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Affenlight schlüpfte aus dem Büro, eine schmale Whitman-Ausgabe in der Innentasche seines Jacketts verborgen wie eine Waffe. Er eilte zum Auto, lief dicht an die bleichen Steinwände der Scull Hall gedrückt, damit ihn niemand von den oberen Fenstern aus sehen konnte. Die Scull Hall sollte, obwohl sie in Größe und Form den anderen Gebäuden am Kleinen Hof entsprach, etwas distinguierter aussehen, da sie Büro und Dienstwohnung des Präsidenten beherbergte, weshalb auch der schmale Streifen Erde zwischen Fundament und Gehweg bereits umgegraben, gedüngt und mit Blumenzwiebeln bepflanzt worden war. Der feuchte, mit winzigen weißen Nährstoffkügelchen gesprenkelte Boden sandte einen angenehm schweren schwarzen Geruch aus. Pella hatte er gesagt, er müsse bis vier Uhr arbeiten, danach würden sie nach Door County fahren, um ihr neue Kleidung zu besorgen.
Er fuhr schnell und parkte den Audi. Die Glastüren des St. Anne teilten sich und gewährten ihm Eintritt. Affenlight ließ seine Zigarettenkippe in einen Mülleimer fallen und dachte an Pellas Mutter, die ihr ganzes Leben – zumindest solange er sie gekannt hatte – unter Kranken und Sterbenden verbracht hatte, selbst aber niemals auch nur eine Sekunde unter einer körperlichen oder physischen Schwäche zu leiden schien. Vielleicht war sie mit einer Pferdenatur gesegnet, vielleicht aber konnte sie es sich auch einfach nicht leisten, sich zu beschweren oder Schmerzen zu empfinden, wo sie sich doch um derart viele zerbrechliche Körper zu kümmern hatte. Wenn Affenlight sich eine Grippe einfing oder in einer seiner trüben Launen versank, runzelte sie bloß die Stirn und ignorierte ihn. Er hatte das als mangelndes Mitgefühl oder gar eine Form von Dummheit abgetan, aber vielleicht war es eher Weisheit gewesen. Hatte er gelernt – würde er je lernen –, jene Gedanken, die er nicht brauchte, auszuschalten? Wie viel Mitgefühl die Liebe aushielt, blieb eine offene Frage.
Als er ins Zimmer kam, saß Owen aufrecht im Bett, und eine unerschütterlich wirkende Afroamerikanerin in einem maßgeschneiderten Kostüm saß in seinem – Affenlights – Sessel, wobei sie ihn näher ans Bett gezogen hatte, als er es sich jemals getraut hätte. »President Affenlight«, sagte Owen, seine Stimme hatte sich seit gestern gebessert. »Was für eine schöne Überraschung.«
Die Frau erhob sich und streckte die Hand aus. »Genevieve Wister.« Tonfall und Lächeln suggerierten eine Art räumlichen Besitzanspruch. Eine Ärztin vielleicht, oder eine Physiotherapeutin – möglicherweise verzichteten sie an den Wochenenden auf ihre Dienstkleidung. Ihr Rock endete knapp oberhalb des Knies. Ihre Absätze, obwohl niedrig, machten es geradezu unmöglich, die langen, geschmeidigen Muskeln an ihren Waden zu übersehen.
»Guert Affenlight.«
Sie hielt seine Hand einige Augenblicke länger fest, als er erwartet hatte. »Ein persönlicher Besuch des Universitätspräsidenten«, sagte sie, wobei ihre Stimme einen schwer zu bestimmenden Ton zwischen Ironie und Bewunderung traf, »nach einem Schlag vor den Kopf. Ich habe immer gewusst, dass Owen hier in guten Händen ist, aber das übertrifft alles.«
Immer gewusst? Affenlight sah von Genevieve Wister zu Owen Dunne und zurück und wieder hin. Owen nickte, als reagierte er auf eine hörbare Frage. »Meine Mutter.«
»Ah.« Affenlight kam in den Sinn, dass, falls in diesem Moment jemand eine Pistole auf seine Brust richtete, der Whitman die Kugel abfangen würde. Das kleine grün gebundene Buch ruhte als eine unentdeckte, lächerliche Geste tiefer Hingabe an seinem Herzen. Was hatte er sich bloß dabei gedacht, einen Band mit Gedichten hierherzubringen, Gedichten über kräftige Burschen, biegsame Burschen, Burschen, die sich schräg auf deine Hüften legten? Das war nicht bloß lächerlich, das war kriminell.
Doch diesen Gedanken zum Trotz ging seine Laune in den Keller, da er um die Gelegenheit gebracht worden war, Owen etwas vorzulesen. Den ganzen Morgen hatte er davon geträumt. Aber doch nicht Whitman! Was hatte ihn da bloß geritten? Laut zu lesen lag ohnehin bereits an der Grenze zur Intimität, eine Stimme, zwei Ohrenpaare, wohlgeformte Sätze – man musste es ja nicht gleich übertreiben. Er hätte Tocqueville mitbringen sollen. Oder William James. Oder Platon. Nein, nicht Platon.
Er ließ Genevieve Wisters Hand los und schenkte ihr das charmanteste, mütterbezirzendste Lächeln, das er zustande brachte. Trotzdem war er noch immer nervös, als hätte er es mit einer älteren Autoritätsperson zu tun und nicht mit jemandem, der zwölf oder fünfzehn Jahre jünger war als er. »Der Nachname hat mich irritiert«, sagte er entschuldigend.
»Als ich mich von Owens Vater habe scheiden lassen, fand ich, dass ›Owen Wister‹ sich nicht so gut anhörte.«
»Ah«, sagte Affenlight wiederum dümmlich. Was für eine eigenartige Sache die Liebe doch war! Man begegnete einem quälend schönen Geschöpf, das einem viel zu wohlgeformt erschien, um Samen- und Eizelle und diesem ganzen unvollkommenen und störanfälligen Prozess entsprungen sein zu können – und dann lernte man die Mutter kennen.
»Gute Nachrichten«, sagte Owen. »Ich werde heute entlassen.«
»Dann müssen Sie nicht mehr so weit fahren, um ihn zu besuchen, President Affenlight. «
»Großartig«, sagte Affenlight. »Das ist großartig.« Je länger er hinschaute, umso mehr gewöhnte er sich an die Ähnlichkeiten zwischen Mutter und Sohn. Anfangs hatte ihn die unterschiedliche Hautfarbe irritiert. Owens Hautfarbe kam – abgesehen von seinen zweifarbigen, metallisch-leuchtenden Hämatomen – der Affenlights ziemlich nah, hatte allerdings einen eher aschgrauen Ton, wo seine ins Rötliche spielte. Genevieve war von der extrem dunklen Farbe einer Westafrikanerin. Owen ist schwarz, dachte Affenlight. Gewusst hatte er es natürlich, aber als er nun die Mutter sah, wurde es offenkundig.
Genevieves Gesichtszüge waren schärfer, energischer als die von Owen, doch ihre dunklen Augen waren nahezu identisch; die eigentlichen Übereinstimmungen aber fanden sich im Körperbau: die gleichen schmalen, sanft abfallenden Schultern, dieselben zarten Gliedmaßen und langen, anmutigen Finger. Die Art und Weise, wie sie sich auf die Bettkante setzte und Affenlight mit einer kleinen, lebhaften Bewegung ihrer Handfläche den leeren Sessel anbot, mochte sie während zahlloser Stunden der Beobachtung von ihrem Sohn abgeschaut haben. Natürlich konnte es auch andersherum gewesen sein.
»Ich muss leider los«, sagte Affenlight. »Ich wollte nur sichergehen, dass man sich gut um Owen kümmert. Das ist« – er warf Genevieve einen beflissenen Blick zu – »ohne jeden Zweifel der Fall.«
»Es ist sehr freundlich von Ihnen, sich derart zu engagieren«, sagte Genevieve.
»Mit Vergnügen.« Affenlight holte sein Taschentuch hervor und wischte sich über die Stirn. Er hatte sich in einer zwischenmenschlichen Situation nicht mehr derart unbeholfen gefühlt seit – seit gestern Abend in Owens Zimmer, mit Henry. Aber das vorletzte Mal lag lange zurück.
»Ich möchte mich gern erkenntlich zeigen. Owen und ich würden uns sehr freuen, wenn Sie später mit uns zu Abend essen könnten.«
»Oh, das ist völlig ausgeschlossen«, sagte Affenlight schnell, was aber unhöflich wirken mochte. »Das heißt, ich würde sehr gern, und Ihr Angebot ist ungemein freundlich, aber leider ist – na ja, was heißt, leider – gerade meine Tochter aus San Francisco zu Besuch gekommen. Im Grunde« – er sah auf seine Uhr – »bin ich jetzt schon viel zu spät dr-«
»Ihre Tochter?«, sagte Genevieve. »Das ist doch perfekt! Ich dachte schon, es ginge um einen geschäftlichen Termin. Wir können zu viert essen. Ich zahle.«
Warum, warum nur hatte er keinen Geschäftstermin angeführt? Er warf Owen einen stummen, hilfesuchenden Blick zu, aber Owen sah, wie er da gestützt von seinen Kissen lag, so amüsiert und unbeteiligt aus, als schaute er sich einen Film an. »Meine Mutter ist nicht jeden Tag in der Stadt«, gab er zu bedenken.
Genevieve nickte. »Ich bin allergisch gegen den Mittleren Westen.«
»Genau wie meine Tochter«, gestand Affenlight, und etwas in seinem Tonfall – er hörte es im selben Moment wie Owen und Genevieve – verriet, dass er damit die Einladung annahm. »In Campusnähe gibt es einen Franzosen«, sagte er. »Maison Robert. Etwas heruntergekommen, aber das Essen ist sehr gut.«
»Klingt perfekt«, sagte Genevieve.
Als Affenlight sich zentimeterweise auf die Tür zubewegte, stand sie auf und öffnete die Arme zu einer Umarmung. Affenlight versuchte den Körperkontakt so gering wie möglich zu halten und eher eine Art Luftdrücken daraus zu machen, aber sie umschlang ihn wie einen alten Bekannten. Ihre Oberkörper keilten den Whitman ein. »Was ist das denn?«, frage Genevieve, ließ ihn los und tippte durch den Stoff von Affenlights Jackett gegen den Buchdeckel.
»Gar nichts«, sagte Affenlight hastig. »Bloß etwas Lektüre.«
»Darf ich?« Genevieve gehörte zweifellos nicht zu denjenigen, die sich mit zwischenmenschlichem Körperkontakt schwertaten. Bevor Affenlight sich entwinden konnte, griff sie hinter seinen Jackenaufschlag und zog das Buch hervor. »Owen, sieh nur – Walt Whitman. Dein Lieblingsautor.«
»Whitman ist nicht mein Lieblingsautor. Viel zu schwul.«
»Ach, hör schon auf«, sagte Genevieve, begleitet von einem Abwinken des Armes, der das Buch hielt. Affenlight überlegte, es sich zurückzuholen, aber dafür war es zu spät. »Du hast Whitman doch immer geliebt.«
»Ja, klar, als ich zwölf war.« Owen warf Affenlight einen Seitenblick zu. »Frischgebackene Schwule stehen auf Whitman. Er ist so eine Art Einstiegsdroge.«
»Ich bin mir sicher, er gefällt allen möglichen Leuten«, sagte Genevieve. »Er ist der Dichter der Demokratie.«
Owens unverletzter Mundwinkel verzog sich zu einem Lächeln. »Nennt man das neuerdings so?«
Affenlight brauchte dringender eine Zigarette als jemals zu den Zeiten, in denen er eine halbe Schachtel täglich geraucht hatte. Seit wann war das Rauchen in Krankenhäusern nun schon verboten? Und was würde passieren, wenn man es trotzdem tat? Er wollte, dass Owen ihn durchschaute, dann aber auch wieder nicht – wie bei dem schmutzigen Bild auf Owens Laptop ließ die Möglichkeit, durchschaut zu werden, alles realer, spannender, furchterregender erscheinen –, aber was er ganz sicher nicht wollte, war, dass es in Anwesenheit von Owens Mutter geschah. Affenlight war froh, dass Genevieve das mit dem Dichter der Demokratie gesagt hatte. Sonst hätte er es gesagt, oder etwas in der Art, und wäre sich wie ein Idiot vorgekommen.
»Die ganze Highschool hindurch hast du Whitman geliebt«, sagte Genevieve. »Wie hieß noch das mit dem Baum? Der Eiche?« Sie schlug das Buch auf und begann das Inhaltsverzeichnis zu durchsuchen.
»Steck es bitte weg«, sagte Owen, als wäre es eine schmutzige Windel. Er hustete und begann, indem er die blutverkrustete, medikamentös gelähmte Seite so weit wie möglich schonte, bedächtig das Gedicht zu deklamieren: »Ich sah in Louisiana eine Lebenseiche wachsen, / Ganz allein stand sie, und das Moos hing von den Zweigen …«
Beim Klang von Owens Stimme, die die vertrauten Worte rezitierte, wurde Affenlights Herz ganz ruhig. Man verbrachte so viel Lebenszeit mit Lesen – da war es doch sinnvoll, es nicht allein zu tun. Und gerade dieses Gedicht hatte er schon immer geliebt, am Erzähler just das bewundert, was der Erzähler an der Eiche bewunderte – tiefste Unabhängigkeit –, auch wenn er durchgängig auf der Abhängigkeit von seinen Freunden beharrte.
Nach der Hälfte brach Owen ab. »Puh«, sagte er. »Mein Schädel.«
Affenlight konnte nicht anders. Er räusperte sich und setzte dort an, wo Owen aufgehört hatte, stolperte bloß leicht bei den Worten »männliche Liebe«. »Dennoch«, schloss er, wobei er sich nicht daran hindern konnte, deklamatorisch in einen etwas höheren Gang zu schalten, »und obwohl die Lebenseiche dort in Louisiana einsam auf weiter Ebene schimmert / Und ihr Leben lang freudige Blätter hervorbringt ohne Freund, ohne nahen Geliebten, / Weiß ich sehr wohl, ich könnte es nicht.«
»Bravo!«, rief Genevieve. Sie reichte Affenlight das Buch.
Affenlight lächelte betreten. Er fühlte sich zugleich gut und enttarnt. Kurz dachte er über die verschiedenen Bedeutungen des Ausdrucks rot werden nach: Die Wangen wurden rot, wenn man glücklich und beschwingt war, man wurde rot vor Wut, wenn man beleidigt wurde, und wenn die Ampel schon rot geworden war und man noch auf der Kreuzung stand, wurde man überfahren.
Er schaute zu Owen, um zu sehen, wie ihm seine Rezitation gefallen hatte, aber Owen hatte die Augen geschlossen, nicht weil er schläfrig war, sondern eher wie Sherlock Holmes in der Oper, die Ohren gespitzt und mit einem sanften Lächeln im Gesicht.
»Nun denn«, sagte Affenlight. »Ich glaube, ich gehe jetzt besser. Pella und ich sehen Sie dann heute Abend.«
»Was für ein goldiger Name.« Genevieve ergriff zum Abschied herzlich Affenlights Hände. »Wer weiß, O.? Vielleicht entpuppt sich diese Pella Affenlight ja als die ideale Frau für dich. Einen ziemlich schneidigen Vater hat sie jedenfalls.«
»Bring mich nicht zum Lachen«, sagte Owen, die Augen weiterhin geschlossen. »Das tut weh.«