Ein längst vergessener Schwur
Die alten Häuser verschwammen schon in der Dämmerung, als Ella und ich den Domhof wieder betraten. Vor der Kathedrale waren kaum noch Touristen zu sehen, obwohl die Stadtmauertore erst um zehn geschlossen werden, und ich hatte nicht zum ersten Mal das Gefühl, dass die Zeit den Domhof von Salisbury vergessen hatte. Nur die parkenden Autos verrieten, dass wir im 21. Jahrhundert waren.
Die Kathedrale reckte sich in den Himmel, als wollte ihr Turm die dunklen Abendwolken berühren, und ihre Mauern schienen erneut Schutz vor allem Schrecken in der Welt zu versprechen. Aber wie? Ich konnte mich nicht für den Rest des Schuljahres in einer Kirche verstecken.
»Ella, was genau machen wir hier?«, fragte ich, während ich ihr über die weite Rasenfläche folgte, auf der Stourton mich eingeholt und ich vor Bonapart auf den Knien gelegen hatte. Zu unserer Linken sah man durch die Bäume die Mauern der Schule. Mrs Cunningham hatte mich mittlerweile bestimmt schon beim Direktor gemeldet.
»Wir besuchen jemanden, der dir helfen kann«, sagte Ella. »Oder hast du es dir überlegt und willst doch lieber deine Mutter anrufen?«
Aus ihrem Mund klang diese Lösung noch peinlicher.
»Nein«, gab ich barsch zurück. »Nein. Natürlich nicht.« Und beschloss, fürs Erste keine weiteren Fragen zu stellen.
Wir nahmen den Eingang in den Kreuzgängen, den auch die meisten Touristen benutzen. Die Steinbögen warfen lange Schatten, und auf dem Rasen zwischen ihnen fing die riesige Zeder, die dort seit Jahrzehnten wächst, die Dunkelheit in ihren Zweigen.
Bei allen Heiligen, die von den Dächern der Kathedrale auf uns herabstarrten – wen wollte Ella hier treffen? Glaubte sie etwa, dass einer der Priester Stourton verscheuchen konnte? Oder einer der steinernen Engel? Ich sah mich zwischen den Säulen nach dem toten Steinmetzlehrling um, aber Ella winkte mich ungeduldig zum Eingang der Kathedrale.
Hinter den schweren Türen war es so kühl, dass ich fröstelte, und das Dämmerlicht zwischen den grauen Mauern legte sich wie ein schützender Mantel um meine Schultern, auch wenn mir bei ihrem Anblick die Graue Frau einfiel, von der Ella erzählt hatte.
Ella zahlte den Eintritt für uns und zog mich den Mittelgang hinunter, der auf den Altar zuführt. In dem Chorgestühl dahinter sang Angus fast jeden Tag die Hymnen, die er im Schlaf vor sich hin summte. Um uns herum wuchsen die Säulen wie Bäume in die Höhe, und über unseren Köpfen verzweigten sich die Streben, die die Decke hielten, als hätten die Säulen steinerne Äste getrieben. Die riesige Kirche war fast leer. Kaum ein Dutzend Besucher verlor sich in ihren Gängen, aber als unsere Schritte durch die Stille hallten, glaubte ich für einen Moment, die Schritte all der anderen zu hören, die seit Jahrhunderten hierherkamen, um für irgendetwas um Hilfe zu bitten.
Ella blieb stehen. Vor uns krümmten sich die vier Säulen, die das Turmdach der Kathedrale stützen. Sie biegen sich tatsächlich, weil irgendein Bischof sich vor Hunderten von Jahren in den Kopf gesetzt hat, dass die Kathedrale von Salisbury die erste Kirche mit einem spitzen Dach sein sollte. Die zusätzliche Last hat den Turm fast zum Einsturz gebracht. Aber Ella zog mich nicht zwischen die gekrümmten Säulen, sondern zu einem Sarkophag, der rechts von uns vor den Pfeilern stand. Das letzte Tageslicht fiel durch die hohen Kirchenfenster und zeichnete seinen Schatten auf die ausgetretenen Steinfliesen.
»Das ist er!«, flüsterte Ella.
Das war wer?
Auf dem Sarkophag schlief ein Ritter. Er lag ausgestreckt auf dem steinernen Sarg, das Schwert in den behandschuhten Händen, das Gesicht zur Seite gekehrt. Es war unter dem Helm, den er trug, kaum zu sehen. Eine Tafel neben dem Sarg erklärte, dass sein Abbild früher bemalt gewesen war, aber die Zeit hatte die Farben ausgebleicht und seine steinernen Glieder fahlweiß wie die Knochen eines Toten gefärbt.
»Sein Name ist William Longspee«, flüsterte Ella. »Er war der uneheliche Sohn von Heinrich dem Zweiten und der Bruder von Richard Löwenherz. Er kann dich vor Stourton schützen. Du musst ihn nur rufen!«
Ich starrte hinunter auf das gemeißelte Gesicht.
Dafür hatte sie mich hergebracht? Enttäuschung schnürte mir die Kehle zu. Gut, ja. Die letzten zwei Nächte hatten mich für alle Zeit davon überzeugt, dass die Toten sehr lebendig sein konnten. Aber das hier war nichts als eine Figur aus Stein.
»Für seinen Sohn gibt es auch ein Denkmal in der Kathedrale«, raunte Ella. »Aber er liegt in Israel begraben, weil er in den Kreuzzügen umgekommen ist. Sie haben ihn in Stücke gehackt, sagt Zelda. Ziemlich abscheulich.«
Draußen starb der Tag und die Kathedrale füllte sich mit Dunkelheit. Wahrscheinlich warteten Stourton und seine Knechte schon auf mich.
»Verdammt, Ella!«, zischte ich. »Ist das der Ritter, nach dem du Zelda gefragt hast?«
»Ja. Ich bin sicher, dass die Geschichten über ihn wahr sind. Es hat ihn nur lange niemand mehr gerufen. Und man muss wirklich Hilfe brauchen, sonst kommt er nicht!«
Zwei Frauen blieben neben uns stehen und begannen, die bildhauerischen Qualitäten von Longspees Grabmal zu diskutieren. Aber Ella blickte sie so finster an, dass sie schließlich unbehaglich schwiegen und weitergingen.
»Ich hab einen Aufsatz über ihn geschrieben«, flüsterte Ella, sobald wir wieder allein waren. »Er soll einen Eid geschworen haben, als er aus dem Krieg zurückkehrte!« Sie senkte die Stimme: »Ich, William Longspee, werde keinen Frieden finden, bis ich meine Seele reingewaschen habe von allen schandhaften Taten, indem ich den Unschuldigen gegen die Grausamen beistehe und den Schwachen ge-gen die Starken. Dies schwöre ich, so wahr mir Gott helfe. Aber dann ist er plötzlich gestorben, und angeblich versucht er immer noch, seinen Eid zu erfüllen.«
Ella sah mich auffordernd an.
»Was?«, flüsterte ich. »Das ist total verrückt! Nicht alle Toten kommen zurück, Ella!«
Zumindest hoffte ich das.
Ella verdrehte die Augen und blickte sich um, als flehte sie sämtliche Heilige, die uns umgaben, um Hilfe an.
»Hast du etwa eine bessere Idee?«, flüsterte sie. »Wer kann dich vor diesen Geistern besser beschützen als ein anderer Geist?«
»Das ist keine Idee!«, zischte ich zurück. »Das … das ist Wahnsinn!«
Aber Ella beachtete mich nicht. Sie hatte sich umgewandt. Mehr und mehr Leute kamen den Mittelgang herunter. Natürlich. Die Choristen würden bald die Abendmesse singen und Angus würde auch dabei sein. Was, wenn er den Popplewells erzählte, dass er mich in der Kathedrale gesehen hatte?
Ich griff nach Ellas Arm und zog sie hastig zwischen die Säulen hinter Longspees Sarg.
»Dein Ritter ist vermutlich nicht mal hier begraben!«, raunte ich ihr zu, während ich mich gegen den grauen Stein lehnte. »Oder hat Bonapart euch etwa nicht erzählt, dass sie die Gräber in der Kathedrale ständig verlegt haben? Manchmal haben sie sogar die Knochen verloren oder sie vertauscht!«
Da. Die Choristen tauchten in ihren grünen Gewändern zwischen den Stuhlreihen auf. Angus war einer der ersten und hatte wie immer die Finger in den hohen weißen Kragen gesteckt. Er stöhnte ständig darüber, wie sehr das steife Ding ihm den Hals abschnürte.
»Nun, in diesem Sarg liegt auf jeden Fall William Longspee!«, zischte Ella, während die Choristen, gefolgt von den Priestern, an uns vorbei auf den Altar zuschritten. »Und weißt du, warum? Weil sie, als sie das Grabmal hierher verlegt haben, eine tote Ratte in seinem Schädel gefunden haben. Du kannst sie im Museum von Salisbury anschauen!«
Ich unterdrückte einen Anflug von Übelkeit und gab mir alle Mühe, unbeeindruckt dreinzublicken. »Und?«
Ella seufzte über so viel Begriffsstutzigkeit. »Longspee ist so plötzlich gestorben, dass alle glaubten, er wäre vergiftet worden. Aber man konnte es nicht beweisen. Bis sie die Ratte fanden! Sie war voller Arsen!«
Die Geschichte schien ihr zu gefallen. Mir gefiel sie nicht. Mörder und Ermordete. Was war mit meinem Leben passiert? Für einen Moment malte ich mir aus, den Vollbart so ausgebleicht und versteinert auf seinem Sarkophag liegen zu sehen. Aber ein Blick auf die dunklen Kirchenfenster erinnerte mich daran, dass ich zurzeit wirklich andere Sorgen hatte.
Hinter dem Altar zündeten die Messdiener die Kerzen an, und draußen suchte Stourton vermutlich schon das Fenster aus, durch das er mich stoßen würde. Während ich mit einem Mädchen, das ich kaum kannte, über tote Ritter und vergiftete Ratten redete.
»Du musst ihn rufen!«, flüsterte Ella. »Sobald wir allein sind!«
Die Choristen begannen zu singen. Ihre Stimmen hallten in der dunklen Kirche wider, als hätte sie selbst zu singen begonnen.
»Allein? Und wie soll das gehen?«, flüsterte ich zurück. »Die Kathedrale wird nach der Abendmesse geschlossen!«
»Und? Wir lassen uns einschließen.«
»Einschließen?« Es wurde immer schlimmer.
Ella griff wortlos nach meiner Hand. Sie zog mich den Nordgang hinunter. Hinter mir hörte ich Angus das Solo anstimmen, das er morgens vor dem Waschraumspiegel geübt hatte. Ella aber blieb vor einer Tür aus dunklem Holz stehen, die mit Eisennägeln beschlagen war. Sie drückte die Klinke herunter, warf einen raschen Blick nach links und rechts und öffnete sie. Der Raum dahinter war kaum größer als ein Schrank. Ella schubste mich hinein und zog die Tür hinter uns zu.
»Perfekt, oder?«, hörte ich sie flüstern. »Ein Chorist hat sie mir gezeigt.«
»Wozu?« Es machte mich nervös, mit ihr auf so engem Raum in der Dunkelheit zu stecken.
»Er wollte mich küssen.« Der Abscheu in Ellas Stimme war nicht zu überhören. »Aber zum Glück bin ich stärker als sie alle.«
Ich war froh, dass sie in der Dunkelheit nicht sehen konnte, wie rot ich wurde. Ich hatte mir gerade ausgemalt, wie es sich wohl anfühlte, ihr Haar anzufassen.
Der Gesang der Choristen war selbst durch die Tür noch zu hören. Angus behauptete, dass er mit seiner Stimme ein Glas zerspringen lassen konnte, aber den Beweis war er Stu und mir bisher schuldig geblieben.
»Hört sich schön an, oder?«, flüsterte Ella.
Ich war nicht sicher. Seit der Vollbart in mein Leben gestolpert war, war mir nach sehr, sehr lauter Musik und nicht nach Friede auf Erden. Umso mehr erstaunte mich, dass Angus, der sich ständig prügelte und bei jedem Rugbyspiel die Beherrschung verlor, solche Engelsharmonien von sich gab und daran offenbar auch noch Spaß hatte. »Wie kannst du nur in dieser idiotischen Kluft herumlaufen?«, hatte ich ihn gefragt, als ich ihn zum ersten Mal seine Tracht anlegen sah (ich war selbst gerade beim Aufnahmetest für die Choristen durchgefallen). »Whitcroft, du hast keine Ahnung!«, hatte Angus nur mit einem mitleidigen Lächeln geantwortet – und sich ein paar Hundehaare von der grünen Kluft gewischt. Vermutlich hatte er recht und leider traf das nicht nur auf Choristentrachten zu. Von Mädchen verstand ich definitiv nichts, und so brachte mich das Warten mit Ella in der dunklen Kammer fast ebenso aus dem Gleichgewicht wie Stourtons hohles Flüstern.
»Ja. Ja, es klingt wirklich nicht schlecht«, murmelte ich – und zog hastig den Ellbogen ein, als ich Ellas Arm streifte. Was tust du hier, Jon Whitcroft?, dachte ich. Willst du dich allen Ernstes zum Narren machen, indem du versuchst, einen toten Ritter aus dem Schlaf zu wecken?
Die Abendmesse dauerte kaum eine Stunde, aber mir schien es, als wäre ein Jahr vergangen, als der Gesang und die Orgel endlich verstummten und stattdessen der Klang von Schritten und gedämpftem Gelächter zu uns hereindrang.
Sie gingen.
Wir hörten, wie die Türen verschlossen wurden, hörten die einsamen Schritte des Küsters, der das Licht ausmachte, und dann nichts als Stille.
Wir waren allein in der Kathedrale.
Allein mit den Toten.