5

Sechs Wochen später marschierten die Harpooners über die Rollbahn des winzigen Green Bay Airport, Wind peitschte ihnen in die Gesichter, die Taschen mit den Initialen des Westish Athletic Department über den Schultern. Bis auf Henry nickten alle im Takt der Musik aus ihren Kopfhörern. Es war ein klarer, kalter Tag, um die fünf Grad minus, aber sie hatten sich schon für den Zielort angezogen, weshalb Jacken oder Sweatshirt nicht in Frage gekommen waren. Der Propeller der Maschine pürierte die Luft. Trockener, wochenalter Schnee wurde vom Windzug in Sinuskurven über die Rollbahn getrieben. Henry drückte die Schultern durch und machte sich beim Gehen so groß, wie seine einsvierundsiebzig es zuließen, genau wie all die anderen herumreisenden Athleten, die er im Fernsehen gesehen hatte. Es ging zum Baseballspielen nach Florida, alles auf Spesen.

Sie stiegen in einem Motel 4 ab, eine Stunde landeinwärts von der städtischen Baseballanlage in Clearwater entfernt. Die älteren schliefen zu zweit in einem Bett, die Frischlinge auf Zustellpritschen. Henry teilte sich mit Schwartz und Asch ein Zimmer. In der ersten Nacht tat er kein Auge zu, lauschte Specks Geschnarche, das wie eine Flugzeugturbine klang, und den Folterschreien der Sprungfedern, während die beiden älteren Semester, die zusammen fast zweihundertdreißig Kilo auf die Waage brachten, auf dem angeblichen Doppelbett im Schlaf um Gebietsansprüche kämpften. Henry schloss die Augen, wickelte sich die verrauchten Plastikvorhänge um den Kopf und zählte die Minuten bis zum ersten echten Freilufttraining.

Am nächsten Morgen, einem Samstag, beluden sie den Bus und fuhren zur Baseballanlage – acht piekfeine Spielfelder der Extraklasse waren zu angrenzenden Kreisen von je vier Feldern angeordnet. Der Morgentau glitzerte im buttrigen Licht der Sonne Floridas. Während Henry zum Feldtraining auf die Shortstop-Position trabte, drehte er sich plötzlich und machte ansatzlos einen Rückwärtssalto, bei dessen Landung er nur leicht taumelte.

»Leck mich, Skrim!«, brüllte Starblind vom Center Field aus. »Wo kam der denn her?«

Henry hatte keine Ahnung. Er versuchte, sich die Schrittfolge einzuprägen, die er gemacht hatte, aber der Augenblick war vorüber. Manchmal machte der Körper einfach, was er wollte.

»Du solltest beim Gymnastik-Probetraining mitmachen«, sagte Tennant. »Die Größe stimmt ungefähr.«

Während des Schlagtrainings kletterte Henry über den Zaun hinter dem linken Outfield auf den Parkplatz, um die erstaunlichen Mondbälle aufzufangen, von denen Vierzehndreißig-Toover einen nach dem anderen drosch. »Willkommen zurück, Jim«, jubelte Coach Cox, während Ball um Ball mit reichlich Spiel über die Mauer segelte. »Du hast uns gefehlt.«

Der sanftäugige Jim Toover war eben erst von einer mormonischen Missionsreise zurückgekehrt, die ihn nach Argentinien geführt hatte. Er war einsneunundneunzig und hatte einen langen, kraftvollen Schwung. Er wurde Vierzehndreißig genannt, weil das die Uhrzeit war, zu der die Harpooners vor Heimspielen immer Schlagtraining machten. Henry stand knapp zehn Meter hinter dem Zaun, und die Bälle prasselten herab, als fielen sie aus den Wolken. Zuschauer eilten zum Parkplatz, um ihre Autos umzuparken. Die Mannschaften auf den umliegenden Feldern unterbrachen das Training, um zuzuschauen.

»Aber wir würden ihn nicht Vierzehndreißig nennen, wenn er das während der Spiele machen würde.«

»Was macht er denn während der Spiele?«

»Da hat er Muffensausen.«

An diesem Nachmittag spielten die Harpooners gegen die Lions von der Vermont State University. WILLKOMMEN IN DER HÖLLE DER LÖWEN stand auf dem Transparent einer weitgereisten Mutter. Henry saß neben Owen und Rick O’Shea auf der Spielerbank. Starblind war als Center Fielder und Stammschlagmann bereits gesetzt.

Owen holte ein batteriebetriebenes Leselämpchen aus der Tasche, klipste es an den Schirm seiner Kappe und schlug ein Buch mit dem Titel Omar Khayyāms Robā’īyāt auf.

Hätten Henry und Rick während eines Spiels auch nur ans Lesen gedacht, wären sie zu Konditionstraining oder zum Helmschrubben verdonnert worden, aber Coach Cox hatte es bereits aufgegeben, Owen für seine Sünden zu bestrafen. In Sachen Disziplin war Owen ein absolutes Rätsel, denn es schien ihm völlig gleichgültig zu sein, ob er spielte oder nicht. Und wurde er angebrüllt, hörte er zu und nickte interessiert, so als sammle er Material für eine Hausarbeit zum Thema Hirnschlag. Bei Sprints trabte er, bei Dauerläufen ging er spazieren, und im Outfield machte er Nickerchen. Innerhalb kürzester Zeit hatte der Coach das Brüllen eingestellt. Tatsächlich wurde Owen sogar sein Lieblingsspieler, der Einzige, um den er sich keine Sorgen machen musste. Wenn im Training nichts zusammenging, wie meistens, zischte er Owen aus dem Mundwinkel ätzende Bemerkungen zu. Owen wollte gar nichts von Coach Cox – nicht Stammspieler werden oder eine bessere Position innerhalb der Schlagfolge herausholen, noch nicht einmal einen Rat – und deshalb konnte dieser es sich leisten, ihn als ebenbürtig zu behandeln, vielleicht in etwa so, wie ein Priester sein einziges ungläubiges Gemeindemitglied zu würdigen weiß, denjenigen, dem die Rettung seiner Seele egal ist, der aber wegen der schönen bunten Fenster und dem Singen immer wiederkommt. »Man steht so viel herum«, antwortete Owen, als Henry ihn fragte, was ihm an dem Spiel gefalle. »Das und die Taschen an der Spielerkleidung.«

Im sechsten Inning gegen Vermont State konnte Henry seine innere Unruhe kaum noch verbergen. »Dürfte ich höflich bitten, das zu unterlassen«, sagte Owen zu Henry, dessen Knie zappelten und zuckten. »Ich versuche zu lesen.«

»Entschuldige.« Henry hörte auf, aber kaum konzentrierte er sich wieder auf das Spiel, begannen seine Knie von neuem damit. Er schaufelte sich eine Handvoll Sonnenblumenkerne in den Mund und spuckte die geknackten Hülsen präzise in eine kleine Gatorade-Lache auf dem Boden. Er drehte seinen Mützenschirm nach hinten. Er drehte einen Baseball in der rechten Hand und schnippte ihn hinüber in die linke. »Macht dich das nicht kirre?«

»Doch«, sagte Rick. »Hör auf damit.«

»Nein, nicht ich. Auf der Bank zu sitzen.«

Rick prüfte die Bank mit den Handflächen, als wäre es eine Matratze in einem Möbelhaus. »Die ist doch in Ordnung.«

»Wärst du nicht viel lieber auf dem Spielfeld?«

Rick zuckte mit den Schultern. »Vierzehndreißig ist erst im dritten Jahr, und Coach Cox liebt ihn. Wenn er nur die Hälfte von dem zeigt, was er tatsächlich draufhat, sitze ich die nächsten zwei Jahre hier.« Er sah Henry an. »Du wiederum hast Tennant ganz schön gegen dich aufgebracht.«

»Hab ich nicht«, sagte Henry.

»Und ob. Du hast nicht gehört, wie er Meccini letzte Nacht vollgetextet hat, während ich auf meiner Pritsche gelegen und so getan habe, als würde ich schlafen.«

»Was hat er denn gesagt?«

Rick sah sich zu beiden Seiten um, um sicherzugehen, dass niemand lauschte, und setzte dann zu seiner Tennant-Imitation an. »Der verpiepte Schwartz. Kommt nicht klar damit, dass ich Kapitän dieser verpiepten Mannschaft bin. Was also macht er? Gräbt dieses kleine Stück Piep aus, das jedes verpiepte Ding fängt, das man in seine Richtung haut. Dann trainiert er den kleinen Piep Tag und Nacht und bramarbasiert den ganzen verpiepten Winter über vor Coach Cox herum, was für ein fantastischer Piep von einem Spieler er ist. Und wieso? Damit der kleine Piep mir meinen verpiepten Job wegnehmen und Schwartz, der erst im verpiepten zweiten Jahr ist, sich selbst zum verpiepten Kapitän der Mannschaft ernennen kann.«

Owen sah von seinem Buch auf. »Tennant hat bramarbasiert gesagt?«

Rick nickte. »Und verpiept.«

»Tja, Grund zur Sorge hat er. Henry hat bis jetzt eine erstklassige Vorstellung abgeliefert.«

»Ach komm«, widersprach Henry. »Tennant ist tausend Mal besser als ich.«

»Schlagen kann Lev. Aber seine Defense ist schlampig. Ihm fehlt der Skrimshander-Biss.«

»Ich wusste nicht, dass Tennant Schwartzy überhaupt nicht abkann«, sagte Henry und meinte eigentlich, er habe nicht gewusst, dass Tennant ihn überhaupt nicht abkonnte. Bisher hatte ihn noch nie jemand einen kleinen Piep genannt. Ihm war zwar aufgefallen, dass Lev ihm beim Training die kalte Schulter zeigte, er hatte das aber schlicht unter Desinteresse verbucht.

»Bitte? Lebst du unter einem Stein?«, sagte Rick. »Die beiden können sich nicht ausstehen. Würde mich nicht wundern, wenn die Sache sich ziemlich bald zuspitzt.«

»Wahrlich«, stimmte Owen zu.

Im neunten Inning stand das Spiel nun unentschieden, und Tennant hatte es auf die First Base geschafft, als Vierzehndreißig zum Schlagmal vortrat. Er schraubte seinen hinteren Fuß in den Staub und hob den Schläger hoch über den Kopf. Er hatte es heute schon jeweils einmal auf die First und die Second Base geschafft. Vielleicht hatte Argentinien ihm doch gut getan.

»Jim Toover!«, brüllte Owen. »Du bist begabt! Wir ermutigen dich!«

Erster Wurf. Zweiter Wurf.

»Wie kann man diese Strike Zone nur verfehlen?«, fragte Rick.

Dritter Wurf.

Henry blickte zur Third Base, um zu sehen, ob Coach Cox per Zeichen anwies, den nächsten einfach durchzulassen. »Er soll schlagen«, berichtete er.

»Echt?«, sagte Rick. »Das scheint mir keine gute I-«, aber das ohrenbetäubende Ping von Ball gegen Aluminiumschläger schnitt ihm das Wort ab. Am blassblauen Himmel verwandelte sich der Ball in ein Staubkörnchen und flog weit, weit hinaus auf den Parkplatz. Henry meinte, das Splittern einer Windschutzscheibe zu hören, aber er war sich nicht ganz sicher. Er rannte aus dem Unterstand, um Jim an der Home Plate zu begrüßen.

Rick schüttelte verblüfft den Kopf. »Jetzt werde ich wohl nie mehr von der Bank runterkommen.«

»In der Tat.« Owen gab Vierzehndreißig mit seinem Omar Khayyām einen Glückwunschklaps auf den Hintern. »In der Tat.«

Soweit sich alle, Coach Cox eingeschlossen, erinnern konnten, war dies der erste Sieg der Harpooners überhaupt. Sie feierten ihn bei dem All-you-can-eat-Chinesen an der Einkaufsmeile in der Nähe ihres Motels. Im Laufe der nächsten drei Tage verloren sie dann fünf Spiele in Folge. Tennant verpatzte jeden einzelnen Bodenball, der in seine Richtung flog. Vierzehndreißig schlug immer wieder daneben. Während sich die Verluste summierten, stand Coach Cox mit verschränkten Armen in der Coachingzone an der Third Base und zog mit der Spitze seines Stollenschuhs einen Graben in den Staub, den er mit einem beständigen Strom Tabaksaft füllte, als wollte er sich vor so viel Nichtkönnen schützen. Auf der Spielerbank wechselte die Stimmung von optimistisch über entschlossen zu düster und schließlich zu düster mit einem Geschmack von Bitterkeit. Während seines siebten Spiels auf der Bank verdeckte Rick sein Smartphone mit dem Handschuh und scrollte heimlich durch die Facebook-Bilder, die ihre Kommilitonen an diesem Tag von den Stränden West Palm, Miami, Daytona und Panama City gepostet hatten – Album auf Album mit Bikinimädchen, blauem Ozean und grellbunten Drinks. »So nah«, seufzte er kopfschüttelnd, »und doch so schrecklich fern.«

»Owen«, sagte Henry aufgeregt, »ich glaube, du sollst für Meccini schlagen.«

Owen klappte Die Fahrt der Beagle zu, die er unlängst angetreten hatte. »Tatsächlich?«

»Läufer auf der First und Second«, sagte Rick. »Ich bin mir sicher, er will, dass du abtropfen lässt.«

»Wie geht das Zeichen dafür?«

»Zweimal ziehen am linken Ohrläppchen«, erklärte Henry. »Aber vorher muss er das Startzeichen geben, also einmal die Gürtelschnalle berühren. Aber wenn er sich mit einer Hand an die Kappe fasst oder deinen Vornamen sagt, ist die Aktion abgeblasen, und du musst abwarten, ob –«

»Schon gut«, sagte Owen. »Ich lasse einfach abtropfen.« Er schnappte sich einen Schläger, schlenderte zum Schlaghügel, nickte dem wild gestikulierenden Coach Cox freundlich zu und ließ den Ball so perfekt abprallen, dass er am Werfer vorbeikullerte. Der Wurf des gegnerischen Shortstops kam einen Sekundenbruchteil zu spät ins Ziel, und Owen trabte zurück zum Unterstand, um die Glückwünsche seiner Teamkameraden entgegenzunehmen. Diese Eigenart war Henrys liebste im Baseball: Schlug ein Spieler einen Home Run, stand es seinen Mitspielern frei, ihn nicht weiter zu beachten. Opferte er sich hingegen, um die Läufer zu befreien, erwartete ihn eine lange Reihe von Händen, die es abzuklatschen galt. »Schön gemacht«, sagte Henry und stieß seine Faust gegen Owens.

»Danke.« Owen schnappte sich sein Buch. »Der Werfer ist gar nicht übel.«

Die ganze Woche lang schliefen, aßen, reisten, trainierten und spielten die Harpooners als Einheit. Waren sie nicht draußen auf dem Platz oder in ihrer räudigen Absteige, dann saßen sie in dem heruntergekommenen Bus fest, den sie gemietet hatten. Selbst die unbedeutendsten Entscheidungen, etwa ob man nun bei Cracker Barrel oder Ye Olde Buffet essen sollte, nahmen Stunden in Anspruch. »Ich liebe es, wenn ich kacken muss«, sagte Rick. »Da bin ich endlich mal allein.«

Je öfter sie verloren, desto schwerer war es auszuhalten, ständig aufeinanderzuhocken. Auf den zu langen Fahrten zwischen der Baseballanlage und ihrem Motel saßen die fortgeschrittenen Semester mit Tennant hinten im Bus und die Jüngeren mit Schwartz vorn. Bloß Jim Toover streckte seine endlosen Gliedmaßen über die leeren Sitzreihen des Niemandslands dazwischen aus. Gut zwei Meter groß und Mormone zu sein hob ihn aus der Masse hervor.

Unterdessen wurde Tennants Abwehrspiel von Tag zu Tag schlechter. Sein Gesicht nahm einen verhärmten, verkniffenen Ausdruck an und verströmte eine schwarze Energie, sobald Henry sich ihm näherte. Zwischen Spielen konferierte Coach Cox leise mit Tennant, eine Hand auf dessen Schulter, während Tennant nickte und auf seine Schuhe hinabblickte. »Er macht sich zu viel Druck«, sagte Rick, nachdem Tennant einen Wurf zur Second Base verzogen und damit die sichere Chance vergeben hatte, zwei Läufer auf einmal out zu machen. »Seht euch sein Gesicht an.«

Owen räusperte sich und legte eine Hand auf die Brust. »Denn hinter ihm jagt schon heran / Henry, der es besser kann.«

Am Donnerstagabend legten sich Henry und Schwartz am Rand des unbenutzbaren, mit Schlick bedeckten Pools des Motel 4 auf steife, mit Plastikgewebe bezogene Stühle. Während sich der Boden abkühlte, schweiften Henrys Sinne umher und begannen wahrzunehmen, was ihnen normalerweise entging: das Gewiesel der Kakerlaken und Geckos auf den Fliesen, das Huschen der Motten vor den blauen Sicherheitsstrahlern, den von fern herüberwehenden Geruch von Wasser. Schwartz blätterte in einem LSAT-Leitfaden, der den Umfang eines Telefonbuchs hatte, obwohl er den Zulassungstest zum Jurastudium erst in anderthalb Jahren machen würde. »Ich bin ja erst im ersten Jahr«, sagte Henry. »Ich kann warten.«

»Du vielleicht.« Schwartz sah nicht auf. »Aber der Rest nicht. Es steht sieben zu eins. Wir brauchen dich da draußen.«

»Wenn Lev jemand sagen würde, dass er sich keine Sorgen zu machen braucht, würde er sich vielleicht entspannen und besser spielen.«

»Was glaubst du, was Coach Cox bei ihren kleinen Zusammenkünften macht? Die Hälfte der Zeit verbringt er damit, Tennant zu schmeicheln, ihm zu sagen, wie super er ist. Aber Lev ist ja nicht bescheuert. Er weiß, dass du der bessere Spieler bist.«

»Aber das bin ich nicht, echt nicht. Tennant spielt einfach zu verkrampft.«

»Er spielt verkrampft, weil er ein mieser Shortstop ist. Letztes Jahr war das genauso. Er macht Fehler und spielt dann den Beleidigten. Seine Einstellung ist einfach miserabel. Mit dir hat das nichts zu tun, Skrimmer. Zumindest fast nichts.«

»Das hoffe ich.«

»Mit Hoffnung hat es auch nichts zu tun.« Schwartz knallte sein Lehrbuch zu. »Es hat mit Coach Cox zu tun. Ich habe großen Respekt vor dem Coach, aber er ist Leuten gegenüber zu loyal, nur weil sie schon eine Weile dabei sind. Warum soll man einem Haufen Verlierer gegenüber loyal sein? Ich bin es leid zu verlieren. Das hier ist Amerika. Gewinner gewinnen. Und Verlierern verpasst man einen Arschtritt. Du solltest im nächsten Spiel dabei sein, und Rick sollte dabei sein, und der Buddha sollte vielleicht auch dabei sein. Und sei es nur, um dich auf Kurs zu bringen.«

»Tennant ist im vierten Jahr«, sagte Henry unsicher. »Ich kann bis nächstes Jahr warten.«

»Warte bis morgen«, sagte Schwartz. »Mehr verlange ich nicht.«

Am darauffolgenden Nachmittag spielten sie gegen Vermont State, die Mannschaft, gegen die ihnen der einzige Sieg geglückt war. Die Harpooners führten mit vier zu eins, ein Inning war noch zu spielen. Aber im neunten schlug der erste Batter der Lions einen routinemäßigen Aufsetzer in Richtung Shortstop, und Tennant bekam den Ball nicht aus dem Handschuh. Es war bloß das eine Spiel, aber es erinnerte die Harpooners daran, dass sie Verlierer waren, dass sie zum Verlieren verdammt waren. Es kamen noch vier Schlagmänner, dann war das Spiel zu Ende. Während seine Teamkameraden hintereinander grimmig in die Umkleide gingen, blieb Henry noch im Unterstand, sammelte Müll ein und starrte hinaus aufs Infield, das in der Nachmittagssonne besonders grün und majestätisch aussah.

Als Henry in die Kabine kam, hatte Schwartz Tennant im Schwitzkasten. Blut lief ihm in einem beständigen Rinnsal aus der Nase und tropfte in Tennants Haar. »Versuch das noch mal!«, brüllte er, während er Tennants Kopf gegen die Metallspinde rammte. »Versuch das noch ein einziges Mal!«

»Holt ihn von mir runter!«, flehte Tennant, seine Stimme durch Schwartz’ fleischigen Unterarm gedämpft. »Holt den irren Scheißkerl von mir runter!«

»Du irrer Scheißkerl!«, johlte Owen. »Geh von ihm runter!«

Niemand schickte sich an einzugreifen, und die Szenerie hing in beinah friedlicher Stasis, während Schwartz Tennants Kopf wie in einer Zeitlupenaufnahme gegen die Spinde knallte, bis schließlich Coach Cox aus dem Trainerzimmer hereinstürzte, dessen aufgeknöpftes Trikot die weiße Unterhose umwehte. Mit Aschs Hilfe befreite er Tennant aus Schwartz’ Griff.

Henry machte sich auf eine Tirade von Coach Cox gefasst, der aber gar nicht losbrüllte. »Schwartz, geh und wasch dir das Gesicht«, sagte er im Tonfall müder Eltern am Abend eines nervenaufreibenden Tages. Schwartz ging erhobenen Hauptes in die Waschräume, ohne sich um das Blut zu scheren, das ihm über Lippen und Kinn rann. Mit einem Pfropfen Toilettenpapier in der Nase kam er zurück und streckte Tennant die Hand hin. Tennant betrachtete sie einen Moment lang, bevor er sie kräftig schüttelte.

»Ihr beiden habt heute Abend frei.« Coach Cox ließ seinen Blick durch den Raum wandern. »Asch, bist du locker?«

»Locker vom Hocker, Coach.«

»Henry, bist du locker?«

»–«

»Henry?«

»Klar, Coach.«

Die ganze Geschichte hörte Henry von Rick und Owen beim Aufwärmen: Während Henry im Unterstand Pappbecher aufgesammelt hatte, war Schwartz an Tennants Spind vorbeigelaufen und hatte ihm etwas zugeflüstert. Tennant war herumgewirbelt und hatte einen heftigen Schlag ausgeteilt, der Schwartzy an der Nase getroffen hatte. Dessen Kopf war zurückgeprallt, und das Blut hatte zu fließen begonnen. »Schwartzy sah eine halbe Sekunde lang richtig angepisst aus, während sein Kopf noch am Hin- und Herbaumeln war«, sagte Rick. »Aber dann fing er irgendwie an zu grinsen, als hätte er es darauf angelegt, dass Tennant ihm eine verpasste.«

»Ich glaube, er hatte es darauf angelegt«, sagte Owen.

Rick nickte. »Selbst als er Levs Schädel gegen die Spinde donnerte, konnte man sehen, dass er ihm nicht wehtun wollte. Alles nur der Form halber.«

»Er hat die ganze Sache inszeniert, damit du spielen kannst«, sagte Owen zu Henry. »Für dich hat er sich sogar eins auf die Nase geben lassen. Du solltest dich geschmeichelt fühlen.«

Henry erschien das weit hergeholt. Andererseits hatte Schwartz ihm versprochen, er würde aufgestellt, und jetzt war er genau das: aufgestellt. Zwei Stunden später, als er unter Flutlicht aufs Spielfeld trabte, fühlte er sich schwindelig und benommen. Er wippte auf den Fußballen, ließ die Arme kreisen und ging in die Hocke, um den Boden zu berühren. Starblind fing einen frischen Ball vom Unparteiischen und machte sich für den ersten Wurf des Abends bereit. »Adam, Adam, Adam«, skandierte Henry. Er tänzelte einen Schritt nach links, dann wieder zurück nach rechts, riss hintereinander die Knie hoch, stieß die Faust in Zero und sprang wieder in die Hocke.

Zu flacher Ball. Starblind nahm eine Auszeit und winkte ihn herüber. Henry sprintete zum Schlaghügel.

»Sind wir hier in der Disko?«, fragte Starblind. »Ich versuche zu werfen.«

»Sorry, sorry, sorry«, sagte Henry. »Sorry.«

Starblind sah ihn an und spuckte ins Gras. »Hyperventilierst du?«

»Eigentlich nicht«, sagte Henry. »Ein bisschen vielleicht.«

Aber als der zweite Schlagmann einen Ball entlang der linken Außenlinie ins Niemandsland lupfte, drehte Henry dem Infield den Rücken zu und startete durch. Er konnte den Ball zwar nicht sehen, erriet aber anhand der Art, wie er vom Schläger abgeprallt war, wo er landen würde. Für niemanden sonst war die Stelle erreichbar, es lag also ganz bei ihm. Er streckte den Handschuh aus, während er bäuchlings über das Gras rutschte, und hob just in dem Moment den Blick, als der Ball hineinplumpste. Selbst die gegnerischen Fans johlten.

Die Shortstop-Position mit Henry zu besetzen, das war, als holte man ein Gemälde hervor, das in der Abstellkammer verstaubte, und hängte es am absolut perfekten Ort auf. Man vergaß sofort, wie der Raum vorher ausgesehen hatte. Bereits im vierten Inning dirigierte er die anderen Feldspieler, winkte sie nach links oder rechts und korrigierte ihre taktischen Fehler. Der Shortstop ist ein Ruhepol im Zentrum der Verteidigung. Er strahlt diese Ruhe aus, und seine Mitspieler reagieren darauf. Den Harpooners unterlief nur ein einziger Fehler, mit Abstand der beste Wert seit Beginn der Reise. Das Gros ihrer kleinen zermürbenden Fehlleistungen verschwand. Zwar verloren sie mit einem Punkt, aber Coach Cox hatte nach dem Spiel ein Grinsen im Gesicht.

Am nächsten Tag, ihrem letzten in Florida, war Henry wieder von Beginn an als Shortstop gesetzt, und Tennant wechselte an die Third Base. Statt verbittert oder sauer zu sein, wirkte er eher erleichtert. Als Henry danebenschlug, wie er es viel zu häufig tat – seine Künste als Batter waren nicht ansatzweise so gut wie seine Verteidigung –, klopfte Tennant ihm auf den Helm und ermutigte ihn dranzubleiben. Sie gewannen die Partie, und obwohl die Florida-Reise bei einer Ausbeute von 2:9 nicht gerade toll gelaufen war, machte sich dennoch ein ungewohnter Optimismus breit.

Nach Ablauf seines ersten Studienjahrs blieb Henry in Westish, um weiter mit Schwartz zu trainieren. Sie trafen sich jeden Morgen um halb sechs. Als Henry alle Treppen des Football-Stadions hinauf- und hinunterlaufen konnte, ohne anzuhalten, kaufte Schwartz ihm eine Trainingsweste mit Gewichten. Als er fünf Meilen hintereinander in je sieben Minuten laufen konnte, ließ Schwartz ihn das Gleiche auf Sand absolvieren. Als er es auf Sand konnte, ließ Schwartz ihn in knietiefem Seewasser laufen. Medizinbälle, Trainingsschlitten, Yoga, Fahrräder, Springseile, Äste, Stahlmülleimer, plyometrische Übungen – kein Hilfsmittel und keine Idee war zu banal oder zu ausgefallen. Um halb acht, die Sonne stand noch niedrig über dem See, duschte Henry und machte sich auf zum Speisesaal, um das Frühstücksgeschirr der Summerschool-Studenten zu spülen. Nach der Schicht lief er zum Westish Field, wo Schwartz bereits Ballmaschine und Videokamera aufgebaut hatte. Henry schlug Ball um Ball, bis er kaum noch die Arme hochbekam. Dann gingen sie ins VAC, um Gewichte zu heben. Und abends spielten sie in einer Sommermannschaft in Appleton.

Henry war noch nie so glücklich gewesen. Das erste Jahr war eine Sache gewesen, ein Abenteuer, ein Hochgefühl, alles in allem ein Erfolg, aber zugleich auch unheimlich anstrengend, ein beständiges Kämpfen, Sich-Anpassen, voller Unruhe. Aber jetzt war er eingerastet. Jeder Tag dieses Sommers hatte dieselbe Struktur, der Wecker klingelte immer zur selben Zeit, Mahlzeiten, Trainingseinheiten, Arbeitsschichten und SuperBoost hatten ihre festen Zeiten, immer und immer wieder, und es war diese Gleichförmigkeit, diese Wiederholung, die dem Leben Sinn verlieh. Er genoss die winzigen Variationen, die schrittweisen Verbesserungen – Thunfisch statt Hühnchen auf dem Salat, zwei zusätzliche Durchgänge beim Bankdrücken. Jede seiner Bewegungen hatte ihren Zweck. Während sie trainierten, rezitierte Schwartz Verse seiner Lieblingsphilosophen, Marc Aurel und Epiktet – sie waren Schwartz’ persönliche Aparicios –, und Henry glaubte zu verstehen. Zu leben heißt zu kämpfen. Ja, das stimmte. Der Schlüssel liegt darin, dich nur mit denjenigen abzugeben, die dich voranbringen, die in dir selbst das Beste zum Vorschein bringen. Abgehakt: Da konnte es nur einen geben. Er war nun auf dem Weg, ein richtiger Baseballspieler zu werden.

Bis zum Saisonbeginn seines zweiten Jahrs hatte Henry fast fünfeinhalb Kilo zugelegt. Er gehörte noch immer zu den Kleineren im Team, aber der Schläger lag anders in seinen Händen, leichter und lebendiger. Seine Effektivitätsrate lag bei 34,8 Prozent, und er wurde als Stammspieler in den Auswahlkader der Upper Midwestern Small Colleges Athletic Conference berufen. In einunddreißig Spielen unterlief ihm nicht ein einziger Fehler. In den Vorlesungen und auf dem Campus war er noch immer schüchtern – er ging nie in Bars und nur selten auf Partys, es gab so viel zu tun –, aber im Kreise seiner Teamkollegen blühte er auf. Er liebte diese Jungs und fühlte sich wohl in ihrer Mitte, und jetzt, wo er unwidersprochen der beste Spieler der Mannschaft war, wurde er zu einer Art Anführer. Er brüllte nicht herum wie Schwartz, aber wenn er etwas sagte, hörten alle zu. Zum ersten Mal seit zehn Jahren schlossen die Harpooners die Saison mit einer 50-Prozent-Quote ab.

In diesem Sommer strengte er sich, vom Erfolg beflügelt, umso mehr an. Statt um halb sechs stand er um fünf auf. Statt fünf Mahlzeiten nahm er sechs zu sich. Sein Geist fühlte sich klar und rein an. Der Ball schoss von seinem Schläger wie eine Rakete. Er begann bestimmte Passagen aus Die Kunst des Feldspiels auf ganz neue Art zu begreifen, von innen heraus, als wäre der große Aparicio weniger ein Orakel als vielmehr ein Ebenbürtiger.

Auch Henry bekam einen Schützling – Izzy Avila, ein Spieler, den Schwartz in seinem alten Viertel im Süden Chicagos rekrutiert hatte. Schwartz liebte Westish, und seinen Herkunftsort liebte und hasste er zugleich und wollte deshalb Leuten helfen, den Weg von dort hierher zu schaffen. Izzy war da der perfekte Kandidat, ein begabter Sportler und passabler Student, der nichtsdestoweniger Hilfe brauchte. Seine beiden älteren Brüder waren ebenfalls begabte Sportler gewesen – jetzt lebte der eine bei der Mutter, während der andere im Gefängnis saß. »Er ist ein bisschen ungehobelt«, sagte Schwartz. »Dieses Jahr kann er auf der Bank verbringen, ein paar Dinge lernen. Dann kann er nächstes Jahr nach Ajays Abgang Second Base spielen. Und wenn du weg bist, ist er der neue Shortstop.«

Izzy fürchtete und respektierte Schwartz, Henry aber vergötterte er. Wenn sie ihre täglichen Aufsetzer trainierten, versuchte er jede seiner Bewegungen zu kopieren. Wenn Henry über die Feinheiten der Positionierung im Innenfeld referierte, verstand ihn Izzy im Gegensatz zum Rest der Harpooners. Verstand er ihn nicht, klemmte er sich dahinter, bis er es tat. Sie übten schnelles Weiterleiten des Balls, das Passen bei Rundowns, das Abtropfenlassen des Balls, angetäuschte Würfe und das Zuspiel bei Pickoffs und Double Plays. Zum Geburtstag kaufte Henry ihm ein Exemplar von Die Kunst des Feldspiels.

Aber Izzy war weder mental noch körperlich bereit für Henrys eigenes Training. Henry trainierte Schnelligkeit mit Starblind, dem Schnellsten im Team. Er trainierte Kraft mit Schwartz, dem Stärksten. Wenn die beiden nach Hause gingen, ging er mit Owen zum Yoga. Danach trainierte er weiter. Im Kopf brachte er Aufsetzer unter Kontrolle, bis er einschlief. Um fünf stand er wieder auf und fing von vorn an.

Zu Saisonbeginn seines dritten Jahrs war er zu etwas geworden, das es am Westish College noch nie zuvor gegeben hatte: einem vielversprechendes Talent. Im zweiten Spiel der Florida-Reise schlug er einen Home Run, im vierten einen weiteren und im sechsten einen dritten. Zu diesem Zeitpunkt drückten sich längst die Scouts mit ihren Ray-Ban-Sonnenbrillen hinter dem Ballfang herum. Außerdem kamen Fans zu den Spielen, örtliche Baseball-Liebhaber, die von dem Jungen mit dem Wunderhandschuh gehört hatten, den man sich unbedingt ansehen sollte. Binnen Wochenfrist standen zehn Siege und zwei Niederlagen zu Buche, lag Henrys Effektivitätsrate bei 51,9 Prozent, und ihm fehlte nur noch ein einziges Spiel, um Aparicio Rodriguez’ Hochschulsportverbands-Rekord über die meisten aufeinanderfolgenden Spiele ohne Fehler einzustellen.