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Henry wischte sich die rechte Hand am Oberschenkel ab, vor und zurück, vor und zurück. Sein Zeigefinger musste von den Nähten gerutscht sein. Das musste es gewesen sein. Er hatte die Nähte falsch gegriffen, und sein Finger war abgerutscht, und dann hatte ein Windstoß für Auftrieb gesorgt und den Ball viel weiter vom Kurs abgebracht, als es der Abrutscher allein vermocht hätte. Abrutscher und Windstoß konnten jeder für sich genommen für eine gewisse Abweichung sorgen, aber die Kombination beider führte möglicherweise zu einem Multiplikatoreffekt, wie wenn man betrunken Hasch rauchte. Henry trank selten Alkohol und rauchte nie Hasch, von dem Multiplikatoreffekt wusste er also nicht aus erster Hand. Aber nur durch etwas in dieser Art ließ sich erklären, was vorgefallen war.

Nämlich, dass Owen tot war. Henry wusste es. Er wischte sich noch immer die Hand an seinem Schenkel ab, vor und zurück über den kühlen, steifen Strick seiner Dresshose. Vor, zurück, vor, zurück. Sein Zeigefinger juckte, gleich über der oberen Knöchelfalte, ein Jucken, das nicht wieder verschwinden wollte. Die Stelle, an der der Ball abgerutscht war.

Owen war tot. Gesagt hatte es noch niemand, aber Henry wusste es. Er brauchte nicht zu den Sanitätern, Schiedsrichtern und Coaches hinüberzugehen, die sich vor der Spielerbank um den Körper drängten. Er konnte einfach hier auf dem Feld bleiben, ganz allein. Er ging in die Hocke und rieb den juckenden Zeigefinger an seinem Oberschenkel. An der rotbraunen Erde des Spielfelds.

Der Wurf hatte Owen mitten ins Gesicht getroffen. Er hatte ein Buch gelesen, das batteriebetriebene Stecklicht am Schirm seiner Kappe, er hatte es nicht kommen sehen. Sein Kopf schnellte zurück und krachte gegen die Betonmauer hinter ihm. Prallte ab wie ein knöcherner Ball. Dann hing er einen eingefrorenen Moment lang in der Luft, wackelig, aber aufrecht, die Augen riesig und weiß. Er schien Henry direkt anzustarren, ihm eine wortlose Frage zu stellen. Dann sackte er auf den Boden vor der Spielerbank, wo Henry ihn nicht sehen konnte.

Schwartzy, der die First-Base-Linie entlanggelaufen war, stürzte in den Unterstand. Coach Cox ebenfalls. Ein großer Mann im Anzug – konnte das President Affenlight sein? – hüpfte über den niedrigen Zaun neben dem Unterstand und bellte gleichzeitig in sein Mobiltelefon. Die beiden Schiedsrichter folgten President Affenlight die Stufen hinunter. Zusammen mit den Sanitätern beugten sich die fünf jetzt dort über Owen. Über Owens Leichnam.

Es war ein so einfacher Spielzug gewesen, ein Abpraller mit Vorwärtsdrall, zwei Schritte links von Henry. Als er den Ball beim Wurf losließ, fühlte er sich wunderbar an, so wie sonst, war von Hunderten anderer Würfe nicht zu unterscheiden, die allesamt makellos gewesen waren.

Das Flutlicht ging an. Henry umschlang sich mit den Armen und erschauderte. Die Anzeigetafel hinter ihm war noch erleuchtet. Neuntes Inning. Einer out. WESTISH 8 GÄ TE 3. Die Spieler beider Mannschaften kauten ihre Sonnenblumenkerne oder Kaugummis und schauten schweigend zu, auch wenn das Schweigen zu nichts gut war. Henry wünschte, sie würden brüllen, ihre Köpfe nach hinten werfen und Zeter und Mordio schreien, bis die Sanitäter Owen auf ihr blassblaues surfboardartiges Ding geschnallt und ihn zum Leichenschauhaus geschafft hatten. Das wäre zumindest irgendetwas gewesen.

Schwartz tauchte aus dem Unterstand auf und kam über das Feld – groß, o-beinig, ohne jede Eile. Er trug noch immer Brustschutz und Schienbeinschoner, die Kappe nach hinten gedreht. Er sah in dieselbe Richtung wie Henry und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Alles in Ordnung?«

Henry biss sich auf die Lippe, sah zu Boden.

»Den Buddha hat’s kalt erwischt.«

»Kalt erwischt?« Eine sonderbare Art, jemandem vom Tod eines Menschen zu berichten, fand er. Sonderbar, aber unmissverständlich. Denn was war kälter als der Tod?

»Kalt erwischt«, bestätigte Schwartz. »Hast ihm ganz schön einen verpasst. Wird ihm wehtun morgen.«

»Morgen?«

»Du weißt schon. Der Tag nach heute.«

Die beiden standen da, Seite an Seite in dem gelblich unwirklichen Licht des Spielfelds, das entfernte Dinge nah erscheinen ließ. Nach einer Weile sagte Schwartz: »Wenigstens sind die beiden Scouts abgedampft, bevor die Chose losging.«

Auch Henry war der Gedanke gekommen, aber er war froh, nicht derjenige zu sein, der ihn äußerte. Die Sanitäter trugen Owen aus dem Unterstand, senkten die zusammenklappbaren Beine der Rolltrage zu einem X ab und schoben ihn zum Rettungswagen. Die Fans und die Spieler aus Milford applaudierten. Wenn solche Dinge im Fernsehen passierten, hob der festgeschnallte Sportler stets die Hand, um dem Publikum zu signalisieren, dass alles wieder in Ordnung kommen würde. Um zu signalisieren, dass der Geist des Menschen trotz aller Härten des Lebens letztlich obsiegte. Owen tat nichts dergleichen. President Affenlight kletterte hinter der Trage in den Rettungswagen, der kreischend davonfuhr.

Schiedsrichter und Coaches kamen an der Home Plate zusammen, berieten sich eine Weile und schüttelten einander dann die Hände. Als er zum Rest der Mannschaft zurückkehrte, winkte Coach Cox Henry und Schwartz zu sich. Schwartz legte Henry eine Hand ins Kreuz und geleitete ihn auf den wirren Haufen zu.

»Wir haben das Spiel abgebrochen.« Coach Cox glättete seinen gestutzten schwarzen Schnäuzer, sprach in gestutzten schwarzen Worten. »Glückwunsch zum Punktsieg. Ich weiß, ihr macht euch Sorgen um Dunne. Wir können aber nicht zu zwanzigst vorm Krankenhaus herumlungern. Also, ab nach Hause, unter die Dusche. Sobald ich was höre, sag ich euch Bescheid. Alles klar?«

Rick O’Shea hob die Hand. »Morgen frei?«

Coach Cox zeigte mit dem Finger auf ihn. »O’Shea. Nimm dich in Acht. Training um drei. Und jetzt lasst uns hier verschwinden, bevor wir uns die Ärsche abfrieren.« Als die Spieler auseinanderliefen, drückte er Henry die Schulter. »Ich fahr ins Krankenhaus. Soll ich dich mitnehmen?«

»Wir fahren mit meinem Wagen«, sagte Schwartz. »Dann können Sie nachher direkt los.«

Coach Cox lebte in Milwaukee, zwei Stunden in Richtung Süden, und pendelte während der Saison. »Verfluchter Dunne«, murmelte er und strich sich den Bart. »Der und seine verfluchten Bücher.«

Henry wartete an der Seite, bibbernd und mit Gänsehaut, während seine Teamkameraden ihre Sachen zusammenpackten. Wortlos klopften sie ihm auf den Rücken und gingen durch den für den Frühlingsanfang typischen Schlamm der pechschwarzen Trainingsplätze auf den Campus zu.

Als sie selbst für Henrys gute Augen nicht mehr zu erkennen waren, holte er tief Luft und ging die Stufen zur Spielerbank hinunter.

Der Unterstand war niedrig, langgestreckt und dunkel. Die Betonmauern strahlten eine beunruhigende Kühle aus, wie der Frachtraum eines Schiffs in der Antarktis. Ein dünner, fransiger Lichtstrahl bohrte sich ein, zwei Meter durch das Grau und erleuchtete ein kleines Stück Wand. Owens Leselampe, noch immer festgeklemmt an seiner Harpooners-Kappe. Henry knipste sie aus und verstaute die Kappe-Lampe-Kombination in Owens Sporttasche. Dann hängte er sich je eine große Tasche über die Schultern – Owens mit der schablonierten Nummer 0 auf der Seite und seine eigene mit der Nummer 3. Auf der Treppe fiel ihm Owens Brille ein. Er ließ die Taschen fallen, kniete sich hin und tastete in der Dunkelheit den klebrigen Boden unter der Bank ab: Kleine, schmuddelige Lachen Tabaksaft. Kaugummis mit Zahnabdrücken. Die Plastikverschlüsse von Gatorade-Flaschen, deren stachelige Unterseiten sich wie winzige Dornenkronen anfühlten. Schnöde alte Dreckklumpen. Owens Brille war ganz bis ans hintere Ende der Bank katapultiert worden. Henry hob sie auf und rieb die Gläser an seinem Trikot sauber. Ein Bügel hing lose an seinem Scharnier.

Als er und Schwartzy im St. Anne’s anlangten, lief President Affenlight im Wartezimmer der Intensivstation auf und ab, den Kopf gesenkt. Er durchmaß den schachbrettgemusterten Fußboden in sechs Schritten, drehte um und lief wieder los. Schwartz räusperte sich, um ihr Eintreten anzukündigen. Affenlights Gesichtsausdruck, abgekämpft und entwaffnet, als er sich allein gewähnt hatte, wurde augenblicklich durch ein präsidiales Lächeln ersetzt. »Michael«, sagte er. »Henry. Schön, euch zu sehen.«

Henry hätte nicht gedacht, dass President Affenlight seinen Namen kannte. Auf den Gehsteigen des kleinen Wohnheimkarrees begegneten sie sich häufig, weil die Phumber Hall direkt neben der Dienstwohnung des Präsidenten lag, aber miteinander gesprochen hatten sie nur einmal, als Henry an seinem allerersten Tag in Westish beim Grillfest der Neuankömmlinge versucht hatte, sich in eine Zeltstange zu verwandeln, während er seinen vierten oder fünften Hot-Dog mümmelte:

»Guert Affenlight.« Der ältere Mann nippte an seinem Drink und streckte ihm eine Hand entgegen.

»Henry Skrimshander.«

»Skrimshander?« Affenlight lächelte. »Für dich gibt es wohl leider nur den siebenhundertsiebenundsiebzigsten Schätzteil eines Schatzes!« Er trug eine silberne Krawatte, die zu seinem Haar passte. Seine Ärmel waren an den Unterarmen halb aufgerollt – die Art und Weise, wie sie absolut knitterfrei von den Schultern fielen, die Bügelfalten frisch und makellos, zeugten von einem Mann, der mit seiner Umgebung im Reinen war. Als Sophie ihn gebeten hatte, Westish zu beschreiben, war das Erste, was ihm in den Sinn kam, Affenlights perfekt aufgerollte Ärmel gewesen.

»Gibt es Neuigkeiten?«, fragte Schwartz.

»Im Krankenwagen ist er für einen Moment aufgewacht«, sagte Affenlight. »Er war völlig bewusstlos, und dann klappten plötzlich seine Augen auf. Er sagte April

»April?«

»April.«

»April«, wiederholte Henry.

»Der grausamste Monat«, sagte Schwartz. »Besonders in Wisconsin.«

»April.« Henry zergliederte das Wort in Klangpartikel, die so klein waren, dass sie vollkommen bedeutungslos wurden, so als habe er sich in jene weiten Zwischenräume begeben, die die festen Bestandteile eines Moleküls voneinander teilen. »Fängt morgen an.«

Coach Cox betrat das Wartezimmer. Wie Henry und Schwartz hatte auch er seine Harpooners-Nadelstreifen noch nicht ausgezogen. Er trug in jeder Hand zwei prall gefüllte weiße Tüten, auf denen die goldenen Bögen prangten. »Irgendwas Neues?«

»Er ist gerade bei der Computertomographie«, ließ Affenlight ihn wissen. »Sie wollen sichergehen, dass er keine Gehirnblutung hat.«

»Der verdammte Dunne.« Coach Cox schüttelte den Kopf. »Wenn ihm irgendwas zustößt, bring ich ihn um.« Er knallte die Tüten auf den runden Tisch in Holzoptik, der in der Ecke stand. »Ich hab Abendessen besorgt.«

Schwartz und Coach Cox machten es sich am Tisch bequem und packten ihre Big Macs aus. Henry liebte Fastfood, aber heute Abend wurde ihm flau von dem Geruch.

Er ließ sich auf einem der steifen Sofas nieder und schaute zu dem Fernseher, der hoch oben an der Wand hing. Der Bildschirm zeigte eine Statue des gekreuzigten Jesus, in Nahaufnahme und von einem breiten Streifen Licht beleuchtet. Das Kinn ruhte auf der knochigen, von einer Toga bedeckten Schulter. ORGELMUSIK, lautete die Einblendung. Schnitt auf den Blick aus einem Doppeldecker hinunter auf eine Äquator-Insel: saphirblaues Wasser, rosa Strand, feuerwerkartige Palmkronen. SÜDSEERHYTHMEN.

»Hier«, sagte Coach Cox. »Damit du bei Kräften bleibst.«

Henry hielt die Schachtel mit den Pommes einfach nur in der Hand. Das farbige Licht des Fernsehers und die schnellen, ruckartigen Schnitte halfen seinem Magen nicht gerade. Seit Oktober, dem Ende der World Series, hatte er keinen Fernseher mehr gesehen.

President Affenlight stellte das Auf- und Abgehen ein und setzte sich zu ihm auf die Couch. Henry schob den wabbeligen roten Karton in seine Richtung. Mit einem dankenden Nicken zog Affenlight ein Kartoffelstäbchen heraus. Die Geste erinnerte ihn an seine Tage als Raucher, die – mehr oder weniger – mit seiner Rückkehr nach Westish zu Ende gegangen waren. Bevor er die Stelle angetreten hatte, war er auf Wunsch seiner neuen Versicherung bei einer Kontrolluntersuchung gewesen, seiner ersten seit fünfzehn Jahren, genau in diesem Krankenhaus. Er hatte stillschweigendes Lob und Anerkennung vom Doktor erwartet; noch vor kurzem hatte er bei einem Trainingsrennen als Gast in einem Harvard-Achter mitgerudert und das Team kaum einen Schlag gekostet. Was er stattdessen bekam, war ein vehementer, statistiklastiger Vortrag. Was seine Familiengeschichte betraf, hätte es nicht mehr Alarmsignale geben können – sein Vater hatte zwei Herzinfarkte erlitten, sein älterer Bruder George war mit dreiundsechzig bei einem sogenannten kardiologischen Akutereignis gestorben. Mit einem Cholesterinspiegel von zweihundert lag er mitten in der Gefahrenzone. Dass er seit Jahren drei Päckchen pro Woche rauchte, war ein Selbstmordbekenntnis. Der Doktor, der den Pathos all dessen gezielt hochgespielt hatte, um Affenlight ein Versprechen zu entlocken, nicht nur mit dem Rauchen aufzuhören, sondern auch den Konsum von rotem Fleisch und Alkohol zu reduzieren, entließ ihn mit Rezepten für Lipitor, TriCor und Toprol-XL. Verurteilt zu einem Leben voller Pillen. Zusätzlich sollte er täglich eine Baby-Aspirin nehmen.

Das Schlimmste am Verzicht war nicht der Verlust der Laster an sich, sondern die Tatsache, dass irgendein dahergelaufener Jungspund von Arzt auf dem Verzicht bestanden hatte. Baby-Aspirin! Offenkundig wurde man als Mann über fünfzig so behandelt, selbst wenn man kerngesund war. Georges Tod hatte Affenlight traurig gemacht, ihm aber keine große Angst eingejagt. George war achtzehn Jahre älter als er, und ihre Beziehung war immer schon distanziert und eher der zwischen Onkel und Neffe ähnlich gewesen. Aber dass sie die gleichen genetischen Voraussetzungen mitbrachten, traf natürlich zu, und nach einer Phase gewissermaßen jugendlichen Widerstands beschloss Affenlight, sich den Anweisungen des Arztes zu fügen, beziehungsweise weitestgehend zu fügen. Fünf Tage die Woche nahm er seine Pillen und sein Baby-Aspirin, im Sommer mit längeren Unterbrechungen, als sei das ein Job, bei dem er Auszeiten brauchte. Das Rauchen gab er auf, bis auf eine einzelne heimliche Zigarette hier und da, und er überlegte es sich gut, bevor er ein Steak oder einen zweiten Scotch bestellte, obwohl speziell beim Scotch reifliches Überlegen und Ablehnen zwei Paar Schuhe waren. Ob er sich wegen alldem nun besser fühlte, konnte er nicht sagen, aber gut fühlte er sich jedenfalls.

Im Fernsehen kamen jetzt junge Männer in kurzärmeligen schwarzen Hemden und Pastorenkragen die Stufen eines Turboprop-Flugzeugs hinunter und blinzelten ins grelle Sonnenlicht. HERZLICH WILLKOMMEN ZU GLAUBENSPRÜFUNG, sagte der Moderator der Show, die Hände kontemplativ in den Taschen seiner Dreiviertelhose vergraben. bEVOR DIESE ZWÖLF MÄNNER DIE PRIESTERWEIHE EMPFANGEN, MÜSSEN SIE SICH ETWAS VIEL VERLOCKENDEREM STELLEN ALS VIERZIG TAGEN IN DER WÜSTE. Schnitt auf farblose Jahrbuchfotos von Mädchen in Schottenröcken und mit Zahnspangen. DIESE JUNGEN DAMEN HABEN ALLE EINE KATHOLISCHE SCHULE BESUCHT. ALS EINE WICHTIGE EIGENSCHAFT IHRES ZUKÜNFTIGEN MANNES GEBEN SIE ALLE »GLÄUBIG« AN. ACH JA, UND EINS NOCH – farbtriefende, blitzlichtartig hintereinandergeschnittene Aufnahmen von gebräunten und mit Schweißperlen bedeckten Bäuchen, Ausschnitten und Schenkeln – SIE SIND ALLE RICHTIG, RICHTIG SCHARF.

Sind sie das?, fragte sich Affenlight. Die Mädchen/Frauen flitzten in unterschiedlichen Stadien prophylaktischer Entblößung um ein Strandhaus herum, schlängelten sich in Sommerkleider hinein und schüttelten ihr Haar. Er nahm sich noch eine Fritte. Sie besaßen eine Fassade des Scharfseins, das sicher, das Schimmern sexueller Gesundheit. Man konnte sie blitzsauber, chromatisch, wohlgeformt, sonnenverwöhnt und, ja, selbst scharf nennen – aber nie reizend, nicht auf die Art, auf die Owen reizend war.

Ein babygesichtiger Novize saß im Interview-Stuhl und blätterte in einer abgegriffenen Bibel. Seine traurigen hispanischen Augen fanden die Kamera. RODERIGO: WARUM? ICH GLAUBE, GOTT HAT MICH HIERHERGESCHICKT. DASS ER MEINEN GLAUBEN PRÜFEN WILL, SO WIE ER SEINEN SOHN GEPRÜFT HAT. Schnitt auf einen eisblauen, nierenförmigen Swimmingpool. Roderigo, der mit drei Frauen im Wasser Volleyball spielt: pfirsichfarbener Bikini, gestreifter Bikini, cremefarbener Bikini. Das goldene Kruzifix an Roderigos Halskette schwingt ihm über die Schulter, als er zum Schmetterball hochsteigt.

»Fernsehen ist eigenartig«, sagte Henry.

Affenlight zog noch eine Fritte heraus, während er sich fragte, was Henry wohl sonst noch alles eigenartig fand. War es eigenartig, wenn ein College-Präsident sich derart um einen seiner Studenten sorgte? Wenn er auf ein Baseballfeld rannte? Hinten in einem Rettungswagen mitfuhr? Schlechtes Fernsehen schaute, während er am laufenden Band Pommes frites aß und auf schlechte Nachrichten wartete?

»Wie lange kennst du Owen schon?«, fragte er.

Henry starrte hinauf zum Bildschirm. »Wir sind seit dem ersten Jahr Zimmergenossen.«

Zimmergenossen! Natürlich, jetzt erinnerte sich Affenlight: wie er vor drei Jahren von Zulassungsstelle und Sportabteilung um Mithilfe gebeten worden war, Owen davon zu überzeugen, einen Mitbewohner aufzunehmen. Der Mitbewohner war ein Nachzügler und dem Vernehmen nach eine Art Baseball-Wunderkind. Affenlight hatte die Augen verdreht, sich aber gefügt. Er mochte keine Extrawürste für Sportler und verstand nicht, wie ein einzelner Spieler einer derart stümperhaften Baseballabteilung helfen können sollte. Und aus dem Wunderkind war Henry geworden, der jetzt von den St. Louis Cardinals hofiert wurde.

Von Owen wusste Affenlight damals lediglich, weil er dem Auswahlkomitee des Maria-Westish-Förderpreises vorgesessen hatte. Er hatte die Eleganz des Essays des jungen Mannes bewundert, die Bandbreite seiner Lektüre. Er hatte deshalb seine Bewerbung favorisiert, obwohl andere Kandidaten bessere Testergebnisse und Notendurchschnitte hatten. Aber das war reines Tagesgeschäft gewesen oder ihm zumindest damals so vorgekommen. Er hatte das Anbändeln mit Studenten immer vermieden, und mit einem männlichen Studenten anzubändeln, war ihm niemals auch nur in den Sinn gekommen.

Dann, vor zwei Monaten, hatte die Umweltgruppe um ein Treffen gebeten. Ein Dutzend Studenten quetschten sich in Affenlights Büro. Sie hielten ihm einen Vortrag über die schlimmen Folgen der Erderwärmung. Sie präsentierten ihm eine zehnseitige Liste mit Colleges, die sich verpflichtet hatten, bis zum Jahr 2020 CO2-neutral zu wirtschaften. Sie verlangten Energiesparlampen, das Nachrüsten der technischen Anlagen und den Bau eines mit Holzpellets betriebenen Biomassekraftwerks hinter den Trainingsplätzen. »Ihr kommt zu spät auf mich zu«, sagte er, als sie fertig waren. »Wo wart ihr, als wir noch Geld hatten?« Drei Viertel der Universitäten würden ihre Versprechen nicht halten, das übrige Viertel war stinkreich. Außerdem, ein Dutzend Studenten – war das alles, was sie zusammenbrachten? Wo waren die Petitionen, die Demos, die Wut? Ein Biomassekraftwerk für ein Dutzend Studenten? Die Mitglieder des Hochschulrats würden nur müde lächeln.

Während er all das gedacht hatte, war er von Owens Erscheinung in Bann gezogen gewesen, der an der Tür lehnte, die Hände in den Taschen seiner weiten Jogginghose verbringen, während seine Mitstreiter gestikulierten und herumschrien. Wenn er sprach, war seine Stimme sanft und friedlich, aber die anderen verstummten, warteten selbst dann darauf; selbst in den schrillsten Momenten warteten sie darauf, dass er intervenierte.

Später an diesem Abend, während er noch immer über Owen nachdachte, darüber nachdachte, warum er über Owen nachdachte, bekam er eine E-Mail:

Lieber Guert,

haben Sie herzlichen Dank für das heutige Treffen mit uns. Ich fand es konstruktiv, aber zu kakophon, um maximal produktiv zu sein. Ich möchte Ihren vollen Terminkalender nicht über Gebühr strapazieren, aber vielleicht könnten wir ein Treffen im kleineren Kreis vereinbaren, um zu determinierenen, welche Projekte finanziell überhaupt denkbar wären?

Ich grüße Sie freundlich,
O.

Normalerweise wäre Affenlight verärgert gewesen, wenn ein Student ihn mit Lieber Guert angeredet und mit einem Initial unterzeichnet hätte. In diesem Fall, warum auch immer, hatte es allerdings eher etwas Intimes als etwas Anmaßendes an sich. Von da an hatten Owen und er sich einige Male getroffen, einen Plan entworfen und einen Plan, um den Plan umzusetzen. Owens Gruppe würde bei den Studenten Unterschriften sammeln, Affenlight den Lehrkörper hinter sich bringen und den Hochschulrat bearbeiten.

Hatte Owen sein Starren bemerkt und verstanden, was es zu bedeuten hatte? Hatte er deshalb die E-Mail geschrieben? Den Augen hinter der Brille mit dem Drahtgestell schien nichts zu entgehen. Bei den darauffolgenden Treffen war Owen selbstsicher, geduldig und manchmal spöttisch, Affenlight hingegen verzückt und erpicht darauf, zu gefallen. Nach beinahe dreißig Jahren der Lehrer-Schüler-Interaktion war er zum ersten Mal nicht das Ziel einer Schwärmerei, sondern sie ging von ihm aus. Und ein paar Wochen später traf das Wort Schwärmerei es schon nicht mehr.

Affenlight angelte eine weitere Fritte aus der Schachtel. Henrys Augen waren zugekniffen – er schlief nicht, sondern schien zusammenzuzucken, womöglich in Erinnerung an seinen Fehlwurf. Sein Gesicht war leichenblass und noch immer vom Staub des Innenfelds bedeckt. Er war in voller Montur, nur die Kappe fehlte. Sein Handschuh lag auf einem seiner Knie. »Das wird schon wieder«, sagte Affenlight. »Er wird schon wieder werden.«

Henry nickte ohne Überzeugung.

»Er ist ein toller junger Mann«, sagte Affenlight.

Henrys Kinn zuckte, als finge er gleich an zu weinen. »Schwartzy«, sagte er, »hast du einen Ball dabei?«

Schwartz hatte das Abendessen beendet, seinen Laptop hervorgezogen und zu tippen begonnen, einen Stapel Karteikärtchen neben dem Ellbogen. Jetzt griff er in seinen Rucksack und warf Henry einen Baseball zu. Henry drehte den Ball in seiner rechten Hand und knallte ihn in den Handschuh. Die Geste schien ihn zum Sprechen zu befähigen. »Ich sehe es immer wieder vor mir«, sagte er kläglich. »So einen Wurf habe ich noch nie gemacht. So einen schlechten Wurf. Ich weiß nicht, wie das passieren konnte.«

Schwartz hörte auf zu tippen, hob den Blick, das Gesicht in das kühle Unterwasserglimmen seines Bildschirm getaucht. »Nicht deine Schuld, Skrimmer.«

»Ich weiß.«

»Dem Buddha wird’s bald besser gehen«, sagte Schwartz. »Es geht ihm sicher jetzt schon besser.«

Henry nickte ohne Überzeugung.

»Dieser verfluchte Dunne.« Coach Cox fixierte weiterhin die katholischen Bikini-Mädchen im Fernseher, die den Glauben des Novizen mittels einer Rückenmassagen auf die Probe stellten. »Ich werd ihm den mickrigen Hals umdrehen.«

Eine Tür öffnete sich. »Guert Affenlight?« Eine junge Frau in einem blassblauen Kittel las den Namen von ihrem Klemmbrett ab.

»Hier.« Affenlight stand auf und richtete sich die Harpooners-Krawatte.

»Ich bin Dr. Collins. Sind Sie ein Angehöriger von Owen Dunne?«

»Äh, nein«, sagte Affenlight. »Seine Familie ist eigentlich aus, äh …«

»San José«, sagte Henry.

»Richtig«, sagte Affenlight schnell. »San José.« Als die Ärztin seinen Namen gesagt hatte, hatte er einen so idiotischen Stolz empfunden, als sei er die Person, die Owen am nächsten stand. Sie wandte sich an Henry:

»Alles in allem geht es Ihrem Freund nicht allzu schlecht. Die Computertomographie hat keine Hinweise auf eine epidurale Blutung geliefert, worauf in diesen Fällen unser Hauptaugenmerk liegt. Er hat eine schwere Gehirnerschütterung und einen gebrochenen Arcus zygomaticus – das ist ein Wangenknochen. Seine Körperfunktionen scheinen normal zu sein. Der Knochen erfordert einen rekonstruktiven chirurgischen Eingriff, den wir meiner Ansicht nach gleich vornehmen sollten, solange wir ihn hier haben.« Dr. Collins, die abgesehen von den violetten Erschöpfungsringen unter den Augen nicht älter als fünfundzwanzig aussah, hielt inne, um an dem V-Ausschnitt ihres Kittels zu zupfen, über dem die Haut einen irischen Rosaton hatte und voller Sommersprossen war. Affenlight sah, oder bildete sich ein zu sehen, wie sie ihren müden Blick interessiert auf Henry richtete.

»Kann ich ihn sehen?«, fragte Henry.

Dr. Collins schüttelte ihren Kopf. »Die Gehirnerschütterung ist ziemlich massiv, und wir werden ihn heute Nacht auf der Intensivstation behalten. Offensichtlich leidet er an einem vorübergehenden Gedächtnisverlust, der sich unserer Meinung nach aber legen wird. Morgen können Sie zu ihm, solange Sie wollen.« Sie tätschelte Henry tröstend den Arm.

Affenlights Mobiltelefon zitterte an seinem Schenkel. Er kannte die Nummer mit 312-Vorwahl nicht, wusste aber, wer es war. Er machte eine entschuldigende Geste in Richtung der Ärztin, die von ihr unbemerkt blieb, und ging in den Eingangsbereich. »Pella. Kindchen. Wo bist du?«

»Chicago. Ich hab meinen Anschlussflug erwischt. Wir steigen gleich ein, ich müsste also pünktlich ankommen.« Durch das Rauschen des Kartentelefons klang ihre Stimme dünn und krächzend. »Ich dachte, wir könnten vielleicht zu Bau Kitchen gehen.«

Das war Pellas Lieblingsrestaurant in Milwaukee, wo sie auch ihren sechzehnten Geburtstag gefeiert hatten. Wäre Affenlight bereits die I-43 Richtung Flughafen entlanggezischt, eine italienische Oper im CD-Spieler des Audi, hätte ihm der Vorschlag, der wie eine Friedensgeste wirkte, Auftrieb gegeben. Stattdessen kam er jetzt auf jeden Fall zu spät und konnte nicht anders, als sich zu fragen, ob Pella seine Nachlässigkeit oder das, was wie Nachlässigkeit erscheinen musste, bereits gewittert und sich entschieden hatte, ihn mit besorgten Nachfragen zu strafen. »Das ist eine tolle Idee«, sagte er. »Aber ich werde mich leider etwas verspäten.«

»Oh.«

Enttäuschung, Brüchigkeit, die Phrase weitermachen, wo wir aufgehört haben – all das und vieles mehr strömte durch die Stille der Leitung. »Ich bin im Krankenhaus«, sagte Affenlight in dem Versuch, es abzuwehren. »Am College hat es einen Unfall gegeben. Ich komme, so schnell ich kann.«

»Klar«, sagte Pella. »Wann es dir passt.«

Als er nach draußen hetzte, hielt Affenlight noch kurz am Krankenhauskiosk, um Zigaretten zu kaufen – Parliaments, seine alten Wegbegleiter. Ein Krankenhaus, das Zigaretten verkaufte: Im Kopf drehte und wendete er den Gedanken, fragte sich, ob er Verdammnis oder Hoffnung verhieß, während er der grauhaarigen Frau hinter dem Tresen einen Zwanziger hinwarf. Er stopfte das Päckchen in die Tasche und versuchte, ohne sein Wechselgeld zu gehen, aber sie zitierte ihn zurück und bestand darauf, ihm mit quälender Langsamkeit, die womöglich auch Protest bedeutete, einen Zehner, fünf Einer und eine Reihe von Münzen herauszugeben. Coach Cox fuhr ihn zu seinem Auto, und dann donnerte er die leere Interstate hinunter, Le Nozze di Figaro voll aufgedreht, die Fenster offen.