Jahr Zwei, 17. Oktober, Morgen III

»Kommen Sie. Bleiben Sie dicht bei mir.«

Die beiden Wissenschaftler folgten dem Marschall durch zahllose Gänge, über Treppen und in Aufzüge. Er hatte einen forschen Schritt, und besonders Doktor Newark hatte Mühe, mitzuhalten.

Nachdem eine gefühlte Ewigkeit vergangen war, mussten sie eine komplizierte Sicherheitsschleuse passieren, bevor sie in den inneren Bereich vordrangen.

Dieses Areal war ziemlich neu und zum Teil noch unvollendet, es roch nach feuchtem Beton und nach frischer Farbe. In den Gängen hingen Kaltlichtröhren in schmucklosen Funktionsleisten, das Brummen von Ventilationsanlagen durchzog die großen, kantigen Schächte aus Blech, die an Decken und Wänden verliefen.

Ein Stück weiter dann änderte sich die Atmosphäre plötzlich. Das Licht wurde wärmer, insgesamt nahm die Helligkeit zu und man konnte erkennen, worum es sich hier handelte.

Die drei waren in einem tief im Inneren der Anlage verborgenen Labortrakt angekommen, der erst vor Kurzem erstellt worden war. Nur wenige Menschen waren hier unten beschäftigt, offenbar galten hier nochmals verschärfte Sicherheitsbestimmungen. An jeder Tür, die sie passierten, gab es Schlitze für Magnetkarten, Nummerntastaturen und an einigen sogar Irisscanner. Vor einer offensichtlich schweren Tür mit allerlei Sicherheitsvorkehrungen blieb der Marschall plötzlich stehen. Er zog eine Metallkarte an einer Halskette aus dem Kragen seines Hemds und hielt sie vor eine Resonanzfläche, die mit einem kurzen Piepsen die Aktion bestätigte. Dann tippte er eine fünfstellige Ziffernfolge auf der Nummerntastatur ein und es klackte mehrmals laut und deutlich in der Tür oder im Rahmen. Der Marschall griff zum Türknauf und drehte sich zu den beiden Wissenschaftlern um.

»Ich versprach Ihnen, dass Sie Professor Weyrich treffen würden. Nun, hier ist er.«

Damit öffnete er die Tür und lud mit der anderen Hand ein, den dahinterliegenden abgedunkelten Raum zu betreten. Als die beiden in das kühle Zimmer eintraten, flammten automatisch Dutzende von Lichtleisten an der Decke auf und erhellten einen Raum, der durch ein Gitter in zwei Bereiche unterteilt war.

Doktor Newark begann unvermittelt hysterisch zu kreischen, als sie die massive Kreatur sah, die hinter dem Gitter – an starken Ketten fixiert – ihr entgegen starrte.

Auch Professor Ethelston zeigte sich nachgerade schockiert. Ihm gegenüber, auf der anderen Seite des Gitters, kauerte ein unförmiger Muskelberg in zerrissener Laborkleidung, der nur wenige Büschel Haare auf seinem massigen Schädel trug.

Aus tiefliegenden Höhlen unter buschigen Brauen starrten blutunterlaufene Augen mit stark geweiteten Pupillen zur Tür. Die Nase war breit und flach, die Kiefer allerdings wirkten grotesk überproportioniert und schienen ein gefährlich großes Gebiss zu beherbergen. Das gesamte Gesicht wirkte wie eine Mischung aus Gorilla und Neandertaler.

»Ich darf vorstellen«, flappste der Marschall, »Professor Weyrich. Professor, das sind Ihre Kollegen Professor Ethelston und Doktor Newark. Sie werden uns künftig in unserer Arbeit hier etwas unterstützen. Seien Sie höflich, begrüßen Sie unsere Gäste.«

Das Monster zerrte an seinen klirrenden Ketten und ließ ein schier ohrenbetäubendes und raubtierhaftes Gebrüll ertönen, das Doktor Newark zu einem erneuten hysterischen Kreischanfall veranlasste. Als sie sich wieder fing, beruhigte sich auch die Kreatur wieder und ließ nun lediglich ein bedrohliches Kollern aus seiner Kehle emporsteigen.

»Was … was, bei allen guten Geistern, ist das

Professor Ethelston starrte immer noch ungläubig auf das, was wahrscheinlich einst sein geschätzter Kollege und wissenschaftliches Vorbild gewesen war. Der Marschall antwortete prompt.

»Durch einen bedauerlichen Unfall im alten Hochsicherheitslabor wurde unser guter Professor dem Z1V33 ausgesetzt und infizierte sich, was seinen Tod und die anschließende Mutation zu einem, wie wir sie nennen, Struggler zur Folge hatte. In langwierigen und dennoch erfolgreichen Verhandlungen konnten wir den Professor für eine Kooperation gewinnen. Er liefert uns das Virus und unterstützt uns in der Erforschung und Modifikation der DNA des Zed-Virus. Ihre Aufgabe wird es sein, gewissermaßen die V34 artifiziell zu erzeugen. Wir wollen der Natur zuvorkommen und die Entwicklung in eine bestimmte, uns zupasskommende Richtung lenken. Ich muss gestehen, dass Sie beide nicht die allererste Wahl waren, als es darum ging, adäquaten Ersatz für Weyrich und Fischer zu finden, aber die Kollegen, die ich dafür eigentlich ins Auge gefasst hatte, waren leider nicht abkömmlich. Wie dem auch sei. Nun sind Sie hier und die Ordonnanz wird Ihnen beiden gleich im Anschluss die Labors und Ihre Quartiere zeigen und Sie in der Sicherheit einchecken. Sie werden feststellen, dass Sie hier an Komfort nichts missen müssen, und wenn Sie etwas Spezielles brauchen, das nicht vorhanden ist, besorgen wir es selbstverständlich.«

Professor Ethelson nickte abwesend. Seine Augen wanderten noch immer über die enorme Muskelmasse des Kolosses, den er da vor sich sah. Wissenschaftlicher Forscherdrang überwand nach und nach Furcht und Ekel, das konnte man an seinen Gesichtszügen deutlich ablesen.

»Das … das ist … war wirklich einmal ein Mensch? Er sieht so … anders aus.«

Der Marschall paffte gerade an einer frischen Zigarre, sein Feuerzeug schnappte laut zu. »Erstaunlich, nicht wahr? Wenn es nicht gerade unsere Wachleute verspeist, kann es sogar sprechen. Stellt alles in den Schatten, was das Zed-Gruselkabinett bislang so ausgespuckt hat. Beißkraft von nahezu drei Tonnen. Knackt ihren Oberschenkelknochen wie eine Salzstange. Hebt aus dem Stand sechshundert Kilogramm und springt schätzungsweise bis zu vier Meter hoch, ohne Anlauf, versteht sich. Absolut immun gegen jede Art von Infektion, alle Zellen dieses Körpers besitzen gewissermaßen Zed-Stammzelleneigenschaften. Er ist voll regenerationsfähig und fast unkaputtbar.«

»Sie meinen, vollständige Epimorphose ist möglich? Oder ist es eine Morphallaxis?«

Der Marschall hüllte sich in Zigarrenrauch.

»Keine Ahnung, wie man das in Ihren Kreisen so nennt. Aber wenn ich ihm einen Arm abreiße, wächst ein neuer, und zwar in einer Geschwindigkeit, dass mir davon übel wird. Soll ich es Ihnen zeigen?«

Der Professor reagierte entsetzt.

»Danke, aber: Nein danke. Das wird nicht nötig sein. Ich gehe mal davon aus, dass im Labor entsprechende Gewebeproben bereitstehen.«

»Worauf Sie einen lassen können, mein Bester.« Er lachte vulgär und dreckig. Dann wandte er sich an Doktor Newark. »Was ist mit Ihnen, meine Beste? Sie sehen so blass aus. So ein kräftiger Bursche kann einem als Frau ganz schön die Knie weich werden lassen, was?«

Sie drehte langsam ihren Kopf zu ihm herum und schaute ihn völlig unverwandt an, sagte jedoch kein Wort. Gärtner zuckte mit den Schultern und öffnete erneut die Tür.

»Na ja, okay. Checken Sie erst einmal in Ruhe ein, Arbeitsbeginn ist dann morgen. Die Ordonnanz draußen wird Ihnen alles Nötige erläutern. Wir sehen uns dann später wieder.«

Der Professor und seine Kollegin verließen den Raum und wurden im Flur von einem Offizier und einer weiblichen Ordonnanz in Empfang genommen. Gärtner blieb in dem Raum und machte es sich paffend am Schreibtisch bequem.

»Du hast gar nichts zu unseren neuen Mitarbeitern gesagt. Schüchtern?«, fragte er den Hünen. Der grunzte unwirsch.

Die Doktorin und der Professor wurden in einen Warteraum geführt und die Ordonnanz wies sie an, sich zu gedulden, bis die Sicherheitskarten fertiggestellt sein würden.

Man nahm ihnen mit Scannern Fingerabdrücke ab, fertigte Irisabbildungen und erstellte Digitalfotos. Mit einem Mal war das geschäftige Treiben abrupt vorbei und die beiden saßen allein in dem Raum. Doktor Newark schaute sich verstohlen um und suchte nach Kameras, fand jedoch keine.

Das bedeutete natürlich nicht, dass es keine gab, und Marschall Gärtner konnte an seinem Schreibtisch jedes Wort verfolgen, das die beiden Wissenschaftler wechselten.

»Ich bin mir nicht sicher«, begann Doktor Newark, »ob der Marschall uns die Wahrheit sagt. Ehrlich gesagt macht der Mann mir Angst. Er will eine Zombie-Armee erschaffen? Sehen Sie sich an, was aus Professor Weyrich wurde.«

Der Professor antwortete, und in seiner Stimme schwang so etwas wie Enthusiasmus mit.

»Aber bedenken Sie die Möglichkeiten. Wir könnten eine Menschheit erschaffen, die gegen das Zombievirus letztlich immun ist, ja sogar gegen sämtliche Krankheitskeime. Die Immunisierung erfolgt in mehreren aktiven Schritten, und wenn wir das korrekt umsetzen, dann werden uns die Zeds nicht mehr angreifen. Sollte es durch eine Verletzung trotzdem zu einer Infektion kommen, reagiert der Körper mit dem Schutzmechanismus der V33, das heißt, er weist die Intrusion ab. Das könnte ein großer Schritt in Richtung Zukunft werden, Doktor Newark. Was denken Sie? Können Sie das Genom des Z1V33 entschlüsseln und remodellieren?«

Doktor Newark schnaufte, dann nickte sie langsam und bedächtig.

»Technisch gesehen ist das machbar, wenngleich auch äußerst schwierig. Die Erbinformation von diesem Virus ist ungeheuer komplex. Ich müsste es komplett dechiffrieren, seine Reaktionen auf die menschlichen Gene kartografieren und dann in zahlreichen Versuchsanordnungen Versuche mit Varianten anstellen. Und ich glaube kaum, dass wir dafür Freiwillige finden werden, denn das wäre nichts anderes als ein reines Himmelfahrtskommando.«

»Wir könnten anfänglich Versuchsreihen an Stammzellenmaterial durchführen und später auf Komplettversuche umschwenken.«

»Das ist zwar möglich, aber auch extrem ungenau. Mir ist nicht wohl bei dieser Sache, Professor. Wir könnten die Büchse der Pandora öffnen, ohne es zu merken.«

Marschall Gärtner saß in seinem Stuhl vor dem Bildschirm und grinste breit. »Genau das ist es, was du für mich tun wirst, Schätzchen. Genau das.«

Ein Kettenrasseln an der Wand erinnerte ihn daran, dass er in dem Raum nicht allein war. Er schaltete den Tischmonitor aus und zog mehrmals an seiner Zigarre, die zu verlöschen drohte.

»Nun, Zausel, was ist deine Meinung? Sind die beiden für unser Vorhaben geeignet?«

»Dein Vorhaben, Marschall.«

»Natürlich. Mein Vorhaben. Also, was denkst du?«

»Er ist neugierig. Das Weibchen hat Angst. Sehr große Furcht.«

»Das habe ich eben gehört.«

»Ich rieche es.«

»Gut. Das gefällt mir. Was für spezielle Sinne hast du noch? Du weißt ja, das interessiert mich. Aber bitte, erzähl mir keinen Unsinn. Denk an unsere kleine Verabredung.«

Der Struggler knurrte böse und verzog das Gesicht zu einer furchteinflößenden Grimasse, während er die Zähne bleckte. Bei diesen Zeds waren selbst die Zähne unnatürlich vergrößert und der Marschall zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass sie wesentlich stabiler und auch schärfer waren, als das ursprünglich bei Menschen der Fall sein konnte.

Nach einem niesartigen Schnaufer, der einige Mengen an obszön riechendem Schleim aus den Gesichtsöffnungen des Zeds in die direkte Umgebung schleuderte, antwortete die Bestie:

»Ich kann Magnetlinien sehen. Leylines und feinere, sehr dünne magnetische Fäden. Ich kann warme Körper in der Finsternis erkennen und Gedanken hören. Mit den Brüdern kann ich über weite Entfernungen in Gedanken sprechen.«

»Wie weit?«

»Sehr weit. Über die Magnetlinien denken wir.«

»Kannst du mit Kzu’ul kommunizieren?«

»Das ist möglich.«

Der Marschall lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Nachdenklich blickte er zur Decke. Dichte Wolken von Zigarrenqualm hüllten ihn ein, der Rauch bildete eine dünne Nebelwand unter der Decke des Raumes. Eine Weile sagte er nichts, dann fragte er mit einem Mal unvermittelt:

»Was für ein Gefühl ist es, quasi unsterblich zu sein, Zausel? Wie fühlt sich das an?«

Die Stimme des anderen wurde tief und leise. »Meine Bezeichnung lautet Gap, nicht Zausel. Komm her zu mir. Ich beiße in deinen Hals und du erfährst es aus erster Hand.«

Der Marschall lachte.

»Nein, so weit sind wir noch nicht, mein lieber Zausel. Aber wenn der Tag der Nephilim gekommen ist, werden wir beide uns ähnlich sein. Sehr ähnlich. Aber nun muss ich mich erst mal um unsere neuen Kollegen kümmern. Die beiden fühlen sich bestimmt schon ganz einsam da draußen. Ich bin sicher, in den nächsten Wochen habt ihr euch noch viel zu erzählen.«

Der Marschall drückte die Zigarre im Aschenbecher aus und deaktivierte den Computer, der in den Schreibtisch montiert war. Dann erhob er sich und verließ den Raum.

Einige Tausend Kilometer entfernt pfiff Oleg leise durch die Zähne.