39

Affenlight hasste David nicht, jedenfalls nicht mehr. Nicht dass er besonders viel für ihn übrig gehabt hätte, aber in den vergangenen Jahren hatte er an niemanden häufiger gedacht als an David, ausgenommen Pella und Owen, und aus dieser permanenten Aufmerksamkeit war im Laufe der Zeit eine Art gemäßigter Zuneigung geworden. Vergeben würde er David nie, aber David war zu einem Teil des Lebens geworden und Affenlight widerwillig zu der Erkenntnis gelangt, dass David weiterleben würde, egal ob ihm das nun gefiel oder nicht. Er hatte ihn stets als einen selbstsüchtigen Schürzenjäger und Borderline-Pädophilen betrachtet; jetzt betrachtete er ihn als jemanden, mit dem er einfach über Kreuz lag. Beinahe schon als – Gott bewahre! – Schwiegersohn, wenn auch als einen miserablen.

Doch selbst Affenlights moralische Entrüstung hatte sich in letzter Zeit aus offensichtlichen Gründen etwas gemildert. Er selbst hatte sich Liebesbeziehungen mit Studenten stets streng untersagt, als begehrter Gruppenleiter-Jungspund ebenso wie als begehrter Professor mit gepflegtem Äußeren, selbst während der Phase als Berühmtheit auf CNN-Niveau, als der Harvard Crimson sein Foto mit DER SCHWARM DER GEISTESWISSENSCHAFTEN untertitelt hatte. Der Widerstand gegenüber diesen ständigen, oftmals unverhohlenen Avancen hatte ihm eine sichere Position verschafft, aus der heraus jemand wie David trefflich zu kritisieren war, ein erwachsener Mann, der ein verletzliches Mädchen mit übergroßem Herzen verführt hatte. Was aber konnte Affenlight jetzt sagen? Wie konnte er wissen, dass David nicht etwas Vergleichbarem erlegen war, einem ebenso süßen und zufälligen Gefühl, das ihn gleichermaßen wie eine Dampfwalze überrollt hatte? Hinzu kam natürlich, dass Pella behauptete, die Ehe sei am Ende, und ein Sieg konnte einen Mann schließlich durchaus gütig stimmen.

Deswegen tat Affenlight David beinahe leid, als dieser jetzt verloren und verstört im Treppenhaus vor seinem Büro stand und an seinem Handy herumnestelte. Natürlich dachte er gleich an Menelaos, der gekommen war, um seine Helena zurückzuholen, aber David schnitt bei dem Vergleich nicht sonderlich gut ab. Draußen goss es, und obgleich er Galoschen und eine wasserdichte Jacke trug, waren Kopf und Hose klitschnass. Affenlight fragte sich, welche Sorte Mann in Galoschen zu einer Unternehmung dieser Art aufbrach.

»David«, sagte er. »Guert Affenlight. Sie sehen aus, als könnten Sie einen Kaffee vertragen.«

»Wo ist meine Frau?«, fragte David.

Affenlight war mit einem Mal vollkommen ruhig. Das war eine Situation, von der er oft geträumt hatte: Sein Erzfeind hier, in seinem Büro, ihm ausgeliefert. Aber das Verlangen, ihm die Leviten zu lesen oder sich zu rächen, hatte sich verflüchtigt.

»Haben Sie auf dem Apparat oben angerufen?«

»Mehrfach.«

»Sie ist wahrscheinlich noch bei der Arbeit.« Affenlight wies mit dem Kopf auf die offene Bürotür. »Kommen Sie herein. Setzen Sie sich.«

In natura wirkte David weniger kräftig als auf dem Foto der Firmen-Website, wo er unter dem Pullover einen Rolli trug, sich mit dem Stift in der Hand an seinem Zeichentisch nach hinten lehnte und wohlwollend lächelte. Er besaß, zumindest auf dem Foto, die förmliche Selbstbeherrschung, die Affenlight mit einer bestimmten Sorte evangelikaler Christen verband, perfekt gestutzter Bart und so weiter. Heute allerdings sah er entschieden weniger gut sortiert aus.

»Ich nehme an, Sie sind über all das ziemlich erfreut«, sagte David mit leiser und dennoch schriller Stimme, während Affenlight, der jetzt einfach Kaffee gekocht hatte, unabhängig davon, ob David welchen wollte oder nicht, ihm einen dampfenden Becher reichte.

Im Raum gab es noch einen weiteren, mit den Westish-Insignien verzierten Stuhl wie den, auf dem David saß, und immer dann, wenn Affenlight einem Gast das Gefühl von gleicher Augenhöhe und Entspanntheit vermitteln wollte, nahm er selbst dort Platz. Jetzt allerdings schob er sich hinter seinen riesigen Schreibtisch, der mit Unterlagen überhäuft war. Seine Arbeitsmoral war in letzter Zeit entschieden zweitklassig gewesen. »Kommt darauf an, was du meinst«, sagte er. »Ich bin eben besorgt um Pella.«

»Sie ist meine Frau«, sagte David zitternd und noch immer tropfnass. Er stellte den vollen Becher auf eine Art an der Kante von Affenlights Schreibtisch ab, die etwas Endgültiges hatte. Vielleicht machte er von seinem Recht Gebrauch, Gastfreundschaft abzulehnen, womöglich brauchte er aber auch einfach nur Milch. »Wir sind seit vier Jahren verheiratet.«

»Ich weiß. Obwohl ich zur Hochzeit nicht eingeladen war.«

»Ich habe ein Recht, mit ihr zu sprechen.«

»Sie wird schon kommen«, sagte Affenlight.

Draußen grummelte leiser Frühlingsdonner, ohne Blitze, nichts im Vergleich zu dem brutalen Peitschenknallen im Juli und August. David nahm seinen Becher von der Tischkante, darauf achtend, dass er keinen Kaffee über Affenlights Unterlagen goss, und nahm einen winzigen Schluck, um die Temperatur zu prüfen. Der Kaffee schien ihn zu entspannen und zu beleben. Er schaute sich im Raum um, betrachtete die gerahmten Diplome und Auszeichnungen und die Rücken der Bücher, die auf den Walnussregalen aufgereiht standen. »Schöne Holzarbeiten«, sagte er.

»Danke.«

»So was wird heute gar nicht mehr gebaut. Viel zu teuer. Sind die Regale aus den Zwanzigern?«

»Zweiundzwanzig, glaube ich.«

David nickte. »Das Jahr, in dem Ulysses erschien. Und Moncrieffs Übersetzung von Du côté de chez Swann. Und Das wüste Land, klaro.«

Affenlight war sich nicht sicher, ob das ein Versuch war, seine Sprache zu sprechen, oder ob David immer so redete.

»Das stimmt«, sagte er.

»Geht es ihr gut?«, sagte David und nahm noch einen, diesmal größeren Schluck. »Sie sagten, Sie wären besorgt.«

»Es geht ihr gut«, sagte Affenlight. »Viel besser als bei ihrer Ankunft.«

»Was war denn mit ihr?«

Affenlight überraschte die Frage. Er hatte die Bemerkung als kleine Spitze gemeint und kein neues Thema anschneiden wollen. »Nun ja. Sie wirkte ziemlich … lädiert.«

Entrüstet setzte David sich in seinem Stuhl auf, die Armlehnen umklammert. »Damit wollen Sie doch wohl nicht andeuten –«

Affenlight hob beschwichtigend eine Hand. »Nein, nein, nein.«

»Das würde ich niemals.«

»Natürlich«, sagte Affenlight. An der Tür klopfte es – konnte das Owen sein? Besser später als nie. Natürlich konnte Owen nicht bleiben, nicht solange David da war, aber das war egal, es zählte einzig, dass er sich entschieden hatte aufzutauchen. Affenlight schob seinen Stuhl zurück, aber die Tür schwang auf, bevor er auf den Beinen war.

Im Türrahmen stand Pella, noch mit der Arbeitsmontur der Küchenmannschaft bekleidet. Affenlight hatte sie seit ihrer Kindheit nicht mehr mit einer Baseballkappe gesehen. Vielleicht war es das, was sie plötzlich so jung erschienen ließ, vielleicht war es aber auch die Art, wie sie sich ängstlich im Türrahmen herumdrückte, als wartete sie darauf, dass die Erwachsenen fertig wurden. »Kein Blut auf dem Fußboden«, sagte sie. »Das ist doch ein gutes Zeichen.«

Affenlight lächelte. »Für den schmutzigen Teil sind wir nach draußen gegangen.«

David war aufgestanden. »Bella.« Er ging einen Schritt auf sie zu. Affenlight spannte jeden Muskel an, war bereit, sich dazwischenzuwerfen, aber er saß noch immer hinter seinem Tisch, und der Impuls war ohnehin lächerlich. Sie küssten sich wie kultivierte Menschen auf beide Wangen, während Affenlight in Pellas Gesicht nach Anzeichen für Liebe forschte.

David hielt Pella auf Armeslänge an den Schultern. »Was ist mit deinem Finger passiert, Bella?« Sein Tonfall hatte die klassische romantisch-elterliche Färbung, zu gleichen Teilen ermahnend und besorgt.

»Bin gegen einen Baum gelaufen.«

»Die Gefahr besteht hier sicher ständig«, scherzte David. »Einfach zu viele Bäume. Zumindest hat der Bluterguss eine schöne Färbung.« Noch immer hielt er sie bei den Schultern, musterte sie wie ein Eigentümer. Er warf einen ostentativen Blick auf ihr fleckiges Arbeitshemd. »Ich dachte, wir gingen zum Abendessen aus.«

»Tun wir.«

»Bin ich zu schick angezogen?«

Affenlight kannte die Sorte Mann nur allzu gut, die in Gesellschaft von Männern verwelkte, im Kontakt mit Frauen aber aufblühte – extrem heterosexuell, desinteressiert, verächtlich oder ängstlich anderen Männern gegenüber und zugleich extrem gepolt auf die Bedürfnisse und Interessen der Frauen.

»Ich muss mich fertigmachen«, sagte Pella. »Hast du schon im Hotel eingecheckt?«

»Nein, Bella. Ich bin direkt zu dir gekommen.«

»Ich habe für acht Uhr im Maison Robert reserviert. Ich bin sicher, du wirst es hassen, aber etwas anderes gibt es nicht.«

»Ich bin sicher, ich werde es wunderbar finden«, sagte David.

»Gut.« Pella sah Affenlight an. »Soll David dann einfach zurückkommen und uns abholen? Oder wie?«

»Uns?«, sagte David.

Uns?, dachte Affenlight. Bei ihrem morgendlichen Tête-à-tête hatte Pella zwar gesagt, dass sie während Davids Besuch seinen Beistand brauchen würde, aber Affenlight war nicht klar gewesen, dass das beinhalten würde, mit ihm zu Abend zu essen. Nicht dass er etwas dagegen hatte. Wenn Pella ihn als Puffer dabeihaben wollte, war er gern dazu bereit. Es schmeichelte ihm und war ein Zeichen der Hoffnung.

»Uns«, sagte Pella. »Meinen Vater und mich.«

»Bella.« David fing an, in beleidigtem Tonfall leise auf sie einzureden, mit dem Ziel, Affenlight wieder auszuladen. »Also wirklich, ich meine –«

Affenlights Blick schweifte hinaus auf den Hof, und durch den abnehmenden Regen hindurch sah er, dass in den beiden Gaubenfenstern von Phumber 405 Licht brannte. Es war jemand da, vielleicht Henry – dann aber erschien die unverwechselbar schlanke Silhouette im Gegenlicht, schob beidhändig eines der Fenster hoch und beugte sich mit prüfendem Blick hinaus in den Hof. Er verschwand im Zimmer und tauchte mit zwei kleinen, länglichen Gegenständen zwischen den Fingern wieder auf. Den einen steckte er sich zwischen die Lippen, den anderen ließ er hinter vorgehaltener Hand aufflammen und brachte damit die Spitze des ersteren dazu, orange zu erglühen. Und über den dämmerigen Hof gelehnt, die Ellbogen auf dem Fenstersims, rauchte Owen seinen Joint. Ihn dort zu sehen machte Affenlight unendlich traurig. Nicht nur, weil Owen nicht gekommen war, sondern weil er so zufrieden und unabhängig aussah, wie er da lehnte und rauchte und seine Gedanken dachte, so wenig auf Hilfe oder Gesellschaft angewiesen wie ein friedlich äsendes Tier in der Wildnis. Affenlight kam sich nicht nur überflüssig vor, sondern im Angesicht solcher in sich ruhender Ganzheit und heiterer Gelassenheit zudem rettungslos aufgewühlt bis in die Tiefen seiner Seele. Er brauchte Owen, aber Owen – ganz bei sich oder zumindest nie mehr als eine Jointlänge von sich entfernt – würde ihn niemals brauchen.