81
—
Sie waren weit, weit draußen, gefährlich weit, wenn man ehrlich war, und selbst die wenigen Lichtpunkte, die von Westish in der Ferne noch zu sehen waren, schienen kurz davor zu verschwinden. Mike, der beim Rudern die meiste Arbeit geleistet hatte, das Gesicht die ganze Zeit über schmerzverzerrt, hielt inne und hob die Ruder aus dem Wasser. Henry, auf dem Bugsitz hinter ihm, tat es ihm gleich. Das Quietschen der Dollen verstummte ebenso wie das regelmäßige Klatschen der Ruderblätter, und zurück blieben nur das Geräusch der gegen den Bootsrumpf schwappenden Wellen und der schwarze Himmel, der sie von allen Seiten umgab.
Pella saß am Heck des Bootes, Westish hinter sich und vor sich den See, obwohl sie wenig mehr sah als Mikes schweißgetränkte Brust und das Heben und Senken seiner breiten Schultern, während er zu Atem zu kommen versuchte. Was für ein Gesicht, dachte sie. Nie wieder soll es ein Bart verdecken.
Owen saß allein ganz vorn am Bug, den Rücken ihnen zugewandt. Er blickte hinaus auf das dunkle Wasser, eine Hand sanft auf dem Stoff der Tasche, in der Pellas Vater lag.
Sie trieben jetzt nur noch dahin, die Spitze des Ruderbootes drehte sich langsam nach backbord, in Richtung Norden. Es war an der Zeit, und Mike sah Pella an, wartete darauf, dass sie sagte, dass es an der Zeit sei, aber obwohl es ihr Vater war und ihre Idee, wurde ihr bewusst, dass sie auf Owen wartete. Owen würde wissen, was zu tun war. Sie holte eine warme Bierdose unter ihrer Bank hervor – sie hatten zwar das Bier mitgebracht, aber nicht die Kühlbox –, öffnete sie und reichte sie Mike. Mike gab die Dose an Henry weiter, und Pella zog noch eine hervor.
Endlich drehte sich Owen um. Er trug seine Westish-Kappe mit dem von einer Harpune durchbohrten W, und sein Gesicht glänzte nass im schwachen Licht der Leselampe. Er lächelte und sah Pella an. »Ist es recht, wenn ich ein paar Worte sage?«
Sie setzten sich anders hin, Owen und Henry auf einer Bank, Pella und Mike auf der gegenüberliegenden. Owen ließ die Flasche Scotch herumgehen.
»Vielleicht sollten wir die Köpfe senken«, sagte Owen. »Keine Sorge. Ich werde mich auf keinerlei brotbasierte Religionen berufen.«
Sie senkten die Köpfe. Der Strahl von Owens Leselampe fiel der Reihe nach auf sie und verharrte dann auf der marineblauen PVC-Tasche zu ihren Füßen. »Guert«, begann er. »Auf die Gefahr hin, rührselig zu werden, möchte ich dir doch sagen, dass du für lange Zeit ein wesentlicher Bestandteil meines Lebens warst. Ich las dein Buch, als ich vierzehn war, und es gab mir zu einer Zeit Mut, als ich Mut benötigte. Als wir uns vor drei Jahren zum ersten Mal begegneten, geschah das, weil du mich für das Maria-Westish-Stipendium ausgewählt hattest – noch ein Grund dafür, dass ich dir auf ewig dankbar sein werde. Denn sonst wäre ich nie nach Westish gekommen und hätte nie die Menschen kennengelernt, die jetzt an meiner Seite sind. Meine eigenen lieben Freunde, wie es bei Whitman heißt. Wir beide wurden allerdings erst vor kurzer Zeit Freunde. Und natürlich bedaure ich es, dass unsere Zeit, dass deine Zeit so knapp bemessen war.«
Owens Stimme zitterte. Er schloss die Augen, öffnete sie wieder.
»Du hast mir einmal gesagt, dass man nicht mit einer Seele geboren wird, sondern dass sie erst gebildet werden muss, durch Versuche und Irrtümer, Lernen und Liebe. Und du hast dich dieser Aufgabe hingebungsvoller gewidmet als die meisten anderen Menschen, der Aufgabe, eine Seele zu bilden – nicht zu deinem eigenen Nutzen, sondern zum Nutzen derer, die dich kannten. Das ist einer der Gründe dafür, dass dein Tod so schwer für uns ist. Es ist schwer zu akzeptieren, dass eine Seele wie deine, die zu bilden ein Leben lang gedauert hat, aufhören kann zu existieren. Es macht uns zornig, rasend vor Wut auf das Universum, dich nicht bei uns zu haben. Aber natürlich existiert deine Seele doch, Guert, weil du sie so verschwenderisch geteilt hast. Sie existiert in deinem Buch, in diesem College und in jedem von uns. Dafür werden wir immer dankbar sein.« Owen hob den Kopf und mit ihm den Strahl der Leselampe. Wieder glitt er der Reihe nach über sie hinweg. Er lächelte. »Und wir vermissen auch deine körperliche Hülle, die ebenfalls schön war.«
Pella weinte Sturzbäche, so leise sie konnte. Das mit dem Schaffen einer Seele – sie fragte sich, ob ihr Dad das wirklich gesagt hatte oder ob Owen es sich hergeleitet hatte, als eine Art Synthese dessen, woran ihr Vater geglaubt hatte. So oder so war es bemerkenswert, und zum ersten Mal bekam sie einen Eindruck davon, wie nah sie sich gewesen waren, dass ihre Beziehung wohl nicht die statische, einseitige Art schwärmerischer Anbetung gewesen war, die in ihre bequeme Vorstellung gepasst hatte, sondern etwas Wahres und Mächtiges.
Sie zitterte, und Mike legte den Arm um sie. Trotz der fürchterlichen Hitze des vergangenen und des kommenden Tages, trotz der Hitze des Scotchs, den sie getrunken und getrunken hatte, sowohl aus Owens Flasche als auch aus ihrem Flachmann, fühlte sich die Vier-Uhr-morgens-Brise, die über das Wasser kam, schneidend und eisig an. Es war an der Zeit, dass sie irgendetwas sagte, dass sie sich ihrem Vater gegenüber irgendwie angemessen verhielt, aber es gab zu vieles zu sagen und keine Möglichkeit, es auszudrücken.
Owen streckte den Arm aus und reichte ihr etwas. Ein Stück Papier, zweifach gefaltet. Sie entfaltete es, aber es war zu dunkel, um etwas zu erkennen.
»Hier.« Owen nahm seine Harpooners-Kappe ab und setzte sie Pella, die sich nach vorn beugte, auf den Kopf. Im Licht der batteriebetriebenen Lampe erkannte sie, was er ihr gegeben hatte: eine maschinelle Abschrift von »Die Leeküste«, jenem kurzen Kapitel aus Moby-Dick, das ihres Vaters liebstes Stück Literatur, der Ursprung seines alten Passworts und nicht ganz von ungefähr das Grabgedicht eines mutigen und schönen Mannes war.
Sie kannte es auswendig, seit sie sechs Jahre alt gewesen war, und als sie einmal begonnen hatte, benötigte sie den Zettel nicht mehr. Wenn ihr Vater es in seinen Vorlesungen rezitiert hatte, hatte er das stets mit der Verve eines Bühnenschauspielers getan, hatte sich durch die Ausrufezeichen geschrien, als wollte er die Studenten daran erinnern, dass alte Bücher starke Gefühle enthielten. Das konnte sie jetzt nicht tun, aber auf eine leise Art versuchte sie, der Passage gerecht zu werden. Mike drückte ihre Hand.
Als sie geendet hatte, zog Mike eine Schere aus seiner Jacke und schnitt Schlitze in die Sporttasche, damit sie sich mit Wasser füllte und sank. Henry und er knieten neben dem Körper nieder, umfassten ihn jeder mit beiden Armen und hoben Affenlight sehr langsam, um das Boot nicht zum Kentern zu bringen, hoch und über die Reling.