Jahr Zwei, 17. Oktober, Morgen I

»Irgendetwas stimmt nicht mit dieser Probe, Professor Ethelston. Sie reagiert antizyklisch. Wollen Sie sich das bitte einmal ansehen?«

Doktor Linda Newark, ihres Zeichens Genetikerin und früher an der Cardiff University und dort im Projekt Chimärenforschung beschäftigt, blickte vom digitalen Okular des Elektronenmikroskops auf. Sie strich sich eine Strähne ihres fuchsroten Haares aus dem Gesicht und machte den Sitz frei für ihren Vorgesetzten, einen weltbekannten Virologen, der früher an der Cambridge University gelehrt hatte.

Die beiden hatte man vor Kurzem hier in die Feste Rungholt gebracht, um einige seltene Virenstämme und die passenden Vektoren zu erforschen.

Niemand hatte ihnen gesagt, um was für eine Art Virus es sich handelte, doch Professor Ethelston vermutete bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Versuchsreihen, dass es hierbei um das Zombievirus ging. Er schob seine Brille hoch und klickte mit der Computermaus im Menü, um das Okular auf seine persönlichen Sehverhältnisse zu justieren. Dann blickte er durch die elektronisch verstärkte Optik auf den Probenträger. Auf dem dünnen Glasplättchen, das in der Abtasterkammer des Elektronenmikroskops lag, befand sich eine hauchdünne Probe infizierten Gewebes, das mit einer Lösung beträufelt worden war, die als Trans33 bezeichnet wurde; ein Arbeitsname, wie die beiden Wissenschaftler annahmen.

Ethelston kannte das aus den Forschungsprojekten, die er in den späten achtziger Jahren für das britische Militär durchgeführt hatte. Dort arbeitete er mit einem Team an einem Impfstoff für ein Virus namens Badgad-Grippe, von dem sich später herausstellte, dass es sich dabei um Pockenviren handelte, die 1978 dem letzten Opfer dieser furchtbaren Krankheit in Großbritannien entnommen worden waren.

Man ging in Militärkreisen davon aus, dass die Herrscher in Nordkorea und im Irak über waffenfähige Virenstämme verfügten, und Professor Ethelson arbeitete mit führenden amerikanischen Wissenschaftlern am Projekt Bioshield, einem Vektorenblocker, der die Soldaten der Nato vor biologischen Kampfstoffen schützen sollte. Dummerweise hatte er das Zombievirus nicht blocken können.

Als der Professor auf das Bild sah, das sich im bot, erschrak er zunächst, doch dann weckte der Vorgang in der Miniaturwelt sein wissenschaftliches Interesse. In den Zellkernen der Gewebeprobe hatte sich das Zombievirus mit dem Kürzel Z1V31 eingenistet und sämtliche Zellfunktionen waren reorganisiert worden.

Rein wissenschaftlich gesehen war das Fleisch tot, doch das Virus simulierte einen aktiven Zellkern, der zum einen hochaktiv war und andererseits völlig immun gegen jede Intrusion.

Dieses Virus reagierte bis zu einem gewissen Grad intelligent.

Als der Professor die Vergrößerung erhöhte, konnte er erkennen, dass in der Trans33 genannten Flüssigkeit ebenfalls kleine, kugelförmige Virenkörper mit den typischen Andockstellen, die aussahen wie winzige Stempel, vorhanden waren.

Zweifelsohne handelte es sich hierbei um ein dem Z1V31 sehr ähnliches Virus, das als Vektor für eine DNA-Insertion vorgesehen war. Doch statt diesen Übergriff durch Abwerfen der Rezeptoren zu unterbinden, wie es das Zombievirus gewöhnlich tat, konnte der Professor bei dieser Variante einen verblüffenden Effekt beobachten. Der Vektor wurde von der Wirtszelle problemlos erkannt, passierte die Zellwand ungehindert und inserierte seine DNA-Fracht vollständig im simulierten Zellkern des Zombiegewebes.

Der Professor richtete sich auf und schaute seine Kollegin völlig perplex an.

»Das … das ist erstaunlich, Doktor Newark!«, platzte es aus Ethelston heraus. Er blickte zur Sicherheit noch einmal in das Okular, doch der Vorgang bestätigte sich.

»Der Vektor agiert ungebrochen. Ich hatte das angesichts der verfügbaren Informationen über Z1V31 nicht für möglich gehalten. Ich dachte stets, das Zombievirus wehrt sämtliche Intrusionen ausnahmslos ab. Es sei denn … bitte drucken Sie eben ein Standbild des Vektors aus, Doktor. Und eines des Z1V31, wenn es geht.«

Doktor Newark klickte einige Male mit der Computermaus und das Gebläse des Laserdruckers auf dem Nebentisch lief an. Einen Moment später spuckte das Gerät zwei bedruckte DIN-A4-Seiten aus. Sie reichte die beiden Bilder dem Professor, der sie nebeneinander hielt. Er drehte sich zu ihr und wedelte mit den Blättern.

»Schauen Sie, Linda, schauen Sie nur. Beide Modelle sind fast identisch.«

Er war so aufgeregt, dass er sie mit ihrem Vornamen ansprach, was er in der ganzen Zeit hier bislang noch nicht ein Mal getan hatte, bemerkte Doktor Newark. Sie antwortete ihm:

»In der Tat, Professor. Ich meine hier zwar einige Stempel mehr zu erkennen, doch im Wesentlichen ist das Exterieur identisch.«

»Das bedeutet, wir haben mit Trans33 eine Mutation des ursprünglichen Z1-Virus vorliegen. Also gewissermaßen die V32, ich …«

Der Professor wurde von einer lauten, scheppernden Stimme unterbrochen und erschrak.

»Genaugenommen handelt es sich um die Variante Dreiunddreißig.«

Die Stimme, die da aus den Lautsprechern des Labors schallte, war die des Marschalls. An der Wand, die dem Labortisch gegenüberlag, erhellte sich eine Fläche, die größenmäßig einer Schreibunterlage entsprach.

Dort erschien das Gesicht von Marschall Gärtner, der anerkennend nickte. Bevor der Professor fragen konnte, erhielten die beiden Wissenschaftler ihre Anweisungen.

»Ich erwarte Sie beide in fünfzehn Minuten in meinem Büro im Sektor vierundzwanzig, Ebene sechzehn. Ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten.«

Ohne ein weiteres Wort erlosch der Bildschirm wieder und ließ die beiden in dem Labor zurück. Doktor Newark vernichtete die Proben, reinigte schnell das Mikroskop, und nur wenige Minuten später schritten sie, von bewaffneten Wachen begleitet, durch die Korridore des Labortrakts.

Der Marschall begrüßte die beiden höflich und bot Tee an, den die Wissenschaftler gern annahmen. Nachdem die Ordonnanz sich wieder entfernt hatte, richtete Gärtner das Wort an die beiden noch immer etwas verdutzt dreinblickenden Forscher.

»Ich freue mich, dass Sie beide unseren kleinen, nun ja, sagen wir: Einstellungstest erfolgreich bestanden haben. Natürlich hatte ich von Wissenschaftlern Ihres Formats nichts anderes erwartet. Ich bitte Sie, mir die Heimlichkeit nachzusehen, doch das Projekt, um das es geht, erfordert Personal, das innovativ denkt, aufmerksam beobachtet und fachlich kompetent ist. Das alles trifft auf Sie beide vollumfänglich zu.«

Professor Ethelston sah den Marschall über den Rand seiner Brille an.

»Ich verstehe Ihre Motivation nicht ganz, Herr Marschall. Sie haben doch sehr fähige Wissenschaftler hier und wie ich sah, eine bemerkenswerte technische Ausstattung. Wer hat Ihren Einstellungstest überhaupt kreiert? Ich hatte den Eindruck, dass es sich um hochinfektiöses Material handelt.«

»Das Testmaterial und die Versuchsanordnung stammt von Ihrem Vorgänger.«

»Professor Weyrich?«

»Richtig. Ihr geschätzter Kollege ist nun jedoch seit einiger Zeit, wie soll ich sagen, etwas indisponiert, so dass ich einen fähigen Laborleiter mit einem ebenso fähigen Assistenten, pardon: Assistentin, im Laborbetrieb benötige. Deshalb entschloss ich mich, Sie und Doktor Newark zu beschäftigen.«

Der Professor sah ihn fragend an.

»Sein Kollege, Doktor Fischer. Was ist mit ihm?«

»Leider hatte er einen bedauerlichen Unfall und ist von uns gegangen.«

»Und der Professor, hatte er auch einen – Unfall?«

»Kann man so sagen, ja. Es gab eine unerwünschte Reaktion im Labor. Der Doktor verstarb und der Professor wurde … erheblich beeinträchtigt. Deshalb bin ich heilfroh, dass meine Leute schließlich Sie beide in diesem unschönen Wohnbereich im Berliner Speckgürtel ausfindig machen konnten. Ich habe mir sagen lassen, die Verhältnisse dort sind alles andere als optimal.«

Doktor Newark antwortete unterkühlt:

»Die Menschen dort hungern oder fressen Paste aus Tuben, die aus wer-weiß-was gemacht ist. Es gibt Gerüchte.«

Gärtner beugte sich vor und stützte seine Ellenbogen auf die Schreibtischplatte, seine Hände zusammengefaltet. Er antwortete langsam und betont.

»Ja, Gerüchte. Schlimme Gerüchte. Das stimmt. Nun gut, vielleicht sollten wir die Gegend nicht mehr Speckgürtel nennen, aber die Standortverwaltungen sind natürlich bemüht, so schnell es geht akzeptable Bedingungen für unsere Siedler zu schaffen, doch Sie werden verstehen, dass wegen des anhaltenden Krieges gegen die Zeds unsere Kapazitäten gebunden sind.«

»Durch einen unnötigen Stellungskrieg, den Sie begonnen haben!«, erwiderte Doktor Newark frech.

»Nein, meine Teuerste, begonnen haben diesen Krieg die Zeds, nicht wir. Aber ich werde Ihnen beiden die einmalige Chance bieten, diesen Krieg zu beenden.«

Der Professor ging auf Gärtners letzten Satz ein.

»Was meinen Sie mit beenden? Ein Heilmittel?«

»Seien Sie nicht albern, Professor. Selbst ein blutiger Laie wie ich versteht, dass es kein Heilmittel geben wird. Nein, ich rede von einer Waffe. Von einer ultimativen, den Zeds ebenbürtigen Waffe.«

»Aber, Herr Marschall, mit Verlaub. Es hat reichlich Versuche gegeben, die Zeds auch mit biologischen Kampfstoffen zu besiegen, doch diese Kreaturen passen sich an, unsere virologischen und bakteriologischen Attacken blieben ohne Wirkung. Der Metabolismus der Zeds ist gegen jeden Eindringling immun beziehungsweise weist jeden Eindringling ab.«

»Da gebe ich ihnen völlig Recht, Professor. Und gerade vor einem solchen Hintergrund ist es manchmal nützlich, Feuer mit Feuer zu bekämpfen.«

»Sie meinen das mutierte Virus, das wir vorhin sahen? Das ist keine Waffe, sondern eher eine Art Upgrade für die Zeds, es wird sie nicht zerstören, sondern im Gegenteil eher aufwerten.«

»Soweit waren wir hier auch schon, Professor. Und wenn ich über eine Waffe spreche, dann nicht im mikrobiologischen Sinne. Sie sollten in größeren Maßstäben zu denken beginnen.«

Der Professor stutzte.

Doktor Newark hingegen zog die Stirn in Falten und fragte nach: »Sie … Sie wollen das Virus modifizieren und Zeds züchten, oder? Kampfmaschinen, die Sie programmieren können, nicht wahr?«

Der Marschall löste ruckartig die Hände und schleuderte sie der Forscherin förmlich entgegen, während sein Gesicht sich aufhellte, als hätte sie die Eine-Million-Euro-Frage beantwortet.

»Sehen Sie? DAS ist es, was ich mit innovativ denken meinte! Einfach mal über den eigenen Fachbereichstellerrand hinausblicken. Sie haben es intuitiv erfasst, meine Liebe. Wir wollen das Virus gegen die Zeds einsetzen, jedoch in einer Weise, die sie nicht erwarten.«

Der Professor meinte leise:

»Ich glaube nicht, dass diese Wesen überhaupt irgendetwas annehmen oder erwarten.«

Der Marschall drohte ihm spielerisch mit dem Zeigefinger.

»Da seien Sie mir mal nicht zu vorschnell mit dem Urteil, Professor. Warten Sie ab, bis Sie Professor Weyrich kennengelernt haben.«

»Ich kenne Professor Weyrich von verschiedenen Symposien.«

»Nun, ich bin sicher, wenn Sie ihn nachher treffen, werden Sie ihn als völlig ausgewechselt empfinden. Aber lassen Sie uns zuerst Tee trinken, er wird ja sonst kalt.«

Er deutete demonstrativ auf die Gebäckschale, die zwischen den beiden Wissenschaftlern auf dem Rauchglastisch stand. Der Professor aß einige Mürbeteigplätzchen, ein Luxusartikel, den er sicherlich schon einige Zeit nicht mehr genossen hatte.

Doktor Newark betrachtete den keksknabbernden Professor mit leicht irritiertem Blick, dann wandte sie sich wieder an den Oberbefehlshaber und fragte weiter nach.

»Die Variante des Zombievirus, die wir in der Testreihe sahen …«

»V33, ja«, antwortete Gärtner und nickte.

»Worin genau besteht die Mutation?«

»Nun, wie Sie ja bereits selbst beobachten konnten, ist dieses Virus in der Lage, sowohl Neuinfektionen auszulösen als auch Rekonfigurationen, gewissermaßen genetische Upgrades, durchzuführen.

Es ist mobiler, aggressiver und in den Wirkungen fataler als seine Vorgänger. Während die Varianten null-eins bis dreißig vorwiegend den infizierten Organismus töteten und keine Wiederauferstehung zur Folge hatten, brachte uns die Variante Nummer einunddreißig dann plötzlich die Zombieapokalypse. Verheerend.

Doch dann, vor etwa anderthalb Jahren, stellten wir eine erste Mutation des echten Zombievirus fest. Vorher gab es die Walker und die Hunter, deren Kondition von der ursprünglichen DNA des Infizierten abhängig blieb. Einige verfielen früher, andere später.

Diese Zeds nutzten das Gehirn nicht, sie waren ausschließlich triebgesteuert, wobei ein Überlebenstrieb nicht festgestellt werden konnte.

Doch plötzlich, mit Auftreten des Z1V32, erschienen neue Zombies, die durch strategisches Denken und enormen Kraftzuwachs auffielen.

Wir nannten diese Zeds dann Struggler, weil sie eher Kriegern als Raubtieren glichen. Und plötzlich mutierte das Virus erneut.

Es gelang uns, den sozusagen Patient Null mit dem Z1V33 zu isolieren und hierher zur Examination zu bringen. Es handelte sich um eine furchtbare Kreatur mit ungeheuerlichen Kräften und der Fähigkeit, Zellgewebe zu reparieren und sogar neu zu bilden. Diese zweite Generation von Zeds macht uns echte Sorgen.«

Er drückte den Knopf auf einer Fernbedienung, und auf einem Wandmonitor liefen Videosequenzen, welche die abstrusen Tests zeigten, denen Weyrich und Fischer den gefangenen Struggler unterzogen hatten.

Professor Ethelston fiel beinahe die Teetasse aus der Hand, als er den mächtigen Struggler erblickte, der an seinen Fesseln riss und zerrte.

Die Wissenschaftler konnten sehen, dass man dem Zed schwerste Verletzungen zufügte, die fast augenblicklich verheilten.

Wunden schlossen sich wie in einem Zeitrafferfilm, ja, sogar abgetrennte Körperteile wuchsen in atemberaubender Geschwindigkeit nach.

Ein grausames Horrorszenario offenbarte sich dem Betrachter da, eine Szenerie, in der Boris Karloff ohne weiteres als Akteur hätte glänzen können, wäre es ein Horrorstreifen gewesen und keine Dokumentation.

»Was … was ist das, zur Hölle?«, platzte es aus dem Professor heraus.

»Ja, Sie haben Recht«, antwortete Gärtner gelassen, »das könnte direkt aus der Hölle kommen. Aber um Ihre Frage zu beantworten. Das ist unser neuer Feind, ein Struggler der neuesten Generation, ein Ultimate Warrior.«

»Und verstehe ich das richtig, Marschall«, fragte Doktor Newark, »Sie wollen solche Struggler nachzüchten, um sie auf den da und seinesgleichen zu hetzen?«

»Das verstehen Sie vollkommen richtig, Doktor.«

»Bei Gott, das ist völlig irre!« Sie verschränkte die Arme.

»Gott hat damit überhaupt nichts mehr zu tun, Doktor Newark. Der ist schon lange aus dem Spiel.«