rupert Sheldrake? Die morphischen Felder?«

Gärtner schüttelte den Kopf.

»Grob gesagt unterstellte Sheldrake für die Entwicklung des Lebens das Vorhandensein einer formbildenden Verursachung. Das heißt: einer Form, die an einer Stelle im Universum existiert, ist es möglich, sich auch an anderer Stelle zu bilden. Sheldrake nannte das auch das Gedächtnis der Natur. In der Genesis nennt man es den Logos.

Die Galaxien, Sterne und Planeten sind in ständiger Bewegung, und hier, wo im Raum-Zeit-Kontinuum jetzt in dieser Sekunde die Erde ist, war vor zwei oder drei Milliarden Jahren etwas anderes. Und ich halte es für möglich, dass dieses Etwas ein morphisches Feld hinterließ, das wir während der Mutation des Virus durchliefen. Ich vermute also, dass es bei der Mutation des Virus zu einer Überlagerung mit einem mir unbekannten morphischen Feld kam und dass in Folge dessen sich die Doppelhelix duplizierte und umstrukturierte. Trifft nun das Virus auf einen lebendigen Organismus, so aktiviert die ursprüngliche Virus-DNS die camouflierte DNS, die ihrerseits gewissermaßen eine Sekundärinfektion bewirkt, also sozusagen den Zombie wieder in etwas verwandelt, das in einem gewissen Sinne als ein Wesen bezeichnet werden kann.«

Der Marschall schaute Professor Ethelston ungerührt an. Nach zwei Sekunden meinte er:

»Sagen Sie, reden wir hier von Aliens?«

Der Professor schnaufte zweimal, bevor er antwortete.

»Na ja, was soll ich sagen? Sicher nicht von Aliens, also Außerirdischen im Sinne der klassischen Science Fiction, nein. Eher von etwas, das sehr, sehr alt ist und quasi durch das Zed-Virus aufgeweckt wird. Es rekonstituiert sich nach einem uralten Bauplan aus den ebenfalls uralten Bausteinen des Lebens: den Aminosäuren. Und es nutzt die DNS des Z1V33 gewissermaßen als eine Art Übersetzer, um dieser formbildenden Verursachung Folge zu leisten.«

»Das ist ganz schön starker Tobak, Professor.«

»Wie gesagt, es ist noch zu früh, um Genaueres zu sagen, aber ein Ergebnis, das in diese Richtung geht, zeichnet sich ab.«

In diesem Moment betrat Doktor Newark den Raum. Ihre langen roten Haare hatte sie zu einer Steckfrisur arrangiert und einige Strähnen hingen vereinzelt heraus. Sie trug eine eckige randlose Brille, über deren Gläser sie mit gesenktem Kopf streng hinwegblickte. Der weiße Laborkittel ließ ihre Haarpracht wie ein Fanal leuchten.

»Guten Tag, Marschall Gärtner.«

»Ich grüße Sie, Teuerste. Ich hatte bereits das Vergnügen, einige Aspekte Ihrer Arbeit mit Ihrem Kollegen zu besprechen. Ich hoffe, unsere Einrichtung hier findet Ihre Zustimmung.«

Die Wissenschaftlerin nickte verhalten, als sie antwortete.

»In der Tat, was Sie hier aufgestellt haben, ist beeindruckend. Wenn man bedenkt, in was für Zeiten wir leben. Verraten Sie mir eines, Marschall: Wieso sind Sie auf all dies vorbereitet? Ich meine, das alles hier haben Sie doch nicht in zwei Jahren aufgebaut.«

»Das stimmt natürlich, Doktor. Unsere Basis selbst ist schon sehr alt, erste Bauabschnitte wurden bereits im Dritten Reich erstellt, in den sechziger Jahren dann gab es mitten im Kalten Krieg eine massive Bauphase, und in den Achtzigern und Neunzigern wurde die Feste Rungholt zu heutiger Größe ausgebaut. Im Zuge einer grundsätzlichen Modernisierung, unter Berücksichtigung etwaiger globaler Bedrohungsszenarien durch Terrorismus, wurden die Labors nach 9/11 eingerichtet und einem speziellen internationalen Kreis von Eingeweihten bekannt gemacht. Die Hochsicherheitslabors wurden für den Fall konstruiert, dass wir uns einem Angriff mit biologischen Waffen ausgesetzt sehen. In gewisser Hinsicht war das ja dann auch der Fall.«

»Und Sie haben hier das Kommando übernommen?«, fragte Doktor Newark misstrauisch.

»Wissen Sie, im Grunde bin ich Ihnen keinerlei Rechtfertigung schuldig. Aber, ja, in der Tat, als die Welt den Bach runterging, war ich hier vor Ort der ranghöchste Offizier und somit Kommandant der Festung. Das wurde von den Gründungsmitgliedern des militärischen Rates der New World bestätigt. Deshalb ist es meine Aufgabe, diese Neue Welt in eine Phase der Stabilität zu führen.«

»Aber gewählt wurden Sie nicht, oder?«

Der Marschall stellte seinen Becher ab und stand auf. Mit drei großen Schritten war er bei der Rothaarigen und stand sehr dicht vor ihr, die Nasenspitzen berührten sich fast. Seine Stimme wurde ruhig, hatte jedoch einen Unterton, der unmissverständlich klar machte, dass der Marschall in diesem Moment keine Vorschläge formulierte.

»Hören Sie, Lady. Meine Geduld hat gewisse Grenzen, welche Sie gerade ausgiebig erforschen. Also: Sie sind hier, um das Forschungsprojekt voranzubringen und Ihre wertvolle, hoch geschätzte Arbeit in das Projekt einzubringen. Wenn das nicht Ihre Intention ist, dann steht es Ihnen frei, sich wieder dem Leben zu widmen, das Sie noch vor weniger als zweiundsiebzig Stunden führten. Das ist Ihre Entscheidung. Zwingen Sie mich bitte nicht, Ihnen diese Entscheidung abzunehmen, indem Sie meine Autorität anzweifeln. Das ist ein gut gemeinter Rat, den Sie befolgen sollten. Sie beide.«

Damit ließ er die Frau stehen und verließ den Raum festen Schrittes. Sogar durch die sich schließende Tür konnte man noch seine Absätze auf den Boden des Flurs knallen hören.

»Mein Gott, ist der Mann dramatisch«, lachte Doktor Newark, »er sollte öfter mal Sex haben, dem hängen seine Testikel ja schon zum Hals raus.«

Professor Ethelston schüttelte den Kopf. »Die Gensequenzer laufen, Doktor. Kümmern Sie sich bitte um die Ergebnisse. Ich werde die dritte Versuchsreihe abarbeiten. Haben Sie etwas bezüglich der von mir vermuteten morphischen Felder herausfinden können?«

Während Doktor Newark sich um die Ausgabedateien der Sequenzierautomaten kümmerte, antwortete sie zunächst zurückhaltend, doch dann wurde ihr Ton etwas euphorischer.

»Nein, Professor, ich konnte eigentlich keine Beweise finden, zumal ja auch die Energiedichte solcher Felder eher theoretischer Natur sein dürfte … Moment mal, was ist denn das hier? Professor, ich glaube, es gibt einige Übereinstimmungen hier. Einen Moment, ich lege es auf Ihren Monitor.«

Einen Moment später erschien auf dem großen Flatscreen über Professor Ethelstons Arbeitsplatz die Darstellung der Sequenzanalyse und vergleichende Abbildungen der Z1V33 Gene sowie einige Referenzbilder.

»Was sehe ich?«, fragte der Professor.

»Das hier ist die Probe des Strugglers, ordentlich sequenziert. Darunter die extrahierte Gensequenz, die wir entdeckt haben. Daraus nehme ich diesen Bereich hier …«

Ihre Finger wischten über einen bestimmten Bereich der Abbildung und dieser erschien gesondert und vergrößert darunter. Daneben war ein ebensolcher Abschnitt zu erkennen. Sie fuhr fort:

»Das dort ist eine Gensequenz präkambrischer Einzeller, ähnlich den Stromatolithen, vielleicht ins Ediacarium gehörend, und sie stimmt mit dieser Sequenz dort zu einhundert Prozent überein. Das ist sehr ungewöhnlich.«

»Soll das heißen, unser Struggler verfügt über Gene, die absolut statisch mehr als fünfhundert Millionen Jahre alt sind?«

»So seltsam das klingen mag, aber es ist so, ja. Und ich habe dafür keine Erklärung. Die Vergleichsproben des Z1V31 weisen diese genetische Signatur nicht auf.«

»Es hat also definitiv eine sprunghafte Veränderung gegeben?«

»Das ist die einzig logische Schlussfolgerung. Und die genetischen Merkmale, die wir hier vorfinden, sind in keinem heute noch lebenden Organismus bekannt. Dies jedoch ist nur ein geringer Teil der Unstimmigkeiten. Ich habe weitere dreihundertzwölf genetische Unikate in der versteckten Helix ausfindig machen können. Zu vielen dieser Merkmale ist der Computer nicht einmal in der Lage, ein Extrapolieren bezüglich der Herkunft zu liefern.«

»Das unterstützt meine These der Morphogenetik!«, rief der Professor aus.

»Ich muss zugeben, ich war zunächst skeptisch, was diese These angeht, aber ich finde keine bessere.«

Der Professor richtete sich auf und postulierte:

»When you have excluded the impossible, whatever remains, however improbable, must be the truth.«

»Sherlock Holmes?«

»Richtig. Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein, so unwahrscheinlich sie auch klingen mag. Linda, wir sind da einer großen Sache auf der Spur.«

Sie unterbrach ihn. »Bitte?«

Die Frage kam für ihn unerwartet, er hatte Schwierigkeiten, sie zuzuordnen.

»Na ja, die …«

»Sie nannten mich Linda, Herr Professor.«

Er wirkte verwirrt. Die Unterbrechung hatte ihn völlig aus dem Konzept gebracht.

»Ach so, oh, habe ich? Vergeben Sie mir. Ich bin etwas erregt ob Ihrer Entdeckung. Aber … wollen wir nicht bei den Vornamen bleiben? Wir sind doch schließlich Kollegen.«

»Also gut, John. Gern.«

Er fasste sich wieder und fuhr in seinen Ausführungen fort.

»Wenn ich nun annehme, dass unser galaktisches Jahr, also die Zeit, die unsere Sonne mit ihren Planeten braucht, um das Zentrum der Milchstraße zu umrunden, etwa zweihundertvierzig Millionen Sonnenjahre dauert, dann ist die Erde im Kambrium, als die ersten Lebewesen auftauchten, an etwa dieser Stelle gewesen und noch einmal zu Beginn des Trias, als die Saurier und später die Säugetiere auftauchten. Jedes Mal gab es in diesem – zugegeben weitläufigen Zeitraum – gravierende Veränderungen in der Genetik. Wenn nun im All an dieser Stelle, ich weiß, das ist nicht treffend formuliert, aber wenn nun an dieser Stelle in der Raumzeit ausgerechnet ein morphisches Feld bestünde, dann hätte es bei jedem Durchgang unseres Planetensystems Auswirkungen auf die Anordnung zum Beispiel von genetischen Informationen. Das könnte bedeuten, dass wir uns am Beginn eines neuen Schöpfungszyklus befinden. Dieser Gedanke ist natürlich noch in einem sehr frühen theoretischen Stadium und bestenfalls eine Idee, eine vage Vermutung. Aber wenn das zutreffend ist, wird sich das Angesicht dieses Planeten bald verändern.«

Doktor Newark, die den Ausführungen des Professors gelauscht hatte, schüttelte den Kopf.

»Aber das, was wir hier beobachten, die Apokalypse, hat wohl wenig mit Leben zu tun. Es sind Untote, die uns vernichten wollen. Die wollen kein neues Leben schaffen, die wollen es auslöschen, wo sie können.«

»Ja, Linda, aber begreifen Sie denn nicht? Um Platz für das neue Leben zu machen, muss altes Leben ausgelöscht werden. Die fünf großen Massenextinktionen unseres Planeten belegen das. Das erste Massensterben wurde durch Cyanobakterien und deren Sauerstoffproduktion ausgelöst, vor nahezu zehn galaktischen Jahren. Das Ergebnis war die sauerstoffbasierende Umgebung als Grundlage des heutigen Lebens. Vor zwei galaktischen Jahren endete das Kambrium mit einem Massenaussterben und sozusagen im letzten galaktischen Jahr an der Perm-Trias-Grenze gab es ebenfalls ein Massenaussterben. Und diese Ereignisse hatten zur Folge, dass daraufhin das Leben förmlich explodierte und völlig neue Morphospezies hervorbrachte.«

Doktor Newark warf ein:

»Aber was ist mit dem Aussterben der Dinosaurier vor sechsundsechzig Millionen Jahren? Das passt nicht in Ihren Zeitplan.«

»Richtig, Linda. Das liegt daran, dass es sich dabei aller Wahrscheinlichkeit nicht um ein morphologisches, sondern um ein externes Ereignis handelte.«

»Der Yukatan-Meteorit?«

»Dies, oder aber ein Supervulkan. Geologie ist nicht mein Spezialgebiet. Dieses Ereignis können wir getrost ausklammern. Was ich sagen will, ist, dass wir etwa alle zweihundertvierzig bis zweihundertfünfzig Millionen Jahre ein kosmisches morphisches Feld durchwandern, das quasi einen biologischen Reset ausführt und dadurch Platz für neue Artentfaltung schafft. Wahrscheinlich erleben wir gerade den Beginn dieser Umstrukturierung. So etwas geht natürlich nicht in ein paar Tagen vonstatten, die Reaktionszeit wird wahrscheinlich im Bereich von Hunderttausend oder mehr Jahren liegen.«

Doktor Newark schenkte sich einen Becher Kaffee ein und hielt dem Professor die Kanne hin, doch der winkte ab. Er starrte konzentriert auf den großen Monitor.

»Klingt nachvollziehbar, John«, meinte sie, aber wenn es so ein morphisches Feld gibt, ist es dann statisch – oder wandert es in der Galaxis? Es muss ja irgendwie dazu kommen, dass unser System, relativ am Ende unseres Spiralarms gelegen, dieses Feld intervallartig durchläuft. Und die Milchstraße dreht sich ja nicht nur, sie bewegt sich immerhin auch noch mit über fünfhundert Kilometern pro Sekunde linear durch das All, nicht wahr?«

»Ein berechtigter Einwand, für den ich natürlich keine patente Lösung anbieten kann. Vielleicht wandert das Feld mit der Galaxie, oder das Feld ist ein String, der sich vertikal zur Galaxienscheibe ausdehnt? Ich weiß es nicht. Für mich bedeutet die Feldtheorie jedenfalls, dass die Veränderung, die durch das Z1V33 hervorgerufen wird, keine zufällige, sondern eine programmierte ist.

»Das werden diejenigen, die von Zombies gefressen werden, aber nicht unbedingt tröstlich finden, John.«

Sie schlürfte an ihrem heißen Kaffee. Der Professor zuckte mit den Schultern.

»Ja, sicher. Natürlich. Denen können wir jedoch sowieso nicht mehr helfen. Aber wir können unsere Forschung nutzen, den Ausgang dieser Umwandlung vorauszusehen und ihn eventuell zu beeinflussen. Mit der Menschheit steht in diesem kosmischen Schöpfungsprozess zum ersten Mal eine Morphospezies, die das Ereignis nicht schicksalsergeben hinnehmen muss, sondern die über Mittel und Wege verfügt, dieses Ergebnis maßgeblich zu beeinflussen. Wenn am Ende der Umwandlung neue und vielfältigere Lebensformen aus der Asche der vorherigen auferstehen, dann wäre es zumindest theoretisch immerhin möglich, dass diese das Bewusstsein der Menschheit in sich tragen könnten.«

»Die Frage, die sich stellt«, entgegnete Doktor Newark langsam, »ist nur die: Sind unsere Struggler die höhere Form, also das Ergebnis, oder lediglich die Killer, also der Weg dorthin?«

Der Professor sah seine Kollegin fragend an.

In einem Büro nicht unweit des Labortraktes deaktivierte Marschall Gärtner seinen Desktop-Monitor und nickte zufrieden, eine Cohiba in der Rechten drehend. Seine neuen Wissenschaftler waren ein echter Glücksgriff, wie es schien. Der Fehlschlag mit den Leuten aus Frankreich wurde dadurch gut kompensiert, wie er fand. Zwar kam er an das T93X zur Zeit nicht heran, aber unter Umständen war das auch gar nicht nötig. Und diese Doktor Newark könnte einen passablen Ersatz für Birte Radler abgeben, zumindest in den Plänen des Diktators.

Es war gut, einen enthusiastischen Visionär wie Ethelston an der Sache dran zu haben, aber skeptische Köpfe wie Doktor Newark waren für das Gelingen eines Projektes mindestens ebenso wichtig, bewahrten sie die Genies doch meist davor, zu hoch zu fliegen und wie Ikarus zu enden. Die Frau war zwar unbequem, erwies sich jedoch als nützlich.

Gärtner entschloss sich, sie am Leben zu lassen.

Vorerst.