Jahr Zwei, 04. Oktober, Nachmittag II

»Verdammt! Schau dir das an, Igor!«

Oleg legte das Video, das er eben vom Server gezogen hatte, auf eine Pausenschleife, bis sein Kamerad und Liebhaber den Computerraum betreten hatte. Als der große, kräftig gebaute Russe halb nackt in das Computerzimmer stürzte, hätte Oleg gern anderes getan, als ihm Filmchen aus der New World Dark Zone vorzuspielen.

»Was? Was gibt es? Mann, ich wollte eben ins Bad. Sag schon, was ist so wichtig?«

Kommentarlos, ohne den Blick von Igors muskelbepacktem Oberkörper abzuwenden, drückte Oleg den Wiedergabeknopf auf seiner Tastatur, und das Video aus dem Zombie-Dungeon lief an.

Zunächst etwas verwundert, aber mit jedem Satz, der dort gesprochen wurde, interessierter, betrachtete Igor die Szenerie. Oleg war noch nicht fertig damit, Igor zu betrachten. Der jedoch interessierte sich im Moment nicht für seinen Gespielen, denn das, was er da auf dem Screen zu sehen bekam, faszinierte ihn mehr.

Es handelte sich um verschiedene Blickwinkel aus unterschiedlichen Überwachungskameras, die das Geschehen in zwei Räumen zeigten. Zum einen das Zombiegefängnis, das Igor bereits aus einem anderen geleakten Video kannte, und zum anderen um ein Labor, in dem Menschen offenbar gegen ihren Willen festgehalten wurden. Ungeschnitten war in der Tonspur die Stimme von Marschall Gärtner zu vernehmen, sowie die des Strugglers, der einmal ein Wissenschaftler in der Feste Rungholt gewesen war. Vor einiger Zeit hatte Igor in einem ähnlichen Video gesehen, wie der Marschall einen seiner Soldaten völlig skrupellos an diese Bestie verfüttert hatte.

Ebenso wie das vorherige Video hatte der Absender auch dieses hier mit einem Sperrvermerk versehen. Es sollte erst zu einem späteren Zeitpunkt in die Öffentlichkeit gebracht werden. Der russische General, der dort in der Festung den Putsch plante, wollte sich die schweren Kaliber für die Entscheidungsschlacht aufheben, was Igor als durchaus verständlich erachtete. Er selbst hätte es auch so gemacht.

Zur Zeit hatten die beiden, die im Netz der New World als Wissarion herumgeisterten, sowieso genug mit der Veröffentlichung von Videomaterial aus dem Kampf um dieses französische Dorf zu tun.

Oleg musste das erbeutete Rohmaterial schneiden, kommentieren und vor allem jeden Verdacht auf das Überlaufen des SpezNas-Teams aus den Videodateien eliminieren, was jedoch nicht allzu schwer war, denn die Übertragung riss ab, bevor Material aus dem Häuserkampf über die Relaisstation gesendet wurde.

Die Daten der Helmkameras hatte das Relaisflugzeug nicht mehr nach Norden schicken können, weil die Prepper es zerstört hatten. Doch das verfügbare Material ließ sich hervorragend editieren und dramatisieren. In den Clips, die Wissarion überall im Netz deponierte, konnte man sehen und hören, wie Kampfhubschrauber der New World Army ohne jeden Grund friedliche Siedler mit Hellfire-Raketen angriffen und versuchten, deren Dorf zu zerstören. Die ›Kill ’em all!‹-Kommandos der Piloten waren im Funkverkehr deutlich zu hören, ebenso ihre abfälligen Bemerkungen über sogenannte ›Collateral Damages‹.

Insgesamt hatte Oleg vor, aus dem Rohmaterial ungefähr zwanzig kurze Clips zu je maximal einer Minute zu schneiden, so dass man diese als Videodateien bequem im Netz verstecken konnte. Diese Filme waren schnell zu laden, man konnte sie kurz anschauen und sich dann seine Gedanken dazu machen.

Igor versah einige der Videos zusätzlich mit Lauftextbändern, und die beiden hatten vor, über den Zeitraum von drei Wochen jeden Tag eine dieser Videosequenzen zu veröffentlichen.

So blieb das Thema in dieser Zeit stets im Gespräch und im Gedächtnis der Siedler. Jeder, der diese Bilder sah, würde sich ausmalen können, dass es auch seine eigene Siedlung treffen konnte, wenn diese den Plänen des Diktators im Weg war.

»Heilige Mutter Gottes! Das ist starker Stoff!«, rief Igor aufgeregt, als er das Video bis zum Ende angeschaut hatte. Er zog sich gerade, sehr zu Olegs Bedauern, ein T-Shirt über.

»Dieser Deutsche in der Festung ist eine Bestie, die noch viel schlimmer wütet als die Zeds. Er will eine gottverdammte Zombiearmee erschaffen.«

»Du fluchst«, bemerkte Oleg trocken.

»Natürlich fluche ich«, erwiderte Igor aufbrausend, »bei solchen Dingen kann man nur fluchen, Oleg. Das ist wider die Natur, was der da unternimmt. Er will Zombies züchten, Oleg. Das ist nicht zu glauben.«

Oleg fertigte nebenbei Sicherungskopien der neuen Daten an. Dann stand er auf und ging in die Küche.

»Tee?«, rief er durch den Flur. Igor stand noch immer vor dem Monitor, der das eingefrorene Bild von Marschall Gärtners Fratze zeigte.

»Ja, ich komme. Schenk doch schon mal ein.«

Kurz darauf saßen die beiden zusammen beim Tee in der Küche. Oleg hatte noch Piroggen vom Frühstück, gefüllt mit Dosenfleisch und Gemüsekonserven, im Ofen aufgewärmt und die beiden ließen sich den Snack schmecken. Nach einer Weile meinte Oleg:

»Sag, Igor, wie lange werden wir hier noch bleiben können? Die klassifizierten Nachrichten im ARPAII-Netz sind voll von Berichten über Zed-Angriffe an der Grenze.«

Igor nickte.

»Ja, ich hab mir die Meldungen auch angesehen. Bei Kasan sind sie sogar durchgebrochen. Mit einem riesigen untoten Heer. Wahrscheinlich wollen sie nach Westen in die Siedlungsgebiete. Der direkte Weg würde sie über Moskau führen, doch dort herrscht immer noch diese Todesstrahlung.«

Igor erinnerte sich wieder an den letzten Blick, den er Heiligabend vor mehr als einem Jahr auf seine Familie in Moskau geworfen hatte, als er mit seinem Kumpel Wladimir Bogodin aufgebrochen war, um Vorräte zu besorgen. Und die Bilder von dem eigenartigen Blitz, den er gesehen hatte, als er versuchte, sie zu retten.

Und doch hatte er sie verloren. Seine Tochter, seine Mutter, seine Frau … alles Leben war in der tödlichen Strahlung, die diese Bombe mit sich gebracht hatte, vergangen. Auch die eigentlich schon toten Zombies hatte es erwischt. Es gab keinen Schutz, kein Versteck, das diese Todesstrahlen nicht erreichten. Schwermut befiel Igor, dunkle, triste Melancholie bemächtigte sich seines Denkens.

Oleg sah, wie Igors Blick trüb wurde und er in Gedanken weit weg weilte, weit in seiner Vergangenheit.

Der Junge wusste, dass es in Momenten wie diesem das Klügste war, einfach nichts zu sagen. Nur wenige Momente später riss sich Igor aus den herzbeschwerenden Gedanken, verwischte die Erinnerungen und kehrte in das Hier und Jetzt zurück.

»Sie werden den Tod in der Stadt riechen und ausweichen. Wenn sie eine Südroute nehmen, kommen sie in unsere Richtung. Einige Horden sind ja bereits hier durchgezogen, und ich schätze, sie werden diese Wege wieder nehmen. Wir sollten uns darauf vorbereiten, unter Umständen schnell das Feld zu räumen. Ich werde mit unseren Kontaktleuten sprechen, ob es eine Möglichkeit gibt, nach Pridnestrowje auszuweichen, Odessa ist mir zu gefährlich. Dort wimmelt es nur so vor lauter Fahnentreuen. Weiter im Süden gibt es vielleicht einen Zugang zum Meer und die Männer können ein seetüchtiges Boot besorgen.«

»Und dann fahren wir nach Griechenland?«, fragte Oleg. »In die Sonne?«

Igor wirkte nachdenklich, als er antwortete.

»Weißt du, Griechenland, die Inseln, das ist sicher wunderschön, Oleg. Aber wir beide haben eine Mission zu erfüllen. Und ich frage mich ernsthaft, ob wir das auf einer kleinen, karstigen Insel in der Ägäis wirklich tun können. Ich glaube nicht, dass wir dort eine gute Netzanbindung haben.«

Oleg erwiderte verträumt: »Aber wir hätten uns zwei, Igor. Eine kleine, warme Insel. Ein Fischerboot, einen schönen Gemüsegarten, etwas Gras anbauen …«

Igor blickte ihn streng an.

»Ist es das, was du willst? Den ganzen Tag nackt herumlaufen, Gras rauchen und Vögeln, bis du nicht mehr sitzen kannst? Das ist alles, was du willst?«

Oleg versuchte zu beschwichtigen.

»Igor, ich träume halt. Verbiete mir nicht das Träumen, bitte. Ich weiß, du hast eine wichtige Mission zu erfüllen. Ich wünsche mir nur ein ganz klein wenig persönliches Glück. Ist das wirklich so schlimm?«

Olegs Hundewelpenblick, mit dem er Igor anblinzelte, verfehlte seine Wirkung nicht. Der starke Mann in der eigenartigen Beziehung, welche die beiden pflegten, ließ sich erweichen, ihn nicht zu schelten.

»Hör zu, Oleg. Ich würde mir auch wünschen, dass ich irgendwo sorglos leben könnte, glaub mir. Aber wenn die Zeds vorrücken und Gärtners Truppen ausweichen müssen, dann werden sie denselben Weg einschlagen. Die Inseln sind kein sicherer Ort.«

»Was ist dann sicher, Igor?«

»Ich arbeite noch daran, aber ich habe da schon so eine Idee. Aber zuerst müssen wir uns um den Einsatz im Norden kümmern. Wenn ich von Kiew aus starte, werde ich einige Männer damit beauftragen, dich und die Technik schon einmal auf den Weg zu schicken. Ich will, dass du in Sicherheit bist, wenn es soweit ist.«

»Du bist gut zu mir, Igor.«

»Du hast es verdient.«

»Wenn du von Kiew aus losfliegst … werde ich dich je wiedersehen?«

Das war der unangenehmste Punkt, jedes Mal, wenn sie über die Zukunft sprachen. Igor wollte Oleg in Sicherheit wissen, er wollte, dass Wissarion weiterhin für die Menschen da war. Aber er sprach fast nie vom ›Wir‹, wenn es um die Zukunft ging. Und Oleg war nicht so dumm, dass ihm das nicht auffiel.

»Hör zu«, sagte Igor in leisem Ton und er sprach langsam, »die Sache, die ich zu erledigen habe, ist gefährlich. Und ich habe es dir schon oft gesagt, ich weiß nicht, ob ich das überlebe.«

»Dann tu es nicht!«, schluchzte Oleg.

»Es gibt Dinge, die muss ein Mann tun.«

»Ja, natürlich. Du hast Recht. Entschuldige.«

Oleg schniefte. Er wusste aus vorangegangenen Gesprächen nur zu gut, dass es keinen Zweck hatte, zu diskutieren. Igor wollte gegen Marschall Gärtner antreten und ihn wahrscheinlich auch eigenhändig töten als Vergeltung für den Tod seiner Familie. Oleg wusste, er würde ihn davon nicht abhalten können. Es blieb im Grunde nichts, als sich mit der Situation abzufinden so wie sie war.

»Natürlich werde ich versuchen, das alles zu überleben, Oleg. Wer will das nicht? Und dann komme ich zu dir. Versprochen.«

Doch da war sich Oleg nicht zu einhundert Prozent sicher.

»Jaja, schon gut, Igor. Ich weiß, dass du das tun musst. Aber das bedeutet ja nicht, dass es mir gefallen muss. Aber wenn du es sagst, werde ich mit deiner Truppe nach Süden gehen, ein Boot besteigen und dorthin fahren, wo du meinst, dass es einigermaßen sicher ist. Wo auch immer das sein sollte. Möchtest du noch Tee?«

Igor sah ihn an und es wurde ihm schon etwas schwer ums Herz. Verdammt, er hatte diesen komischen Vogel mit den schmalen Hüften und dem knackigen Hintern wirklich liebgewonnen in der Zeit, die sie nun zusammen waren.

»Ja, bitte«, erwiderte er und griff zu den Piroggen, um eine zu essen, solange sie noch warm waren.