34

Später lag Schwartz mit Pella in seinem Bett. Selbst mit Schmerzmitteln im Blut, selbst mit der Abgestorbenheit, die ihm nach einem Spiel die Beine hinaufkroch, hatte er vorher noch nie Probleme gehabt. Pella versuchte ihn zu locken, während sie sich küssten, fuhr mit den Fingerspitzen leicht über den Schlitz seiner Boxershorts, doch vergebens. »Ist schon okay«, sagte sie. »Warum erzählst du mir nicht einfach davon?«

»Wovon?«

»Du weißt schon. Henry.«

»Es ist schlimm«, sagte Schwartz. »Ich mache mir langsam wirklich Sorgen. Die letzten paar Spiele schien er damit klarzukommen. Aber heute – heute war es richtig schlimm.«

»Bist du sicher, dass er nicht verletzt ist? Vielleicht hat er was am Arm und traut sich bloß nicht, es zu sagen.«

»Seinem Arm geht’s gut. Du solltest die Würfe sehen, die er beim Training macht. Oder auch in Spielen, wenn es Schlag auf Schlag geht. Wenn er keine Zeit hat nachzudenken. Sein Arm ist ein Triumph der Natur.«

Pella sagte nichts. Specks röchelnder Atem drang leise, beinahe beruhigend durch die Wand. »Es sind immer die einfachen Dinger«, sagte Schwartz, »die Bälle, die direkt auf ihn zukommen. Du kannst richtig sehen, wie sich die Rädchen drehen: Verbocke ich den? Vielleicht verbocke ich den ja. Ich würde ihn am liebsten an den Schultern packen und es aus ihm rausschütteln. Er macht aus einer Mücke einen Elefanten.«

Pella kuschelte sich näher an ihn, fuhr erneut mit der Hand über die Vorderseite seiner Boxershorts. Im Dreivierteldunkel des Zimmers konnte er sehen, wie die ihm zugewandte Brustwarze sich unter dem Laken noch dunkler abzeichnete. Er begehrte jeden Zentimeter ihres Körpers. Sie mochte ihre Beine nicht, fand sie kurz und stämmig und ihre Knöchel zu dick, um weiblich zu sein – was aus Schwartz’ Sicht blanker Irrsinn war. Wenn überhaupt, hätte er sich eher mehr von ihr gewünscht, mehr und mehr von ihr, seinem Anker in dieser Welt.

Seit sie zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten, hatten sie bei keinem Treffen nicht miteinander geschlafen. Aber heute wurde es nichts. Er war zu müde, zu verkrampft, hatte auf der Fähre eine Pille zu viel genommen. Irgendwann geschah es zwangsläufig, dieses Hinübergleiten in die Häuslichkeit – es war eine völlig normale, natürliche und sogar potentiell angenehme Entwicklung, aber Schwartz spürte, dass diese Nacht dafür nicht die richtige war. Pella würde denken, sie schliefen nicht miteinander, weil er sich um Henry sorgte. Und das war das Letzte, was er wollte, auch wenn es stimmte.

Sie hatte gesagt, es sei schon okay, und doch versuchte sie es immer weiter. Sie schob die Finger in den Schlitz seiner Shorts und kitzelte die Falte, wo Becken und Oberschenkel sich trafen. Schwartz bemühte sich, etwas zu fühlen. Raketen, Mammutbäume, das Washington-Monument. Komm schon, dachte er, das eine Mal.

Unter den Jeans in der untersten Schublade seiner kaputten Kommode hatte er ein paar einzelne Viagra liegen. Kein Grund, sich zu schämen, oder? Manchmal – na gut, meistens – war man betrunken, wenn man jemanden mit nach Hause brachte. Manchmal war das Mädchen zu ungeschickt oder zu laut oder einfach nicht besonders sexy. Manchmal musste man etwas nachhelfen. Das Tolle daran, Pella kennengelernt zu haben, war unter anderem, wie er so voll und ganz, so fundamental auf sie ansprach – er hatte darüber vergessen, dass die Pillen überhaupt existierten. Aber er wünschte, heute Nacht hätte er eine genommen.

Pella zog die Hand weg und legte sie über dem T-Shirt auf seinen Bauch. Schwartz suchte in ihrem kleinen Seufzer nach Anzeichen von Verärgerung – er fand einige, aber abzüglich seiner Paranoia konnte es genauso gut einfach ein Gähnen gewesen sein.

»Es ist eine Blockade«, sagte sie. »Wie eine Schreibblockade. Oder Lampenfieber.«

»Genau.«

»Vielleicht sollte er sich Hilfe holen.«

»Er hat Hilfe«, sagte Mike. »Mich.«

»Du weißt, was ich meine. Jemanden vom Fach.«

Schwartz reagierte gereizt. »Das würde Henry nie tun.«

»Doch, wenn du es ihm raten würdest.«

»Es würde ihm Angst machen. Er würde denken, dass mit ihm was nicht stimmt.«

»Na ja, ist es nicht so?«

»Er kommt da schon durch. Er muss sich einfach entspannen.«

Wieder strichen Pellas Finger über seine Shorts. »Vielleicht solltest du dich einfach entspannen.«

Schwartz wich zurück. »Was soll das denn heißen?«

»Was soll was heißen?«

»Dass ich mich entspannen soll?«

»Gar nichts. Du wirkst heute nur so angespannt.«

Es war das heute, das Schwartz den Rest gab. Er war den ganzen Monat über angespannt gewesen. Verdammt, er war sein ganzes Leben lang angespannt gewesen. Was zur Hölle war heute anders als sonst?

»Ich bin nicht angespannt.«

»Schon gut«, sagte Pella. »Ist ja auch egal.«

Die Enge des Betts zwang sie in eine unbehagliche Nähe. Schwartz war zwischen Pella und der Wand eingekeilt. Anstelle eines Rollladens hing ein schmutziggraues Laken vor dem Fenster, das das Garagenlicht des Nachbarn kaum abzuschwächen vermochte.

Seit er aus dem Wohnheim ausgezogen war, hatte er nur gelegentlich ein Mädchen mit zu sich genommen – besser war es, mit zu den Mädchen zu gehen, wo es all diese Kissen und Fotoalben und unergründlichen Gerüche gab, frische Laken auf dem Bett und sorgfältig beschriftete Schulordner im Regal. Im Zimmer eines Mädchens an einem Ort wie Westish war die Präsenz der Familie beinahe mit Händen zu greifen, nicht nur aufgrund der gerahmten Fotos, sondern weil es sich um die sorgfältige Replik eines Kinderzimmers handelte, an die Phase der Postpubertät angepasst: übrig gebliebene Stofftiere, Kondompackungen oder pastellfarbene Streifen mit der Pille, die offen herumlagen, ein Tribut an die Eltern, die nicht da waren, um Einspruch zu erheben. Diese abwesenden Familien hatten eine beruhigende Wirkung auf Schwartz, und ein paar Stunden lang stellte er sich vor, es wären seine eigenen.

»Er sollte zu einem Psychologen gehen«, sagte Pella. »Einem Verhaltenstherapeuten. Jemandem, der sich mit Sportlern auskennt. Er müsste nicht frei über seine Mutter assoziieren oder so.«

»Vielleicht ist es das, was er braucht. Freies Assoziieren über seine Mutter.«

»Ich meine es ernst«, sagte Pella.

»Ich auch«, sagte Schwartz, aber das stimmte nicht. Aus irgendeinem Grund ging ihm Pellas versuchte Einmischung gehörig gegen den Strich. Er versuchte einen sanfteren, aber ernsteren Tonfall. »Gut, ein Therapeut. Aber wer soll das bezahlen?«

»Könnte Henrys Familie da nicht helfen? Ich meine, er steht kurz davor, eine Menge Geld zu verdienen, oder? Es wäre eine Investition.«

»Die Skrimshanders haben kein Geld zum Investieren«, sagte Schwartz. »Sein Vater ist kein College-Präsident.«

»Das war auch nicht meine Vorstellung von ihm.«

»Ich weiß nicht, ob du dir überhaupt was anderes vorstellen kannst.«

»Fang keinen Streit mit mir an! Warum fängst du Streit mit mir an?«

»Tut mir leid.«

Eine Weile lagen sie schweigend nebeneinander. Schließlich sagte Pella: »Ich habe vor, meinen Ehering zu verkaufen. Einen Teil von dem Geld könnte Henry bekommen. Als Darlehen.«

Sobald die Worte Pellas Lippen verlassen hatten, wusste sie, dass es ein Fehler gewesen war. Es war ein aufrichtiges Angebot – doch es kam genau zum falschen Zeitpunkt, und an Mikes Gesicht konnte sie bereits ablesen, wie es aufgefasst werden würde: Sie versuchte, sich in seine Freundschaft mit Henry hineinzudrängen. Sie unterstellte, dass sie oder ein Therapeut in der Lage waren, Henry zu helfen, wo Mike versagte. Sie prahlte mit ihrem überlegenen finanziellen Status. Sie erinnerte ihn daran, dass sie sich zwar abends Tee und Kräcker teilten, sie das aber eigentlich nicht nötig hatte.

»Henry hat schon genug Darlehen.«

»Ich könnte ihm das Geld auch einfach so geben. Oder ich gebe es dir, und du arrangierst das mit dem Therapeuten. Henry müsste gar nicht wissen, wie viel es kostet.«

»Es würde wohl einiges kosten.«

»Na ja«, sagte Pella. »Es ist ein ziemlich teurer Ring.«

In Schwartz’ Brust loderte etwas auf. Er hatte Pellas Ehemann gegooglet und das Foto auf der Website seiner Firma gesehen: Der Architekt lehnte sich an seinem Zeichentisch zurück, Druckbleistift in der Hand, und fixierte die Kamera mit einem forciert toleranten Lächeln. In dem Kaschmirpullover und mit seinem penibel gepflegten Bart sah er aus wie ein Vollidiot, aber er hatte Geld, konnte Griechisch lesen und war zum Henker noch mal mit Pella verheiratet. Sosehr sie ihn auch heruntermachte, er war doch Teil einer Welt legerer Privilegiertheit, in die sie jederzeit zurückkehren konnte. »Ganz bestimmt«, sagte er. »Bestimmt hat er ein Vermögen gekostet.«

»Willst du wissen, was er gekostet hat?« Pella glich sich der Schärfe seines Tonfalls an, setzte sogar noch eins drauf. »Er hat vierzehntausend Dollar gekostet. Geht’s dir jetzt besser?«

»Mir geht’s fantastisch«, sagte Schwartz. »Mir geht’s Brillantring.«

»Haha.«

Am Ende der Straße dribbelte jemand mit einem Basketball. Jeder Aufprall hallte in den geriffelten Abflussrohren wider, die die Enden der Hauseinfahrten mit der Kanalisation verbanden. »Vergiss es«, sagte Schwartz. »Wir brauchen dein Geld nicht.«

»Ich habe es nicht dir angeboten«, sagte Pella. »Außerdem verstehe ich nicht, warum du so dagegen bist. Wenn Henry sich am Ellbogen verletzt hätte, würde er zum Arzt gehen, richtig? Und du würdest dich darum kümmern, dass er den besten Arzt hat, der für Geld zu kriegen ist.«

»Wir reden hier aber nicht über Henrys Ellbogen. Wir reden über seinen Kopf.«

»Das sollte eine Analogie sein«, sagte Pella so, als hätte er das Wort vielleicht noch nie zuvor gehört. »Und zwar eine ziemlich vernünftige. Aber dir geht’s nicht um Vernunft, oder?«

Verdammter Mist, dachte Schwartz. Hätten sie bloß miteinander geschlafen, dann wäre alles gut gewesen. Das Viagra lag gleich da im Schrank unter den Jeans, so nah und doch so fern.

»Wäre es ein Problem für dich«, sagte Pella, »wenn Henry zum Seelenklempner gehen und ihm das helfen würde?«

»Was soll die Frage?«

»Angst haben, dass es nicht hilft, kannst du ja wohl nicht – das wäre absurd, weil auch nichts anderes geholfen hat. Du hast Angst, dass es hilft. Du hast Angst davor, dass er in die Auswahl kommt, Profi wird und aus dem Schneider ist. Mehr als aus dem Schneider. Dass er der King sein wird und dich nicht mehr braucht. Aber solange er in Westish ist, solange er ein Wrack ist, schmeißt du den Laden.«

Schwartz starrte hinauf zu dem schmutzig grauen Laken, das ein Luftzug knapp über seiner Nase wölbte und tanzen ließ. »Das ist Schwachsinn.« Es war Schwachsinn, er wusste, dass es Schwachsinn war, aber plausibler Schwachsinn, und ihn laut ausgesprochen zu hören, nahm ihm die Luft zum Atmen.

Aber Pella war noch nicht fertig. »Was ihr braucht, ist eine Paartherapie. Klassische Ko-Abhängigkeit. Die Neurosen und verborgenen Sehnsüchte des einen Partners manifestieren sich in den Symptomen des and-«

»Ach, halt die Klappe.«

»Mach ich gleich, keine Sorge. Aber vorher muss ich dir noch was sagen.« Ihr Blick bekam etwas Weiches, das ihn überraschte. »David kommt.«

»David David?«

»Genau der.«

Das warf ein völlig anderes Licht auf den ganzen Abend – ihren gescheiterten Versuch, Sex zu haben, die anschließende Diskussion. Schwartz war bereit gewesen, die Schuld auf sich zu nehmen und Henry, die eigene Erschöpfung und das Hydrocodon als Begründungen anzuführen. Aber Pella hatte ihr ganz eigenes Ding am Laufen. Wie sie hier hereingetanzt war, ihn geküsst, sich auf ihn gehockt und dann gesagt hatte Ist schon gut, Baby, ist schon gut, mach dir keine Gedanken, wo es doch in Wahrheit ihr eigenes Zögern gewesen war, das er gespürt hatte, die Warnsignale, die ihr Körper aussandte. In Wahrheit steckte ihre Angst vor Davids Besuch dahinter. Oder, noch schlimmer, ihre Vorfreude.

»Wann?«

»Bald.«

»Wie bald?«

»Keine Ahnung … morgen vielleicht?«

»Vielleicht«, wiederholte Schwartz. Es war sarkastisch gemeint, doch es klang bloß ungläubig und lächerlich. Er versuchte es erneut. »Vielleicht?«

»Morgen«, gab Pella zu. »Er kommt morgen.«

»Wo wird er übernachten?«

»Im Hotel.«

»Wo wirst du übernachten?«

Sie verpasste ihm einen Hieb auf die Schulter, der spielerisch gemeint war, hinter dem aber richtig Kraft steckte. »Was glaubst du denn? Bei meinem Vater natürlich.«

»Nicht hier.«

»Das geht nicht. Morgen nicht.«

»Wegen deines Ehemanns.«

»Er ist nur darum mein Ehemann, weil wir noch nicht geschieden sind.«

»Wieso kommt er dann?«

»Er ist geschäftlich in Chicago. Behauptet er zumindest. Jedenfalls war es bescheuert von mir zu glauben, ich könnte mich einfach davonschleichen, und die Sache wäre erledigt. Wir müssen uns hinsetzen und die Dinge klären. Die Trennung und so weiter. Er ruft zehn Mal am Tag bei meinem Vater an.«

»Ich werde mit ihm reden.«

»Ja, klar«, sagte Pella. »Das wird ihn sicher beruhigen. Wenn er erfährt, dass wir rumvögeln.«

»Ist es das, was wir tun? Rumvögeln?«

»Du weißt, was ich meine.«

»Da bin ich mir nicht so sicher.«

»Wie soll ich es nennen? Ja, wir vögeln rum. Oder haben wir zumindest, bis heute Nacht.«

Schwartz war nicht ganz klar, ob das als Kommentar zu ihrem Scheitern in Sachen Sex oder als Trennungserklärung gemeint war. Sein Telefon begann auf dem Pappkarton, der als Nachttisch diente, zu schlittern und zu tanzen. Pella wurde stocksteif. Er konnte unmöglich Henrys Anruf annehmen, nicht jetzt – aber das Übel bestand schon darin, dass Henry anrief, und nicht abzuheben, machte es nicht gerade besser. Das Telefon erschauderte ein letztes Mal und verstummte.

»Ich weiß nicht, warum ich überhaupt mit hierhergekommen bin«, sagte sie.

»Dann geh. Was hält dich davon ab?«

»Keine Sorge, ich geh schon.« Pella stand auf und zog sich ihr Sweatshirt über den ansonsten nackten Körper. Schwartz fühlte angesichts so viel herrlicher Nacktheit eine Druckwelle des Bedauerns über sich hereinbrechen. Im Türrahmen drehte sie sich um, ihre Augen glühten. »Du liebst es, dir das Leben schwerzumachen, stimmt’s? Mike Schwartz, Nietzsches Packesel. Das Gewicht der Welt auf den breiten alten Schultern. Aber weißt du was? Nicht alle haben Lust darauf, das eigene Leiden ins Unermessliche zu steigern. Für manche Leute ist es schwer genug, einfach nur von Tag zu Tag über die Runden zu kommen. Tut mir leid, dass ich auf einer Privatschule war, okay? Tut mir leid, dass ich nie in einer Fabrik gearbeitet habe. Sicher, ich hab die Highschool abgebrochen. Ich spül das Geschirr im Speisesaal. Aber das ist bloß Möchtegern-Arbeiterklasse, stimmt’s, Mike? Das ist nicht echt, das ist kein echtes Leiden, nicht das verschissene Chicagoer Ghetto. Wofür ich mich entschuldige. Es tut mir verdammt noch mal wirklich leid, dass mein Vater seinen Doktor gemacht hat, statt sich zu Tode zu sau-«

»Ich dachte, du wolltest gehen.«

»Ich bin schon weg.«

Die Zimmertür fiel krachend ins Schloss, die Haustür ebenso. Dann erklang das wütende Tambourinschellen des auffliegenden und wieder zufallenden Eingangstors. Schwartz schaltete eine Lampe ein und versuchte zu lesen, aber er konnte sich nicht konzentrieren, also schmiss er zwei Hydrocodon ein, die er eigentlich für den kommenden Tag vorgesehen hatte, und ging hinaus auf den Flur.

Ein dünner Lichtstreifen kam unter der geschlossenen Badezimmertür hervor. Die Toilettenspülung wurde betätigt, dann füllte Aschs stämmiger rosiger Körper, stämmiger noch als Schwartz’ eigener, den Türrahmen. Er kratzte sich durch seine Boxershorts am Hodensack. »Alles klar bei dir?«, fragte er, blinzelte ohne seine Kontaktlinsen.

Schwartz zuckte mit den Schultern. Er musste die Worte von irgendwo tief unten heraufziehen: »Könnte schlimmer sein.«

»Könnte immer schlimmer sein.« Asch verschwand in seinem Zimmer und kam mit einem Stapel der Schokolade-Walnuß-Ingwer-Kekse seiner Mutter zurück.

»Tu sie ein paar Sekunden in die Mikro«, sagte er. »Im Kühlschrank steht Milch.«

»Danke.«

Asch kratzte sich noch ein bisschen am Sack und blinzelte. Nicht nur seine Freundlichkeit, auch seine Leibesfülle hatte etwas Tröstliches, suggerierte die Existenz höherer Mächte als Schwartz selbst – Mächte, die zwar nicht so recht in der Lage waren, Schwartz zu beschützen, aber immerhin nicht seines Schutzes bedurften. »I ain’t tripping ’bout no bitches«, sagte Speck, den Rap-Song der Stunde zitierend. »I just worry ’bout the game.«

»Danke«, sagte Schwartz noch einmal. SpecksTür fiel zu, und das Aufjaulen der Bettfedern drang überdeutlich durch die Wand.

Das Haus war nun wieder wie ausgestorben. Auf dem Weg zur Küche tastete Schwartz sich langsam am Beer-Pong-Tisch vorbei. What you missed about these bitches / Is they all can feel my fame / My sick hits make ’em ticklish / Till they screamin’ out my name. Meine Güte, was einem alles so im Kopf blieb, sosehr man sich auch dagegen wehrte. Es war nicht gerade Milton; es war nicht einmal Chuck D. Ernsthaft, er sollte sich darum kümmern, dass sie die Jukebox bei Bartleby’s von HipHop auf Lyrik umstellten. Dann könnte man seinen Dollar hineinschmeißen, die 10-08 anwählen, »Wenn Furcht mir kommt, ich hörte auf zu sein«, und zusammen mit dem Bier ein wenig Keats aufsaugen.

Die Küche war im Vergleich zum Rest des Hauses auf unheimliche Art makellos, die Spüle glänzte im Licht der darüberhängenden Lampe und hatte beinahe ihren ursprünglichen Limabohnen-Ton wiedererlangt. Pella hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, sie jedes Mal zu schrubben, wenn sie da war, weshalb Schwartz es sich zur Angewohnheit gemacht hatte, sie selbst zu schrubben, damit sie es nicht machen musste, und in letzter Zeit hatte es den Anschein, als würde sich sogar Speck beteiligen, indem er Flecken vom Linoleum kratzte – alte Kaugummis von früheren Bewohnern, nicht ganz so alte Tabaksaftflecken – und den Abfalleimer ausspülte. Schwartz erwärmte die Kekse dreißig Sekunden lang in der Mikrowelle, steckte einen in den Mund, goss sich einen Liter Milch in ein Souvenirglas der Chicago Bears, trank ihn und verdrückte dann im Licht des Kühlschranks die restlichen Kekse. Asch, ganz Ehrenmann, hatte einen Zwölferpack Schlitz besorgt. Schwartz schnappte sich zwei Dosen, ging in das muffige Wohnzimmer und setzte sich im Dunkeln auf die Couch. Eine Lyrik-Jukebox war eine bescheuerte Idee, aber sie gefiel ihm trotzdem. Er wünschte, er könnte Pella davon erzählen, und sei es nur, damit sie ihn auslachte und ihn einen Chicagoer Konservativen nannte.

Sie hatten sich noch nie gestritten. Falls es beim Streiten darum ging, dem anderen richtig wehzutun, war sie gut darin. Als Gegenpol zu seiner Wut konnte er eine leichte Befriedigung erspüren; sie speiste sich aus dem Wissen, dass diese Art von Schmerz überhaupt existierte, dass ein Mädchen, eine Frau, ihm genug bedeutete, um ihn verletzen zu können. Das erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass Pella recht hatte und er tatsächlich am glücklichsten war, wenn er litt. Aber das stimmte nur, wenn man »aus einem Grund« hinzufügte. Er litt gern aus einem Grund. Wer tat das nicht? Aber all seine Gründe fielen in sich zusammen. Im Kopf hakte er einen nach dem anderen ab: Jurastudium, Abschlussarbeit, Henry, Pella.

Er war nicht mehr der Junge aus der Hochhaussiedlung. Wenn er sich zu Tode soff, wie so viele Schwartze vor ihm, oder auf andere Weise alles verbockte, war das ganz allein seine Schuld. Ausreden gab es nicht. Was es gab, waren Optionen, auch ohne die Jurististische Fakultät von Yale. Er war allein deshalb von keiner Universität angenommen worden, weil er sich bei Hunderten von Universitäten, die ihn angenommen hätten, erst gar nicht beworben hatte. Ihm stand das komplette Instrumentarium zur Verfügung, rhetorische, analytische und kritische Fähigkeiten, Selbstreflexion, reiche Freunde, Referenzen, Respekt. Verdammt, er hatte sogar tausend Dollar in der Jackentasche. Er kehrte in die Küche zurück, um sich noch zwei Bierdosen zu holen.

Pella konnte mit siebzig Seiten pro Stunde durch James, Austen oder Pynchon kajolen und sich alles merken, als wäre sie dafür geboren. Er liebte es, ihr zuzusehen, wenn ihr die Lesebrille auf der Nasenspitze saß und ihre Gedanken von ihm unabhängig waren.

Sie missverstand sein Leben. Er wollte nicht, dass alles schwierig war, es war alles schwierig. Das Geld war das geringste Problem. Er war nicht so schlau wie sie. Das Einzige, was er konnte, war andere Leute motivieren. Was letztlich gar nichts brachte. Manipulation, Puppenspielen. Was hätte er dafür gegeben, ein eigenes Talent zu haben, so wie Henry? Alles. Er hätte alles dafür gegeben. Wer es nicht kann, lehrt es.

Ein Auto fuhr langsam die Grant Street entlang, aus dem Subwoofer pumpte der wummernde Bass jenes dümmlichen Songs, den er vorhin noch gesungen hatte. Er zwang sich, nicht an noch mehr Textzeilen zu denken. Er leerte die Bierdosen und ging zurück in die Küche, um sich zwei weitere zu holen. Dann breitete er seine Hundert-Dollar-Scheine auf dem Couchtisch aus. Dort lag ein Feuerzeug, und er dachte eine ganze Weile darüber nach, nahm sogar einen Schein in die Hand und bewegte die Flamme darunter hin und her. Die Unterseite schwärzte sich etwas, aber er war nicht betrunken genug oder dämlich genug oder was auch immer.