11

Henry knipste das Licht an, ließ seine Taschen auf den Teppich fallen und sank auf die Kante seines ungemachten Betts. Er streifte die Schuhe ab und schlief beinahe sofort an. Aber das Telefon klingelte. Er musste drangehen. Möglicherweise ging es um Owen.

»Skrimmer.«

»Schwartz.« Sie hatten sich zuletzt vor zehn Minuten gesehen, als Schwartz ihn an der Laderampe des Speisesaals abgesetzt hatte.

»Hast du was gegessen?«

»Nein. Nicht seit heute Mittag.«

Schwartz ließ einen väterlichen Seufzer des Tadels hören. »Du musst essen, Skrimmer.«

»Ich habe keinen Hunger.«

»Egal. Mach dir einen Shake. Um wie viel Uhr läufst du die Stadiontreppen?«

»Halb sieben.« Henry legte sich wieder hin, die Augen geschlossen. »Hey. Ich habe ganz vergessen zu fragen. Gibt’s was Neues von den Unis?« Schwartz bewarb sich bei einer Reihe Juristischer Fakultäten, Topadressen wie Harvard, Stanford und Yale. Ganz unten in Henrys Tasche steckte eine Flasche Ugly Duckling, Schwartz’ Lieblingsbourbon, den er bekommen sollte, wenn die gute Nachricht eintraf. Henry hoffte, dass es bald sein würde – die Flasche war nicht besonders schwer, aber er schleppte sie jetzt schon seit Wochen mit sich herum.

»Die Post kommt nur einmal am Tag, Skrimmer. Ich halt dich auf dem Laufenden.«

»Ich hab gehört, Emily Neutzel wurde in Georgetown angenommen«, versuchte es Henry. »Ist sicher bald so weit.«

»Ich halt dich auf dem Laufenden«, wiederholte Schwartz. »Mach dir einen Shake. Wir sehen uns beim Frühstück.«

Henry stand auf – zum allerletzten Mal –, holte einen Krug stibitzter Speisesaalmilch aus dem Kühlschrank und fügte zwei gehäufte Löffel SuperBoost hinzu. Seit er in Westish war, versuchte und versuchte und versuchte er zuzunehmen. Er war zweieinhalb Zentimeter gewachsen und hatte dreißig Pfund zulegt. Er konnte vierzig Klimmzüge machen und beim Bankdrücken mit den Football-Spielern mithalten. Das Hauptmanko blieb seine Größe. Die Teams wollten Monster im mittleren Innenfeld, Typen, die Home Runs abfeuern konnten. Die Tage, in denen man wie ein Omar Vizquel oder Aparicio Rodriguez als reines Defensiv-Genie Erfolg haben konnte, waren vorüber. Er musste Genie und Monster sein. Er musste essen, essen, essen. Er pumpte Gewichte, damit er sein SuperBoost herunterstürzen konnte, damit er weiter Gewichte pumpen konnte, damit er noch mehr SuperBoost trinken konnte, pumpen, trinken, pumpen, trinken, um so viele Moleküle wie irgend möglich unter dem Namen Henry Skrimshander zu versammeln. Eine solche Ökonomie war nicht sonderlich effizient – um ehrlich zu sein, entstanden dabei fürchterliche Mengen übel riechender Abfallprodukte, derentwegen Owen Streichhölzer abbrannte und bestürzt den Kopf schüttelte. Aber tun musste er es.

Stunden nach dem Spiel trug er noch immer seinen Tiefschutz, kein angenehmes Gefühl. Er entfernte ihn von seinen Weichteilen, zog sich aus und kletterte ins Bett. Seine Beine und Füße, vom Rutschen und Hechten im Innenfeld ganz sandig, scheuerten gegen das Laken.

Wieder das Telefon. Wieder musste er drangehen: Sicher gab es Neues über Owen, oder jemand wollte sich erkundigen, ob es schon Neues gab.

»Henry Skrimshander?«

»Am Apparat.« Kein Teamkollege, es war eine Frauenstimme. Womöglich die Ärztin.

»Henry, hier spricht Miranda Szabo von SzaboSport Incorporated. Wie ich höre, sind Glückwünsche angebracht.«

»Zu was?«

»Zu was? Vielleicht dazu, mit dem großen Aparicio Rodriguez gleichzuziehen? Das war doch heute, oder?«

»Oh. Na ja, tja, das war … ja, heute.« Wenn ein Spiel mitten im Inning endete, was meistens wegen Regen vorkam, führten die offiziellen Statistiken bloß das letzte tatsächlich beendete Inning auf. Demnach hatten die Harpooners Milford offiziell in acht Innings mit 8:3 geschlagen. Offiziell hatte es den Beginn des neunten Innings also nie gegeben. Offiziell war ihm also nie ein Fehler unterlaufen.

»Fantastisch«, sagte Mirando Szabo. »Hör mal, es tut mir leid, dass ich so spät und in deiner Freizeit anrufe, aber ich bin gerade in L. A. und schließe einen Deal für Kelvin Massey ab.«

»Kelvin Massey? Der dritte Baseman der Rockies?«

Miranda Szabo schwieg einen stolzen Augenblick lang, der exakt die richtige Länge hatte. »Kelvin Massey, der dritte Baseman der Dodgers. Aber erzähl das nicht Peter Gammons, dem alten Schnüffler.«

»Werde ich nicht.«

»Gut. Die Presse wird bis morgen nichts davon erfahren. Wir geben diesem kleinen objet d’art gerade noch den letzten Schliff. Sechsundfünfzig Millionen, die nächsten vier Jahre.«

»Wow.«

»Nicht schlecht für eine Flaute, oder? Manchmal überrasche ich mich selbst«, gestand Miranda Szabo ein. »Aber bleiben wir bei der Sache. Henry, ich halte die Ohren immer offen, aber in letzter Zeit höre ich nur noch einen Namen. Skrimshander, Skrimshander, Skrimshander. Wie ein Zungenbrecher, nur besser. Wohlklingender.«

»Wow. Vielen Dank.«

»Jeder fragt: Wo kommt der Junge her? Und niemand kennt den Ort.«

»Ich bin aus Lankton, South Dakota.«

»Sag ich ja. Niemand kennt den Ort, von dem du kommst, aber wohin du gehst, weiß jeder. An die Spitze der Draftrunde nämlich. Dritte Runde hört man, höchstens.«

»Höchstens?«

»Hört man zumindest. Dritte, zweite, wer weiß? Also, Henry.«

»Ja?«

»Hör mir gut zu. Du bist ein vielbeschäftigter junger Mann, der an einer ehrbaren Institution versucht, Baseball und Studium unter einen Hut zu bringen. Wir mögen uns nicht besonders gut kennen, aber so viel weiß ich. Und ich weiß auch, dass du noch viel, viel beschäftigter sein wirst. Hast du eine Vorstellung, wo die Unterzeichnungsprämie für die dritte Runde im letzten Jahr lag?«

»Ähm, nein.« Bis vor kurzem war Henry gedanklich auf die Spielerrekrutierung im kommenden, nicht in diesem Jahr eingestellt gewesen – Studenten des dritten und vierten Jahres kamen gleichermaßen in Frage –, und er hatte sich zum Ziel gesetzt, auf Rang fünfzig oder, mit Glück, neunundvierzig zu landen. Von einer Unterzeichnungsprämie hatte er nicht einmal zu träumen gewagt. Er hatte keine Ahnung, was man den Fünf-Sterne-Typen, den Highschool-Cracks und Keulenschwingern aus Stanford oder Miami zahlte.

»Rate einfach.«

»Hm. Achtzigtausend?« Es war ihm peinlich und kam ihm habgierig vor, eine so hohe Summe zu nennen, auch wenn das alles nur indirekt mit ihm zu tun hatte.

»Fast. Du hast die Drei vergessen. Dreihundertachtzigtausend.«

»Heilige Scheiße.« Wie lange musste sein Vater für so viel Geld wohl arbeiten? Sechs Jahre? Sieben? »Hoppla. Verzeihung. Ich wollte nicht fluchen.«

»Fluch nur drauflos, Seemann. Jedenfalls bist du damit nicht gleich in Kelvin-Massey-Sphären, aber es ist ein realistisches Sümmchen und meiner Ansicht nach das Mindeste, was du im Juni realistisch erwarten kannst. Die Leute werden sich um dich reißen. Ein Scheideweg für dich, eine komplizierte Zeit. Du wirst jemanden brauchen, der das Beste für dich herausholt. Der für dich verhandelt.«

»Einen Agenten?«

»Absolut richtig. Du wirst einen Agenten brauchen. Jemanden, der dir an diesem Scheideweg sagt, wo’s langgeht. Persönlich und finanziell. Sich für einen Agenten zu entscheiden ist eine große Sache, Henry, man sollte das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Dein Agent muss dein verlängerter Arm sein. Genau wie dein Handschuh, wenn du draußen auf dem Feld stehst. Vertraust du deinem Handschuh, Henry?«

»Klar.«

»Und genauso musst du deinem Agenten vertrauen können. Dein Agent setzt, wenn er gut ist, nicht bloß die Verträge auf und verschwindet dann. Er wird zu einem zweiten, finanzorientierten, mit jedem kleinsten Detail vetrauten Du. Damit du – das Henry-Du, nicht das Miranda-Du – dich voll und ganz auf Baseball konzentrieren kannst. Und das Studium. Kannst du mir so weit folgen, Henry?«

»Ich glaube schon.«

»Bist du schon von anderen angesprochen worden, die Interesse bekundet haben, dich zu vertreten?«

»Ähm, nein.«

»Kommt noch. Glaub mir. Allein die Tatsache, dass du gerade mit Miranda Szabo telefonierst, bedeutet, dass die ganze Welt anrufen und dir anbieten wird, dich zu vertreten. Ist jedes Mal das Gleiche.«

»Woher sollen die denn wissen, dass Sie mich angerufen haben?«

»Sie werden’s einfach«, sagte Miranda Szabo und seufzte angesichts der Vorhersehbarkeit des Ganzen. »Diese Menschen sind Tiere.«

Henrys Gedanken kreisten während der nächsten paar Stunden in eigenartigen Umlaufbahnen, während er dem Ächzen lauschte, das aus den uralten Heizungsschächten der Phumber Hall kam. Es war komisch, Owens Atem nicht zu hören. Es wurde Mitternacht, ein Uhr, zwei Uhr, und auch wenn er nicht wirklich wach war, bemerkte er, wie Zeit verging, registrierte das viertelstündliche Glockenschlagen der Kapelle. Anders als die meisten seiner Kommilitonen, die die Nacht durchmachten und ihre frühen Vorlesungen verschliefen, hatte er kaum je etwas von dieser Nachtzeit mitbekommen. Er trainierte einfach zu hart und wachte zu früh auf, und wenn er mal, was ganz selten vorkam, am Wochenende bei einer Biersause dabei war, lehnte er an der Wand und hielt höflich einen Becher Bier, der auf dem Nachhauseweg in den Büschen landete. Die Fenster standen offen, denn in ihrem Mansardenzimmer war es immer warm. Aus dem Hof unten flirrten ab und an Stimmen herauf, und gelegentlich ließ ein Windstoß die Scheiben zittern. Letzterer drang in Henrys Kopf ein und wurde dort zu dem Windstoß, der dazu beigetragen hatte, seinen Wurf vom Kurs abzubringen. Er wünschte, er hätte Owen heute Abend sehen können. Nur einen Moment lang, nur um einen kurzen Blick auf ihn werfen zu können, wie er in seinem Zimmer auf der Intensivstation schlief. Dann hätte Henry gewusst, dass es ihm gut ging. Das vom Doktor zu hören war eine Sache, es selbst zu sehen eine andere. In Henrys Halbträumen starrte Owen ihn an, in jenem eingefrorenen Moment, bevor er auf den Boden vor der Spielerbank sackte, und seine weit aufgerissenen Augen fragten: Warum?

Warum war Henrys Erfahrung nach eine Frage, die sich ein Sportler nicht stellen sollte. Ja, warum hatte er einen so schlechten Wurf gemacht, so schlecht, dass Rick nicht einmal mehr drangekommen war? Wegen der Scouts? Hatte er sich wegen der Scouts verkrampft? Nein, das ergab keinen Sinn. Zum einen waren sie gar nicht mehr dagewesen, sie waren nach dem achten gegangen, was er gesehen hatte. Außerdem hatte er keine Angst vor Scouts, zumindest nicht spürbar. War es, weil er Aparicios Rekord nicht brechen, nicht derjenige sein wollte, der Aparicios Namen aus den Annalen tilgte, weil Aparicio Aparicio war und er bloß Henry? Vielleicht. Aber dann hätte er zumindest den Rekord einstellen können, bevor er patzte – dann hätten ihre Namen nebeneinander gestanden. Jetzt hatte er den Rekord eingestellt, der Fehler hatte nicht gezählt. Ihn zu brechen, dazu hatte er im nächsten Spiel Gelegenheit. Falls er nicht wollte, würde er wieder patzen müssen. Und womöglich würde er ja wieder patzen. Deswegen fragte man nicht, warum. Das Warum machte einen bloß fertig. Solange es Owen gut ging, sah die Welt morgen früh sicher schon wieder ganz anders aus.

Schwartz würde sich freuen, von Miranda Szabo zu hören. Würde begeistert sein. Außer sich. Henry hatte sich Sorgen gemacht, was das kommende Jahr wohl bringen würde, wenn Schwartz seinen Abschluss gemacht hatte und irgendwo an der Ost- oder Westküste Jura studierte. Womöglich würde er dann auch weg sein, in der Minor League, ein Jahr früher als geplant, mit Geld in der Tasche. Über den Abschied nachzudenken hatte etwas Bittersüßes, er liebte Westish, aber Baseball war Baseball, und es passte, dass er und Schwartz möglicherweise gemeinsam gingen. Ohne Schwartz gab es Westish College gar nicht. Ohne Schwartz gab es, wenn man es recht bedachte, Henry Skrimshander eigentlich kaum.