Jahr Zwei, 09. Oktober, Mittag

»Igor, komm schnell! Da tut sich was!«

Binnen weniger Sekunden stand Igor vor der Monitorphalanx und sah sich stirnrunzelnd die Satellitenbilder an.

»Das ist die verdammte halbe New World-Flotte, die da ausläuft. Was zum Henker hat dieser Marschall vor?«

Oleg drehte sich um.

»Meinst du, er will das Dorf da unten im Süden jetzt einäschern?«

Igor kratzte sich am Kinn und zwirbelte seinen Bart. Einen Moment lang dachte er nach, dann meinte er leise:

»Nein, das glaube ich nicht. Um das Dorf zu vernichten, reicht dieser Raketenkreuzer da.«

Er deutete auf die Peter der Große.

»Aber sie brauchen dazu nicht fünf amerikanische Zerstörer, zwei russische Schlachtschiffe und einen Flugzeugträger. Es sei denn, der Marschall hat vor, die Pyrenäen einzuebnen.«

»Aber die laufen doch nach Südwest, Igor, da unten ist doch sonst nichts.«

Igor zeigte in dem Satellitenbild auf den Golf von Biskaya.

»Doch, da ist etwas. Tankschiffe. Ich vermute, die Amerikanski sind dem Marschall abgehauen und wollen in den eisfreien Gewässern auftanken.«

»Mit Russen zusammen?«

»Nein«, antwortete Igor, »unsere Leute fahren nicht mit ihnen zusammen, sie verfolgen sie. Oleg, versuch, eine Verbindung zu unserem Kontakt aufzubauen. Ich will genau wissen, was da los ist.«

Der junge Hacker wählte sich von einem anderen, speziellen Rechner aus in das ARPAII-Netz ein und etablierte die VPN Verbindungen, die es ihm ermöglichten, die Blackbox anzusteuern, über die eine gesicherte Kommunikation mit ihrem Helfer im Militärapparat der New World Army ermöglicht wurde. Er legte dort ein kleines Dokument mit einigen Fragen ab und schloss die Verbindung wieder.

Ein Bot-Programm würde nun einmal pro Stunde die gesicherte Verbindung für den Bruchteil einer Sekunde aufbauen, um quasi nachzusehen, ob etwas im Briefkasten lag. Jetzt hieß es warten.

Igor war derweil draußen im Lager unterwegs, um das zweite Kontingent der Eiskrieger auf ihren Abflug vorzubereiten. Da in der Netzkommunikation des militärischen Machtapparates der New World bislang keinerlei Anzeichen auf gefangene Widerstandskämpfer im Eis der Nordsee auffindbar waren, konnte Igor davon ausgehen, dass die Landung seiner Leute geglückt war und diese unentdeckt blieben, zumindest zur Zeit.

Mit der nächsten Maschine, die Flugzeug-Ersatzteile aus Kiew nach Helgoland bringen sollte, würde Major Tschischkarin weitere zwanzig Grosnyj-Kämpfer über dem Eis vor der Insel absetzen, die sich gemeinsam mit den bereits vor Ort befindlichen Soldaten weiter eingraben würden. Wenn der Sturm auf die Festung dann begann, sollten bis zu einhundert fähige Kämpfer im Eis bereitliegen, während ein ebenso großer Angriffstrupp direkt eingeflogen wurde.

Zu derselben Zeit würde der General, der sie unterstützte, diese bestialischen Videos von Marschall Gärtner und dessen Zombieversuchen ins Netz bringen und unter den Stabsoffizieren eine Revolte initiieren.

Dieses Chaos wollte Igor ausnutzen, um mit seinen Leuten ins Herz der Festung Rungholt vorzudringen und endlich seine Rache zu nehmen für das, was dieser Mann ihm, Igor Nikolaijewitsch Tarassow, angetan hatte. Dieser Gedanke ließ Igor nicht mehr los; wie ein alpines Gebirgsmassiv in einer Nebelwand verdeutlichte sich der Schemen seiner Rachetat mit dem Näherrücken des Zeitpunktes.

So oft schon hatte er sich vorgestellt, wie es sein würde, seine Hände um den Hals des Marschalls zu legen und das Leben aus ihm herauszuquetschen, so wie Gärtners Todesstrahlenbombe das Leben aus seiner Familie herausgepresst hatte.

Die Politik, die dieser Mann verfolgte, so man angesichts der Zustände in der New World überhaupt von Politik reden konnte, war Igor egal. Er hatte in der alten Sowjetunion unter ähnlich repressiven Zuständen gelebt. Es bedeutete Igor in Momenten wie diesem auch nicht wirklich etwas, dass Gärtner versuchen wollte, Zombies zu züchten oder dass er seine Bevölkerung mit Zombiefleisch aus Tuben fütterte. Nein, in solchen Momenten, wenn er die Bilder der in violette Schleier gehüllten Stadt Moskau vor seinem geistigen Auge sah, war Marschall Gärtner niemand anderes als der Mörder von denen, die Igor am Herzen gelegen hatten. Und dafür sollte er bezahlen.

Mit seinem Leben.

Igor schüttelte die Schatten der Vergangenheit ab und machte sich vom Lager wieder auf den Weg zu seinem Haus. Unterwegs traf er ein paar Mitbewohner der Siedlung, die er stumm nickend im Vorbeigehen grüßte.

Hier in Cherkas galten Igor und Oleg noch immer als Sonderlinge. Nur sehr, sehr wenige wussten, dass die beiden hinter dem Pseudonym Wissarion steckten, unter dem täglich neue Horrormeldungen aus dem Reich des Marschalls veröffentlicht wurden.

Hier und da munkelte man, dass die beiden goluboj, also schwul sein könnten, aber letztlich interessierte das hier niemanden wirklich, denn die Menschen im Lager einte der Hass auf das Regime, das sie alle an die unwirtliche Ostfront geschickt hatte.

Fast alle, die hier lebten und arbeiteten, waren Deportierte, die lediglich für etwas Freiheit in der New World geworben hatten oder die es gewagt hatten, Kritik am Führer der Neuen Welt zu üben. Man respektierte einander, lebte und arbeitete, so gut es unter diesen sibirischen Bedingen nun einmal möglich war, und war im Grunde froh, kein schlimmeres Schicksal erwischt zu haben. Denn Schlimmeres als die Arbeit in diesem Versorgungslager gab es allemal – zum Beispiel den Wachdienst am Zaun …