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Die Kirche der Hartgills

Der Friedhof von Kilmington liegt am Ende einer schma- len, verschlafenen Straße, die wahrlich nicht so aussieht, als ritten nachts tote Mörder an den Häusern vorbei. Zu seiner Rechten steht immer noch das Haus, in dem einst die Hartgills wohnten. Natürlich hat es sich in den letzten fünfhundert Jahren verändert, aber was uns alle für einen Moment erstarren ließ, war das »ZU VERKAUFEN«-Schild, das vor dem Gartentor stand. Ich bin sicher, jeder von uns dachte dasselbe: dass die Bewohner es entweder leid waren, neben einem Friedhof zu wohnen, auf dem eine Bande toter Mörder spukte, oder, falls der Vollbart mit seinen Geschichten recht hatte, nicht mehr lebten. Ich entschied mich, über die zweite Möglichkeit vorerst nicht nachzudenken.

Das Tor in der hohen Hecke, die den Friedhof umgibt, war abgeschlossen, also kletterten ich und der Vollbart hinüber. Zelda versuchte es auch, aber schließlich musste sie mit grimmiger Miene unsere Hilfe annehmen. Ich glaube, sie konnte sich nur schwer mit der Tatsache abfinden, dass sie tatsächlich schon fünfundsiebzig war.

Hinter der Hecke war es so still, dass ich meinen eigenen Herzschlag zu hören glaubte, aber die Stille hatte nichts Friedliches. Sie schien erfüllt von Seufzern und stummen Schreien – als hätte die Erde selbst die Erinnerung an das bewahrt, was hier vor langer Zeit geschehen war. Die Mauern der Kirche, die zwischen den Grabsteinen stand, waren zerfurcht wie das Gesicht eines alten Mannes, und ihre dunklen Fenster sahen aus wie Augen, die uns beobachteten.

»Nach Stourtons Namen brauchst du hier nicht zu suchen«, sagte Zelda, als ich die Grabsteine musterte. Die meisten waren so verwittert, dass sie wie schlechte Zähne aus dem kurzen Gras ragten. »Er wurde in Stourhead begraben, dem Besitz der Stourtons. Ich habe mich immer gefragt, warum er nicht dort spukt. Dieser Friedhof ist nicht mal der Ort des Mordes. Hier wurde William Hartgill noch durch den Heldenmut seines Sohnes gerettet.«

»Wer weiß. Vielleicht mag Stourton die Touristen in Stourhead nicht«, sagte der Vollbart, während er sich umsah.

Der Himmel verdunkelte sich schon, aber die Sonne würde frühestens in einer Stunde untergehen. Was, wenn sie Ella bis dahin längst zu Tode erschreckt hatten? Mein Herz zog sich zusammen wie eine Faust.

»Ella?«, rief ich. »Ella!«

Natürlich kam keine Antwort. Fang bloß nicht an zu heulen, Jon Whitcroft!, befahl ich mir. Der Vollbart wird es als weiteren Beweis dafür nehmen, dass du ein verzogener Schwächling bist, und Ella würde es auch nicht gefallen! Aber es half nichts. Die Tränen stiegen mir trotzdem in die Augen.

Zum Glück lenkte Zelda mich ab.

»Komm mit, Jon«, sagte sie. »Ich will dir etwas zeigen.«

Die Kirche war auch abgeschlossen, aber der Vollbart knackte das Schloss mit einem Stück Draht.

»Wer sich gern verlassene Häuser ansieht, in denen es angeblich spukt, muss so etwas können«, sagte er nur, als er meinen entgeisterten Blick bemerkte.

Ich fragte mich, ob meine Mutter diese Seite des Vollbarts kannte, aber ich entschied mich, ihr besser nichts davon zu erzählen. Womöglich würde sie ihn wegen dieser Talente nur noch aufregender finden.

Die Luft hinter den Kirchentüren roch nach Wachs und welkenden Blumen und war so kalt wie der Atem eines Geistes.

»Hier lang«, sagte Zelda und winkte mich den Mittelgang hinunter. Ein paar Schritte entfernt vom Altar blieb sie stehen.

»Da liegen sie«, sagte sie und wies auf die Gedenksteine, die vor uns in den Kirchenboden eingelassen waren. »Lauter Hartgills. Vermutlich sind die zwei Ermordeten auch hier begraben. Deine Mutter hat dich nie hergebracht?«

Ich musterte die in die Fliesen gemeißelten Namen und schüttelte den Kopf. »Ich glaub, Mam weiß nicht mal von diesem Ort«, murmelte ich. »Sie macht sich nichts aus Ahnenforschung.«

»Ja, das ist wahr.« Der Vollbart lachte leise. »Im Gegenteil. Imogen macht sich lustig über Leute, die in ihrer Familiengeschichte herumstöbern.«

Der Blick, den ich ihm dafür zuwarf, war sicher alles andere als freundlich. Ich konnte mich immer noch nicht damit abfinden, dass er so viel über meine Mutter wusste.

Zelda winkte mich weiter zu einem der Fenster zu unserer Rechten.

»Dieses Fenster wurde zum Andenken an John und William Hartgill angefertigt«, sagte sie. »Einer ihrer Nachfahren gab es in Auftrag. Es ist schön, oder?«

Ich nickte. Es war ein seltsames Gefühl herauszufinden, dass ich Vorfahren hatte, die auf Bleiglasfenstern zu sehen und unter Kirchenfußböden begraben waren. Ich war nicht sicher, ob es etwas war, auf das man stolz sein konnte, aber irgendwie war ich es. Ich sah sie plötzlich alle in einer langen Reihe hinter mir stehen, all die, die ihren Namen an meine Mutter weitergegeben hatten. Irgendwann waren sie so jung wie ich gewesen. Sie hatten ihre Mütter geliebt und ihre Schwestern geärgert und vielleicht hatten einige von ihnen sich sogar mit einem Vollbart herumschlagen müssen. Ich fühlte sie in meinen Knochen und in meinem Blut. Ich hörte sie wie einen Chor von Stimmen in meinem Herzen. Es hatte so viele von ihnen gegeben, und dieser Gedanke war beruhigend und erschreckend zugleich. All die Namen auf den Kirchenfliesen erinnerten mich sehr deutlich daran, dass auch mein Name irgendwann auf einem Grabstein stehen würde.

Zelda riss mich erneut aus meinen Gedanken und auch diesmal war ich ihr dankbar dafür.

»Ich glaub, es wird bald dunkel werden«, sagte sie. »Matthew, du versteckst dich am besten zwischen den Bäumen neben dem Tor, während Jon und ich in der Kirche bleiben. Ruf mich auf dem Handy an, sobald du jemanden oder etwas da draußen siehst. Sobald wir von dir hören, kommen wir raus. Dann tun wir so, als tauschten wir Jon gegen Ella aus, und wir lenken sie ab, sobald sie Ella freilassen, damit die Kinder in die Kirche rennen können.«

Das hörte sich nicht gerade nach einem ausgefeilten Plan an, wenn wir es mit Stourton und mindestens einem lebenden Mann aufnehmen mussten (ich hoffte immer noch, dass Stourtons Helfer lebendig und nicht, wie vom Vollbart prophezeit, nur das Leichenkleid für einen von Stourtons Knechten waren). Ganz abgesehen davon, dass wir in der Kirche wohl kaum für alle Zeit sicher sein würden. Aber wie auch immer – mir fiel nichts Besseres ein, und der Vollbart schien mit der Rolle, die er spielen sollte, kein Problem zu haben, also hielt ich den Mund.

»Gut, so machen wir’s«, sagte er zu Zelda. »Die Flinte nehm ich wohl besser, oder?«

Die Flinte? Ich schluckte.

»Matt hat als Junge immer auf die Füchse und Falken geschossen, die seine Kaninchen holen wollten«, erklärte Zelda, als ich den Vollbart erneut ungläubig musterte. »Auf die Art ist er ein ziemlich guter Schütze geworden. Und er hat nur ein einziges Kaninchen verloren.«

»Ja, von dem Fuchs träume ich immer noch«, murmelte der Vollbart, und zum ersten Mal glaubte ich den Jungen zu sehen, der er mal gewesen war. Ich konnte nur den Bart in meiner Vorstellung nicht loswerden, was ihn ziemlich seltsam aussehen ließ.

»Gut«, sagte er. »Ich bin etwas aus der Übung, aber ich versuch mein Bestes. Nur worauf genau soll ich schießen? Schrot fügt Geistern wohl keinen Schaden zu, oder?«

»Schieß auf den Lebenden!«, erwiderte Zelda mit grimmiger Miene. »Disteldreck. Er hat Ella entführt!«

Der Vollbart schluckte.

»Ich sag es noch mal, Mam«, sagte er. »Es wird keine Lebenden geben. Und ich hoffe, ich habe recht, denn es wird mir wesentlich leichter fallen, auf einen Toten zu schießen. Auch wenn ich fürchte, dass den eine Ladung Schrot nicht aufhalten wird.«

Darauf sagte Zelda nichts.

»Ich schwöre es bei meinen Kröten«, murmelte sie nur grimmig. »Wer immer auf diesem Friedhof auftaucht, wird ihn nur unbeschadet verlassen, wenn ich meine Enkeltochter zurückbekomme, und zwar ohne einen Kratzer!«

Ihre Hände zitterten, als sie ein Taschentuch aus der Manteltasche zog und sich damit die beschlagenen Brillengläser putzte. Der Vollbart legte ihr tröstend den Arm um die Schulter. Dann wandte er sich um und ging auf die Kirchentür zu. Als er sie öffnete, sahen wir, das Zelda recht hatte. Es wurde bereits dunkel.

»Matthew, warte!«, rief Zelda dem Vollbart nach. »Im Auto liegen die Krücken, die der Doktor mir verschrieben hat. Bring sie mir, bevor du dich versteckst. Sie könnten nützlich sein.«

Eine Flinte und zwei Krücken. Das klang nach keiner sonderlich wirksamen Bewaffnung gegen Stourton. Ich blickte auf meine Hand, in der der Abdruck von Longspees Löwen immer noch deutlich zu sehen war. Die Versuchung war groß, meine Finger zu schließen, aber ich ließ die Hand sinken. Ich konnte den Choristen einfach nicht vergessen. Vielleicht war das die Dunkelheit, die Longspee quälte. Dass er nicht viel besser war als die, vor denen er mich beschützt hatte. Vielleicht war er nur deshalb noch hier. Vielleicht waren alle Geister entweder Mörder oder deren Opfer. Hatte sich mein Vater etwa je als Geist sehen lassen? Nein.

Angst macht finstere Gedanken. Und es sind nicht immer die klügsten.

Wie auch immer. Es war kein gutes Gefühl, mit leeren Händen auf Stourton zu warten.

»Du kannst eine der Krücken haben, Jon!«, sagte Zelda, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Vielleicht war sie doch eine Hexe. Sie drückte mich so fest an sich, als wollte sie mir die Rippen brechen.

»Ich danke dir so sehr, dass du mitgekommen bist!«, sagte sie. »Du bist ein wahrer Freund. Man kann nichts Kostbareres im Leben finden. Ella hat wirklich Glück, dass sie dich hat!«

»Ach, is’ schon gut!«, murmelte ich. »Ella würde dasselbe für mich tun.«

»Ja, da hast du recht. Das würde sie«, sagte Zelda. »Aber trotzdem danke!«