Abendlied
Als wir zum Tor kamen, ging der Vollbart dahinter so ungeduldig auf und ab wie ein Tiger im Käfig.
»Das hat ja ewig gedauert!«, schimpfte er. »Was denkt ihr, was eure Mütter mit mir machen, wenn sie erfahren, dass ich hier folgsam vor dem Tor warte, während ihr euch mitten in der Nacht mit einem Geist trefft? Und kommt mir jetzt nicht wieder damit, dass es nur ein kleiner war!«
»Von mir wird Mam nichts erfahren«, antwortete ich, während ich mich über das Tor schwang. »Außerdem ist es gerade erst zehn.«
»Genau«, sagte Ella und reichte mir die Urne herüber. »Beruhig dich, Matt. Wir hatten das Ganze wirklich im Griff.«
Was natürlich eine Lüge war. Aber der Vollbart hatte ohnehin nichts von dem gehört, was Ella gesagt hatte. Er hatte nur Augen für die Urne.
Ich nickte und presste die Urne fest gegen die Brust. Alles war gut. Auch wenn ich mich immer noch ganz abscheulich veraleistert fühlte.
»Wir müssen es Longspee erzählen«, sagte ich zum Vollbart. »Aber warte besser nicht hier auf uns. Vielleicht kommt Aleister uns doch noch nach.«
Dann steuerte ich mit Ella auf die Kathedrale zu.
Er kam uns nach. Natürlich.
Ich blieb stehen.
»Was soll das? Du kannst nicht mitkommen!« Ich gab mir wirklich Mühe, nett zu klingen. Schließlich hatte er in Kilmington versucht, Ella zu retten. Auch wenn er sich nicht besonders erfolgreich dabei angestellt hatte.
»Ach ja? Warum nicht?«
Weil Longspee mir gehört, wollte ich antworten. Aber natürlich wusste ich, wie kindisch das klang. Seine Antwort klang allerdings auch nicht besser.
»Ich will ihn nur noch mal sehen!«
»Warum? Wenn du einen Geist sehen willst, geh zurück und sieh dir Aleister an.«
»Der ist kein Ritter!«, schnappte der Vollbart, während er so rot anlief, dass man es selbst in der Dunkelheit sah. »In Kilmington hab ich kaum mehr als einen Blick auf ihn werfen können!«
»Aber er wird gar nicht erst kommen, wenn du –«
»Hört auf!«, unterbrach Ella uns ungeduldig. »Es ist egal, ob Matt mitkommt. Longspee wird sich eh nicht zeigen.«
Sie wies auf die Kathedralenfenster. Durch die Scheiben fiel Licht nach draußen, und ich erinnerte mich, dass Angus irgendwas von einem Konzert erzählt hatte, für das die Choristen probten. Enttäuscht blickte ich auf die Urne, aber Ella griff nach meinem Arm.
»Wir werden es ihm trotzdem erzählen«, sagte sie. »Irgendwie wird er uns schon hören.«
Wir schlichen uns den Südgang hinunter, damit die probenden Choristen uns nicht bemerkten. Ella und ich waren dabei so stumm wie die Steine, aber der Vollbart konnte einfach nicht den Mund halten.
»Seht euch nur diese Säulen an!«, flüsterte er. »Wisst ihr, dass sie sich unter der Turmspitze biegen, weil sie viel zu schwer für sie ist?«
»Ja, wissen wir«, flüsterte ich zurück, aber das brachte ihn keineswegs zum Schweigen.
»Kennst du auch die Geschichte, wie sie den Platz für die Kathedrale gefunden haben?«, raunte er mir zu.
»Ja, sicher«, flüsterte ich – und presste die Urne fester gegen die Brust. Hinter den Säulen tauchte Longspees Sarkophag auf.
Ella gab mir einen aufmunternden Stoß.
»Geh schon«, flüsterte sie mir zu. »Er wird dich bestimmt hören!«
Die Choristen sangen, als wäre ein Schwarm Engel vom Himmel gestiegen. Es war immer wieder schwer zu glauben, dass solche Töne aus Angus’ Mund kamen. Longspees steinerne Gestalt lag so friedlich da, als hätten sie ihn in den Schlaf gesungen. Ich schob mich durch die Säulen und beugte mich über den Sarg.
»Ich hoffe, du hörst mich!«, flüsterte ich. »Ich glaube, wir haben dein Herz gefunden. Und morgen bringen wir es nach Lacock, zum Grab deiner Frau. Die Urne ist versiegelt, deshalb konnten wir sie noch nicht öffnen, aber …«
Eine laute Stimme ließ mich abrupt verstummen.
»Hey, Jon! Was zum Teufel machst du hier?«
Ich hatte nicht bemerkt, dass die Choristen aufgehört hatten zu singen. Sie kamen aus dem Chorraum wie eine aufgeregte Schar Vögel. Und Angus war der größte und lauteste. Als er meinen Namen rief, richteten sich alle Blicke auf mich, und ich stand da und presste die Urne gegen die Brust und wünschte sie alle sonst wohin.
»Wo hast du gesteckt, Whitcroft?«, rief Angus, den missbilligenden Blick seines Chorleiters ignorierend, und bahnte sich ungestüm wie ein Hundewelpe einen Weg durch die Stuhlreihen. »Stu und ich haben uns schon …«
Er blieb ruckartig stehen, als er Ella hinter mir entdeckte.
»Hey, das …«, stotterte er, während er rot anlief. »… hi, Ella.«
»Hi«, antwortete sie und bedachte ihn mit einem so eisigen Blick, dass er mir fast leidtat. Aber Angus bemerkte den Blick nicht. Er hatte die Urne entdeckt.
»Was ist denn das?«
»Nichts!«, antwortete ich, während ich die Urne hinter meinem Rücken verbarg. Und dann … Ja. Ich kann es nicht bestreiten. Der Vollbart rettete mich.
»Hallo«, sagte er, während er zwischen den Säulen hervorkam und streckte Angus die Hand hin. »Jon war in den letzten Tagen bei mir. Ich bin sein künftiger Stiefvater. Ich nehme an, du bist einer seiner Zimmernachbarn?«
»Oh, hallo«, stammelte Angus mit einem nervösen Blick in meine Richtung. »Hallo, Mr Vollba …, ich mein, Mr …«
»Littlejohn«, sagte der Vollbart, während Angus sich bestimmt fragte, warum zum Teufel ich jemanden Vollbart nannte, auf dessen Kinn nicht die geringste Bartspur zu entdecken war. »Ich bin Ellas Onkel und ich hab Jon und Ella gerade mein Lieblingsgrabmal in der Kathedrale gezeigt. Dieser Sarkophag ist eins der beeindruckendsten Beispiele mittelalterlicher Steinmetzkunst.«
»Ja, das hat Bona … ich mein, Mr Rifkin uns auch schon erklärt«, murmelte Angus, während sein Blick erneut zu Ella wanderte.
Der Vollbart fuhr fort, über mittelalterliche Kunst und die Grabmäler in der Kathedrale zu reden. Er tat wirklich sein Bestes, aber ich wusste, dass Angus nur an eins dachte: dass er Stu wachrütteln und ihm erzählen würde, dass er mich schon wieder mit Ella Littlejohn gesehen hatte.
Na und, Jon Whitcroft?, sagte ich mir, während der Vollbart redete und redete. Was interessiert dich, was Angus Stu erzählt? Du hast Longspees Herz gefunden! Trotzdem war ich froh, dass ich auch in dieser Nacht bei Zelda schlief.