Kein schlechter Ort
Mam kam drei Tage später nach Salisbury. Während ich mir morgens die Zähne putzte, versuchte ich, wieder den mürrischen Gesichtsausdruck aufzusetzen, den ich so meisterhaft beherrscht hatte, aber plötzlich war es mir, als sähe ich Aleister Jindrichs ewig beleidigtes Gesicht vor mir im Spiegel.
»Ja, Jon Whitcroft, gib es zu!«, flüsterte ich meinem Spiegelbild zu, auch wenn mir das einen irritierten Blick von Stu einfing, der sich neben mir eins seiner Tattoos von der Haut schrubbte. »Dir gefällt es hier, auch wenn du fast von Dämonenhunden zerrissen und beinahe von einem Kirchturm gestoßen worden wärst.«
Natürlich hatte ich nicht vor, Mam das zu erzählen.
Sie holte mich von der Schule ab und ging mit mir in das Café am Marktplatz, wo der Kuchen so gut ist, dass Angus manchmal im Schlaf davon spricht. Sie war genauso nervös wie ich. Ich sah es daran, wie fest sie die Riemen der geschmacklosen Handtasche umklammert hielt, die der Vollbart ihr zur Verlobung geschenkt hatte. Sie war, wie versprochen, ohne ihn gekommen, aber sie ersparte es mir nicht, mich vor Angus und Stu zu küssen und zu umarmen. Zum Glück haben die zwei auch Mütter und taten wie echte Freunde, als hätten sie es nicht gesehen. Als wir auf das Schultor zugingen, entdeckte ich Ella mit zwei ihrer Freundinnen vor uns auf der Straße, aber ich traute mich nicht, ihr nachzurufen, weil ihre Freundinnen entsetzliche Klatschtanten waren. Ella, ich will dir meine Mutter vorstellen hätte ihnen sicher für Wochen Kicher- und Gesprächsstoff geliefert. Trotzdem starrte ich ihr nach. Das dunkle Haar fiel ihr über den Rücken, wie Ella von Salisburys Schleier es in Lacock getan hatte.
»Was ist?«, Mam legte mir die Hand auf die Schulter.
»Ach, nichts«, murmelte ich, während Ella zwischen den Bäumen am Ende der Straße verschwand. Ich hatte ihr natürlich längst erzählt, dass Longspee doch noch in der Kathedrale war. Trotzdem wäre ich gern mit ihr über die Schafswiesen zurück zu Zeldas Haus gegangen und hätte dabei einfach nur über alles und gar nichts geredet. Mit niemandem geht das besser als mit Ella.
»Nichts?«, sagte Mam. »Ich seh dir doch an, dass du über irgendetwas nachdenkst.«
Oje. Das konnte schwierig werden. Worüber sollte ich mit ihr sprechen? Schule? Lehrer? Es ist gar nicht leicht, mit jemandem zu reden, wenn man dabei alles vermeiden muss, was einem wirklich am Herzen liegt. Aber ich war immer noch sicher, dass ich Mam weder von Stourton noch Longspee erzählen wollte.
»Jon?«, begann sie erneut. Was immer heißt, dass es wirklich ernst wird. »Ich bin hergekommen, um mit dir zu reden.«
Oh nein.
»Mam!«, unterbrach ich sie hastig. »Wir müssen nicht reden. Wirklich nicht.«
Das stürzte sie die ganze High Street lang in verlegenes Schweigen, bis auf eine kurze Abschweifung über meine jüngste Schwester, die einen Vogel mit einem gebrochenen Bein nach Hause gebracht hatte.
Das Café am Marktplatz war gut besucht, also stiegen wir die Treppe hinauf in den ersten Stock, wo nur ein paar alte Damen an ihrem Tee nippten und uns neugierig musterten, als wir uns an einen der Tische am Fenster setzten. Ich biss in mein zweites Eclair, als meine Mutter sich räusperte und begann, Knoten in ihre Serviette zu machen (was bei Papierservietten wirklich eine Kunst ist).
»Jon?«, begann sie erneut. »Ich bin hier, um dir zu sagen, dass du wieder nach Hause kommen kannst.«
Ich verschluckte mich an meiner Cola. Ich weiß. Es war entsetzlich peinlich. All der Schaum, der mir aus der Nase rann und Mam, die mir panisch auf dem Rücken herumtrommelte. Als ich endlich wieder Luft bekam, erzählte sie mir stolz, dass sie sogar schon mit dem Schuldirektor gesprochen hatte. Ich hatte gewonnen! Ich hatte tatsächlich gewonnen. Aber alles, was ich denken konnte, war: keine Ella mehr, kein Angus, kein Stu. Keine Kröten in Zeldas Garten, kein Alma-Lavendelseifenduft. Keine Popplewells, kein Bischofspalast, keine Choristentrachten auf dem Schulkorridor, keine Tinkerbell-Begrüßung am Morgen (»Hallo, Jon, ist das heute nicht ein wunderbarer Tag?«). Ich war sogar sicher, dass ich Bonapart vermissen würde und den toten Aleister, von Longspee ganz zu schweigen.
»… na ja, wie auch immer«, hörte ich Mam sagen. »Es wird dich bestimmt freuen zu hören, dass ich nicht mehr so sicher bin, ob Matthew der richtige Mann für mich ist …«
»Was?«
Ich starrte sie so entgeistert an, dass sie rot wie das Tischtuch wurde.
»Er … er ist vor ein paar Tagen zu seiner Mutter gefahren. Ich habe sie nur einmal getroffen. Sie ist etwas absonderlich. Ich bin nicht sicher, ob ich dir erzählt habe, dass sie Kröten im Haus hat? Wie auch immer … Matthew war sie besuchen, in irgendeiner Familienangelegenheit, und seit er zurück ist, benimmt er sich seltsam. Er hat sich den Bart abrasiert, was gut ist, denn der gefiel mir nie, aber er stellt mir die merkwürdigsten Fragen! Ob ich an Geister glaube und was ich von Rittern halte und ob …«, sie nahm hastig einen Schluck von ihrem Kaffee, »… ob ich nach seinem Tod sein Herz in unserem Garten vergraben würde. Ich … ich weiß, du mochtest ihn nie, und ich schätze, ich hätte dich fragen sollen, warum. Also, ja … ich werde ihn wohl nicht heiraten.«
Ich sah, dass ihr Tränen in den Augen standen, aber von mir erwartete sie bestimmt einen Freudenausbruch. Stattdessen saß ich da, das Eclair in den zuckerverklebten Fingern, und konnte nur daran denken, wie der Vollbart sich auf dem Friedhof von Kilmington mit Zeldas Flinte in den Büschen versteckt hatte.
»Ich glaube, das ist eine dumme Idee, Mam«, hörte ich mich sagen. Ich hätte mir die Zunge abbeißen können!
Mam wischte sich mit der Serviette die Tränen aus den Augen und verschmierte dabei ihre Wimperntusche. »Willst du mich veralbern?«, fragte sie gereizt.
»Nein, wirklich!«, gab ich mit gesenkter Stimme zurück (die drei alten Damen lehnten sich schon in unsere Richtung). »Und diese Fragen, die er gestellt hat … ich … also, ich finde, das sind wirklich gute Fragen.«
Ich wusste nicht, was in mich gefahren war. Hatte Longspee für alle Zeiten meine noble Seite zum Vorschein gebracht? Du Idiot! Du kannst den Vollbart für alle Zeiten loswerden!, zischte mein gar nicht so nobles Selbst. Nun greif schon zu! Aber die noble Seite flüsterte sehr schlau zurück: Ach ja? Heißt das, du willst auch Ella nicht mehr in deinem Leben haben? Schließlich ist er ihr verdammter Onkel!
Meine Mutter starrte mich immer noch ungläubig an.
»Wirklich gute Fragen?«, sagte sie.
Falsches Thema, Jon! Nun mach schon, lenk sie ab.
»Mam«, sagte ich und nahm einen stärkenden Bissen von meinem Eclair, was das Sprechen nicht leichter machte. »Eigentlich … eigentlich will ich nicht nach Hause. Ich mag es hier. Also warum heiratest du nicht den Vollbart und ich komm jedes zweite Wochenende zu Besuch?«
»Oh, Jon!«, stammelte sie – und brach in Tränen aus!
Sie strömten ihr nur so aus den Augen, und eine der alten Damen kam zu uns herüber und reichte ihr ein Taschentuch (ein ziemlich abscheuliches mit rosa Spitze und gestickten Rosen). Der Blick, den sie mir dabei zuwarf, drückte deutlich aus, dass sie weder von mir noch von Kindern im Allgemeinen allzu viel hielt. Meine Mutter aber färbte die gestickten Rosen mit ihrer Wimperntusche schwarz und begann zu kichern. Die Blicke, die die drei alten Damen daraufhin austauschten, zeigten, dass sie auch von kichernden Müttern nicht allzu viel hielten.
»Mam!«, raunte ich über den Tisch. »Es ist alles gut! Ich kann auch jedes Wochenende kommen!«
»Ach, Jon!«, flüsterte sie und wischte sich noch einmal hektisch an den Augen herum. Dann lehnte sie sich über den Tisch, zog mich an sich und drückte mich so heftig, dass ich dachte, sie würde mich nie wieder loslassen. Als sie es schließlich tat, sah sie ziemlich glücklich aus. Sie lächelte sogar den drei Damen zu. Dann gab sie das geschwärzte, tränennasse Taschentuch zurück und wir stiegen die Treppe hinunter und bezahlten meine Eclairs und ihren Kaffee.
Es war ein schöner Tag, wärmer als jeder andere, den ich bislang in Salisbury erlebt hatte, und wir redeten über meine Schwestern und unseren Hund und dass der Vollbart allergisch gegen seine Haare war – und irgendwann fanden wir uns auf dem Domhof wieder.
»Komm, lass uns in die Kathedrale gehen«, sagte Mam. »Ich bin zuletzt mit deinem Vater dort gewesen.«
Die Kreuzgänge waren fast menschenleer und auch in der Kathedrale war kaum jemand. Wir gingen den Hauptgang hinunter, bis meine Mutter plötzlich stehen blieb. Vor Longspees Sarg.
»Dein Vater liebte dieses Grabmal«, sagte sie. »Er wusste alles über diesen Ritter. Ich erinnere mich nicht an seinen Namen …«
»Longspee«, sagte ich. »William Longspee.«
»Genau! Das war sein Name. Sie bringen dir eine Menge bei in dieser Schule! Dein Vater war besessen von ihm. Einmal ist er mit mir hinauf nach Old Sarum gefahren, nur um mir den Ort zu zeigen, wo Longspee gestorben ist. Weißt du, dass man sagt, dass er vergiftet wurde?«
»Ja«, sagte ich. »Und er war sehr verliebt in seine Frau.«
»Ach ja?«
»Mam?«, fragte ich zurück. »Hat Dad dir je erzählt, dass er Longspee getroffen hat?«
»Getroffen? Wie meinst du das?«
Sie sah mich verständnislos an. Also nicht. Oder er hatte ihr nicht davon erzählt. So wie ich.
»Glaubst du an Geister, Mam?«
Sie musterte Longspees Marmorgesicht und ließ den Blick an all den anderen Toten entlangwandern, die zwischen den Säulen schliefen.
»Nein«, sagte sie schließlich. »Nein, tue ich nicht. Denn, wenn es Geister gäbe, hätte dein Vater mich besucht, nachdem er gestorben ist.« Sie griff in ihre Tasche. »Oh, warum hab ich der alten Dame nur ihr abscheuliches Taschentuch zurückgegeben?«, murmelte sie mit tränenerstickter Stimme. »Ich hätte wissen müssen, dass ich es noch brauchen werde!«
Ich griff nach ihrer Hand. »Es ist gut, dass er nicht zurückgekommen ist, Mam«, sagte ich leise. »Es beweist, dass er glücklich ist, dort, wo er ist. Geister sind nicht gerade glücklich, weißt du?«
Sie blickte mich an, als sähe sie mich zum ersten Mal. »Seit wann denkst du über Geister nach, Jon? Alle reden plötzlich über Geister! Hat Matthew dir diese Gedanken etwa in den Kopf gesetzt?«
»Nein!«, antwortete ich. »Wir haben in der Schule darüber gesprochen.« Es war kein gutes Gefühl, in einer Kathedrale zu lügen, aber ich hatte wirklich nicht den Eindruck, dass meine Mutter die ganze Stourton-Longspee-Geschichte an diesem Tag verkraftet hätte. Der Vollbart und ich erzählten sie ihr erst viele Jahre später, und ich bin bis heute nicht sicher, ob sie uns geglaubt hat.
»In der Schule?«, fragte Mam ungläubig. »Sie reden mit euch über Geister? In welchem Fach?«
»Oh, ehm … Englisch«, stotterte ich. »Du weißt schon, Shakespeare und so.«
»Ah ja«, sagte sie. »Sicher.« Dann drückte sie meine Hand und strich mir durchs Haar (was ich mit elf natürlich äußerst peinlich fand). »Was hältst du davon, wenn wir uns von dem toten Ritter verabschieden und essen gehen?«
»Gute Idee«, murmelte ich – und glaubte für einen Moment, Longspee zwischen den Säulen stehen zu sehen, mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Ein paar Wochen später fragte ich ihn, ob er vor etwa fünfunddreißig Jahren einen Jungen namens Laurence Whitcroft getroffen hatte. Aber mein Vater hat Longspee nie gerufen, vielleicht weil er auch damals schon einfach nur glücklich war.
»Was ist mit Freunden?«, fragte meine Mutter, als wir Seite an Seite über den Rasen vor der Kathedrale schlenderten. »Sind deine besten Freunde die beiden Jungen, die wir vor der Schule getroffen haben?«
»Angus und Stu?«, fragte ich. »Ja. Obwohl … nein, eigentlich nicht.«
»Was heißt das nun wieder?«, fragte Mam.
Die Abendsonne schien auf die alten Häuser ringsum, und mir fiel auf, dass wir genau dort standen, wo Stourton mich eingeholt und Bonapart mich aufgesammelt hatte.
»Mein bester Freund ist ein Mädchen«, sagte ich. »Und du kennst ihren Onkel. Du willst ihn sogar heiraten.«