Hartgill
Am nächsten Morgen war ich so müde, dass ich mir kaum die Schuhe zubinden konnte. Angus und Stu wechselten einen besorgten Blick, als ich zum Fenster ging, um auf die Mauer hinunterzustarren, vor der ich die Geister gesehen hatte. Aber keiner von uns verlor ein Wort über das, was in der Nacht geschehen war, und ich aß zum Frühstück so viel Porridge, wie ich, ohne mich zu übergeben, herunterbekam, und beschloss, das Ganze zu vergessen.
Beim Mittagessen dachte ich schon wieder darüber nach, ob der Vollbart inzwischen mit meiner Mutter in der spanischen Sonne briet, und am Nachmittag ließ mich ein Grammatiktest die drei bleichen Gestalten endgültig vergessen.
Es war gerade erst dunkel geworden, als Mr Rifkin die Internatsschüler, wie an jedem Abend, vor der Schule versammelte, um sie über den spärlich beleuchteten Domhof zurück in die Obhut von Alma und Edward Popplewell zu führen. Keiner von uns mochte Rifkin. Ich glaube, er mochte sich selbst auch nicht besonders. Er war nicht viel größer als wir und musterte uns ständig mit so säuerlichem Gesicht, als verursachten wir ihm Zahnschmerzen. Das Einzige, was ihn glücklich machte, waren vergangene Kriege. Rifkin zerbrach jedes Mal ein Dutzend Kreiden vor Begeisterung, wenn er uns die Heeresaufstellungen berühmter Schlachten auf die Tafel malte. Das und die Angewohnheit, sich das dünne Haar mit größter Sorgfalt, aber wenig Erfolg über den kahlen Schädel zu kämmen, hatte ihm den Namen Bonapart eingebracht (ja, ich weiß, das E fehlt, aber wir alle hatten unsere Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung französischer Namen).
Auf dem Rasen vor der Kathedrale leuchteten die Scheinwerfer auf, die sie nachts anstrahlten. Sie bleichten die grauen Mauern, als hätte sie jemand mit Mondlicht gewaschen. Der Domhof war um diese Zeit fast menschenleer und Bonapart scheuchte uns ungeduldig an den parkenden Autos vorbei. Es war ein kühler Abend, und ich fragte mich, während wir alle im kalten englischen Wind froren, ob der Vollbart schon einen Sonnenbrand hatte und meine Mutter ihn mit schälender Haut weniger aufregend finden würde.
Die drei Reiter waren nicht mehr als ein böser Traum, den das Tageslicht mir aus dem Gedächtnis gewaschen hatte. Aber sie hatten mich nicht vergessen. Und diesmal bewiesen sie mir, dass sie nicht nur Einbildung waren.
Das Internatshaus liegt nicht gleich an der Straße. Es steht am Ende eines breiten Fußwegs, der von der Straße abbiegt und an ein paar Häusern vorbei auf das Tor zuführt, hinter dem sich Haus und Garten befinden. Sie warteten neben dem Tor, hoch zu Pferd, wie in der vergangenen Nacht, und diesmal waren sie zu viert.
Ich blieb so abrupt stehen, dass Stu in mich hineinstolperte.
Natürlich sah er sie auch diesmal nicht. Niemand sah sie. Außer mir.
Der vierte Geist ließ die anderen drei wie zerlumpte Wegelagerer aussehen. Sein hohlwangiges Gesicht war starr vor Hochmut und seine Kleider waren sicher irgendwann die eines reichen Mannes gewesen. Doch um die Handgelenke trug er eiserne Ketten und um seinen Hals hing eine Galgenschlinge.
Er war ein so furchtbarer Anblick, dass ich ihn nur anstarren konnte, aber Bonapart wandte nicht mal den Kopf, als er an ihm vorbeiging.
Gib schon zu, du ahnst den Grund, warum niemand außer dir sie sieht, Jon Whitcroft!, flüsterte es in mir, während ich dastand und kein Glied rühren konnte. Sie haben es nur auf dich abgesehen!
Aber warum?, schrie alles in mir. Warum ich, verflucht! Was wollen sie von mir?
Von einem der Dächer krächzte ein Rabe, und der Anführer stieß seinem Pferd die Sporen in die Seiten, als hätte der heisere Schrei ihm das Zeichen gegeben. Mit hohlem Wiehern bäumte es sich auf – und ich drehte mich um und rannte.
Ich bin kein besonders guter Läufer. Aber in dieser Nacht rannte ich um mein Leben. Ich spür noch heute mein rasendes Herz und das Stechen in meinen Lungen. Ich rannte an den alten Häusern vorbei, die im Schatten der Kathedrale stehen, als suchten sie Schutz bei ihr vor der Welt, die außerhalb der alten Stadtmauer lärmt, vorbei an parkenden Autos, erleuchteten Fenstern und verschlossenen Gartentoren. Renn, Jon! Hinter mir hallten die Hufschläge über den abendlichen Domhof, und ich glaubte, den Atem der Höllenpferde in meinem Nacken zu spüren.
Bonapart rief meinen Namen: »Whitcroft! Whitcroft, zum Teufel, bleib sofort stehen!«, … aber der Teufel war es ja, der hinter mir her war, und plötzlich hörte ich eine andere Stimme … falls es eine Stimme war.
Ich hörte sie in meinem Kopf und meinem Herzen. Hohl und heiser und so grausam, dass ich sie wie ein stumpfes Messer in meinem Innern spürte.
»Ja, renn, Hartgill!«, höhnte sie. »Renn. Wir jagen nichts lieber als deine schmutzige Brut. Und noch ist uns keiner entkommen.«
Hartgill? Das war der Mädchenname meiner Mutter. Nicht, dass sie aussahen, als ob sie diese Feinheit interessierte. Ich stolperte weiter, schluchzend vor Angst. Der mit den strähnigen Haaren schnitt mir den Weg ab und die anderen drei waren hinter mir. Zu meiner Rechten reckte die Kathedrale ihren Turm den Sternen entgegen.
Vielleicht rannte ich auf sie zu, weil sie dastand, als könnte nichts ihre Mauern erschüttern. Aber der weite Rasen, der sie umgab, war nass vom Regen, und ich rutschte bei jedem Schritt aus, bis ich schließlich keuchend auf den Knien landete. Ich kauerte mich zitternd auf den kalten Boden und schlang die Arme um den Kopf, als könnte mich das vor meinen Jägern verbergen. Kälte hüllte mich ein wie Nebel und über mir wieherte ein Pferd.
»Das Morden ist ohne die Jagd nur der halbe Spaß, Hartgill!«, raunte die Stimme in meinem Kopf. »Aber am Ende ist der Hase immer tot.«
»Mein Name ist Whitcroft!«, stammelte ich. »Whitcroft!« Ich wollte um mich schlagen, treten, ihre weißen Leiber zur Hölle schicken, wo sie herkamen. Aber stattdessen hockte ich im feuchten Gras und übergab mich fast vor Angst.
»Whitcroft!«, Bonapart beugte sich über mich. »Whitcroft, steh auf!«
Ich war nie zuvor so glücklich gewesen, die Stimme eines Lehrers zu hören. Ich vergrub mein Gesicht im Gras und schluchzte, aber diesmal vor Erleichterung.
»Jon Whitcroft! Sieh mich an!«
Ich gehorchte, und Bonapart fischte ein Taschentuch aus der Tasche, als er mein verheultes Gesicht sah. Mit zitternden Fingern griff ich danach und lugte an ihm vorbei.
Die Geister waren fort. Ebenso wie die Stimme. Aber die Angst war noch da. Sie klebte mir wie Ruß auf dem Herzen.
»Himmel, Whitcroft. Nun steh schon auf!« Bonapart zog mich auf die Füße. Die anderen Kinder standen am Rand des Rasens und starrten mit großen Augen zu uns herüber.
»Ich nehme an, du hast eine Erklärung für diesen ziellosen Spurt durch die Nacht?«, fragte Bonapart, während er mit Abscheu meine schmutzigen Hosen musterte. »Oder wolltest du uns allen nur beweisen, wie schnell du laufen kannst?«
Meine Knie zitterten immer noch, aber ich versuchte mein Bestes, so gefasst wie möglich zu klingen, als ich antwortete: »Da waren vier Geister. Geister auf Pferden. Sie … sie haben mich gejagt.«
Das Ganze klang selbst in meinen Ohren idiotisch. Ich schämte mich so sehr, dass ich mir wünschte, der feuchte Rasen würde mich auf der Stelle verschlucken. Angst und Schande. Konnte es noch schlimmer kommen? Oh ja, Jon.
Bonapart seufzte und blickte so anklagend an der beleuchteten Kathedrale hinauf, als hätte sie mir diese lächerliche Geschichte eingeflüstert.
»Also gut, Whitcroft«, sagte er, während er mich nicht sonderlich sanft zurück zur Straße zog. »Mir scheint, wir haben es hier mit einem ungewöhnlich heftigen Anfall von Heimweh zu tun. Vermutlich haben diese Geister dir befohlen, auf der Stelle nach Hause zu rennen, stimmt’s?«
Wir standen inzwischen wieder bei den anderen und eins der Mädchen fing an zu kichern. Aber der Rest musterte mich so besorgt, wie Stu es in der Nacht zuvor getan hatte.
Ich hätte mir auf die Zunge beißen und meine Wut über so viel Blindheit und ungerechten Spott herunterschlucken sollen, aber ich bin nicht allzu gut im Herunterschlucken. Ich hab es bis heute nicht gelernt.
»Sie waren da, ich schwör’s! Was kann ich dafür, dass keiner sonst sie sieht? Sie hätten mich fast umgebracht!«
Bleierne Stille breitete sich aus, und einige der Jüngeren wichen vor mir zurück, als hätten sie Angst, mein Wahnsinn könnte ansteckend sein.
»Sehr beeindruckend!«, sagte Bonapart, während seine kurzen Finger sich fest um meine Schulter schlossen. »Ich hoffe, du beweist in deinem nächsten Geschichtsaufsatz ebenso viel Erfindungsreichtum.«
Bonapart ließ meine Schulter erst los, als er mich bei den Popplewells abgeliefert hatte. Zum Glück erwähnte er ihnen gegenüber mit keinem Wort, was geschehen war, aber Angus und Stu waren für den Rest des Abends sehr schweigsam. Sie waren inzwischen bestimmt sicher, dass sie das Zimmer mit einem Verrückten teilten, und fragten sich, was geschehen würde, wenn ich erst vollends den Verstand verlor.