14

Körperkleider

Wir warteten. Es kam mir vor wie Wochen, Monate, Jahre. Zelda ging vor dem Altar auf und ab, auf und ab, auf und ab, während ich in einer der Bänke saß, in denen vielleicht auch schon meine Vorfahren gesessen hatten, und mich fragte, ob Ella noch am Leben war. In Filmen und Büchern fühlen die Helden immer, ob es denen, die sie lieben, gut geht oder nicht. Seit der Nacht in Kilmington glaube ich an so etwas nicht mehr. Ich fühlte nichts, absolut nichts – außer Angst und hilfloser Wut. Ich vermisste Ella. Ich vermisste sie so sehr, als hätte Stourton mir einen Arm oder ein Bein abgeschnitten. Wie konnte das sein? Ich kannte sie kaum länger als eine Woche, und außerdem war sie immer noch ein Mädchen.

»Die besten Freunde«, hat meine Mutter mal zu mir gesagt, »finden wir oft in den dunkelsten Zeiten, weil wir ihnen nie vergessen, dass sie uns geholfen haben, aus der Dunkelheit herauszufinden.« Meine Mutter sprach dabei sicher nicht von Zeiten, in denen sie von einem rachsüchtigen Geist gejagt worden war. Aber ich denke, es gibt viele Arten von Dunkelheit, und jeder von uns bekommt irgendwann irgendeine Art davon zu sehen, und dann – braucht man jemand wie Ella oder man geht darin verloren.

Als Zeldas Handy klingelte, sprang ich so überstürzt aus der Bank, dass ich ausrutschte und mit den Knien auf dem Namen Hartgill landete. Meine Hand zitterte, als sie sich um eine der Krücken schloss, die der Vollbart gegen den Taufbrunnen gelehnt hatte. Als ich Zelda zur Tür folgte, kam es mir vor, als sähen uns alle Hartgills nach, voller Hoffnung, dass wir schaffen würden, was die Seidenschlinge nicht vollbracht hatte: sie endlich von Stourton zu befreien und Rache zu nehmen für die zwei Morde, mit denen alles begonnen hatte. Aber mich interessierte all das nicht wirklich. Ich wollte nur Ella zurück, ohne einen Kratzer, wie Zelda gesagt hatte.

Es war eine kalte Nacht. Zwischen den Grabsteinen hatte sich Nebel gebildet, so weiß und feucht, als atmeten die Toten unter der Erde ihn aus, und in dem Dunst warteten vier Männer. Man sah ihnen auf den ersten Blick an, dass etwas mit ihnen nicht stimmte. Sie sahen aus, als passte ihnen ihre Haut nicht mehr, und ihre Gesichter waren so ausdruckslos wie Gummimasken. Der Vollbart hatte recht gehabt. Geister konnten tote Leiber wie Kleider tragen, und Stourton hatte nicht nur einem, sondern allen seinen Knechten ein solches Kleid beschafft. Das Herz gefror mir in der Brust, und ich konnte vor Angst kaum atmen, während meine Finger sich fester um Zeldas Krücke schlossen. Aber meine Augen suchten zwischen den Gräbern nur nach einer Gestalt.

»Wo ist meine Enkeltochter?«, fuhr Zelda die Kreaturen an, die einmal Männer gewesen waren. Kein beneidenswertes Schicksal, als Körperkleid für die Seele eines Mörders zu enden!

Zeldas Stimme zitterte nicht ganz so sehr, wie meine Hände es taten, aber es tröstete und erschreckte mich zugleich, dieselbe Furcht darin zu hören, die ich selbst empfand.

Stourtons Knechte antworteten ihr nicht. Mit dem Reden haben Tote vermutlich so ihre Schwierigkeiten. Aber einer von ihnen drehte sich um und zerrte Ella hinter einem der Grabsteine hervor.

Sie sah furchtbar blass aus. Ihre Augen waren weit vor Angst, aber ich sah auch eine gute Portion Zorn darin. Sie hielt sich sehr gerade, und als einer der Toten ihr in das lange Haar griff, trat sie ihn gegen die Knie. Tapfere Ella.

»Lass sie los!«, schrie ich und fuchtelte mit meiner Krücke, obwohl ich nicht viel Hoffnung hatte, dass sie bei jemandem, der eh tot war, irgendwelchen Schaden anrichten konnte.

Der links von Ella stieß ein hässliches Lachen aus und griff ihr erneut ins Haar. Als er sprach, klang es, als passte seine Zunge ihm ebenso wenig wie seine neuen Glieder.

»Deine Freundin bleibt hier, Hartgill«, lallte er, »bis der Seidene Lord kommt, um dich zu holen. Er ist schon auf dem Weg!«

»Darauf sollten wir nicht warten!«, zischte Zelda mir zu, aber gerade als sie ihre Krücke fester umklammerte, setzte der bleiche Reiter über das Friedhofstor, der mich so viele Tage und Nächte in Angst versetzt hatte. Diesmal war er wie Longspee von Licht umgeben, aber das seine färbte den Nebel so schmutzig grün wie Schimmel ein altes Brot.

Er sah in seiner neuen Haut noch furchterregender aus. Die wievielte ist es?, flüsterte es in meinem Kopf, aber ich war ziemlich sicher, dass ich die Antwort nicht erleben würde. Sein Pferd scharrte auf den Gräbern, als wollte es die Toten darin wecken, aber der Seidene Lord hatte nur Augen für mich. Sie brannten in seinem Kopf, als stünde seine dunkle Seele in Flammen.

»Da bist du ja, Hartgill!«, schnarrte er. »Worauf wartest du noch? Komm her!« Er sprach mit mir, als wäre ich einer seiner Knechte oder Stalljungen. Aber ich war immer noch der Knappe eines Ritters – auch wenn dieser Ritter vielleicht selbst ein Mörder war.

»Nicht, bevor du Ella gehen lässt!«, rief ich – und verfluchte die Angst, die meine Stimme so schrill klingen ließ wie die eines Erstklässlers.

Aber Ella hatte zu der ganzen Sache natürlich auch eine Meinung.

»Ich werd nirgendwo hingehen, Jon Whitcroft!«, rief sie. »Was glaubst du? Dass ich mit Zelda seelenruhig nach Hause fahr, während diese Monster dir den Kopf abschlagen oder sonst was mit dir machen?«

Den Kopf abschlagen … ich schluckte. Sie hatte wirklich eine ganz eigene Art, die Dinge auf den Punkt zu bringen.

»Ella!«, rief Zelda. »Tu, was Jon sagt. Komm zu mir und alles wird gut!«

Ella zögerte, und bevor sie gehorchen konnte, packte der Knecht, der hinter ihr stand, sie erneut. Ella stieß mit dem Ellbogen nach ihm, aber als der Knecht die Hand hob, um sie dafür zu schlagen, hielt Stourton ihn mit einem scharfen Zischen zurück.

»Lass sie gehen!«, fauchte er. »Ich will nur den Jungen! – Nicht, dass ich ihn nicht ohnehin bekommen würde!«, setzte er mit einem abscheulichen Lächeln hinzu.

Er sah toter aus als je zuvor. Das Gebiss in seinem lippenlosen Mund war so verrottet, als hätte er es aus einem der Gräber gestohlen. Sein Haar war nicht länger grau, sondern weiß. Es hing ihm so ausgedünnt auf die Schultern herab, dass es eher Spinnweben als Haaren glich, und seine neue Haut spannte sich über den Knochen, als wäre sie ihm wie ein Leichenhemd aufs Skelett geschneidert worden. Seine Männer waren kein appetitlicherer Anblick und sie gehorchten ihm in den neuen Körpern ebenso fraglos wie in Geistergestalt. Kein Wunder. Schließlich hatten sie Jahrhunderte Übung darin.

Ella zögerte immer noch, bis Stourtons Knecht sie schließlich unsanft in unsere Richtung stieß, ihre Augen fragten bei jedem Schritt, den sie auf uns zumachte, was genau der Plan war.

Es ist nicht wirklich ein Plan, Ella, dachte ich, während ich mich auch auf den Weg machte – auf Stourton zu, der die knochige Hand schon am Schwert liegen hatte. Sein Schwert kann dir nichts anhaben, Jon!, wiederholte ich mir bei jedem zittrigen Schritt. Es kann dir nichts anhaben, vergiss das nicht!

An das, was die toten Männer tun konnten, versuchte ich einfach nicht zu denken.

Ella und ich kreuzten die Wege zwischen zwei Kindergräbern, was wirklich nicht sehr ermutigend war. Na, komm schon, Vollbart!, dachte ich, als wir so dicht aneinander vorbeigingen, dass ich nach Ellas Hand hätte greifen können – und erinnerte mich leicht panisch daran, dass meine Mutter sich ständig darüber beschwerte, dass er zu allem und jedem zu spät kam.

Der Schuss kam im selben Moment. Er traf einen der Knechte in den Rücken und riss ihn herum.

»Renn, Ella!«, schrie ich, während ich ihr einen Stoß in Zeldas Richtung gab.

Der nächste Schuss kam aus den Büschen neben dem Tor und ich hörte Stourton auf sehr altmodische und ziemlich üble Weise fluchen.

Sieh dich nicht um, Jon!, befahl ich mir, während Ella und ich auf Zelda und die offene Kirchentür zurannten. Zelda schwang ihre Krücke wie Zeus seinen Blitzstrahl, aber ich hörte die Hufschläge schon hinter mir, so geisterhaft leicht, dass sie nur noch bedrohlicher klangen. Verdammt, Jon, sieh dich nicht um!, dachte ich noch mal. Er kann dir nichts anhaben! Aber im selben Moment spürte ich eine Hand meinen Nacken packen, eine eiskalte, aber sehr starke Hand. Sie warf mich zu Boden und ein hässliches Gesicht starrte auf mich herab. Vermutlich war es im Leben gar nicht sonderlich hässlich gewesen, aber nun war es ganz verrutscht und verzerrt von Bosheit.

»Du gehst nirgendwohin, Hartgill!«, grunzte Stourtons Knecht und setzte mir den schlammigen Stiefel auf die Brust.

Ich sah Ella wie angewachsen zwischen den Grabsteinen stehen.

»Renn, Ella!«, schrie ich, aber sie rührte sich nicht, und ein weiterer Toter – ein magerer Kerl mit kurzem blondem Haar – griff sie sich, während ein dritter auf Zelda zustapfte. Sie hieb ihm die Krücke mitten auf den kahlen Kopf, aber er stieß nur ein wenig erfreutes Grunzen aus und zog sie Zelda so mühelos aus den Händen, als nähme er einem Baby die Rassel weg. Dann zerrte er Zelda wortlos auf seinen grässlichen Herrn zu.

Stourton saß reglos auf seinem Pferd und beobachtete mit ausdrucksloser Miene, wie seine Knechte die menschliche Beute einsammelten. Ich blickte mich nach dem Vollbart um und entdeckte ihn ausgestreckt zwischen den Grabsteinen, die Flinte neben sich. Für einen Moment machte ich mir tatsächlich Sorgen um ihn, aber Stourton gab mir keine Gelegenheit, diesem überraschenden Gefühl gründlicher nachzuforschen.

»Bringt die Kinder auf den Turm!«, befahl er.

Seine Stimme war wie die schlechte Kopie einer Stimme, hohl und klanglos. Aber das Geräusch, das ich hinter mir hörte, war viel furchtbarer. Zelda weinte. Sie fluchte, während sie schluchzte, aber trotzdem – ihre Tränen sagten es mehr als deutlich: Wir waren verloren. Keine Rettung in Sicht. Ende der Vorstellung.

»Ich bring dich um, Stourton!«, schrie ich, während zwei seiner Knechte mich auf die Kirchentür zuzerrten. »Ich bring dich um, du madenzerfressener Dreckskerl!«

»Und wie willst du das anstellen, Hartgill?«, erwiderte Stourton, während er gemächlich vom Pferd stieg. »Ich bin schon tot, hast du das vergessen? Nicht mal dein ritterlicher Freund konnte mir etwas anhaben.«

Ich sah zu Ella hinüber. Sie hatte die Lippen fest aufeinandergepresst, aber immer noch keine Träne in den Augen. Bei meinen war ich mir da nicht so sicher.

Die Tür, die zum Turm hinaufführte, war so niedrig, dass sie für Kinder gemacht schien. Der Knecht, der uns folgte, blieb fast in ihr stecken. Er stieß mir immer wieder die Faust in den Rücken, während ich Ella die ausgetretenen Stufen hinauffolgte. Auf halber Höhe kamen wir an einem fensterlosen Raum vorbei, von dem ich gelesen hatte. William Hartgill hatte sich darin vor Stourton versteckt, während sein Sohn den ganzen weiten Weg nach London geritten war, um Hilfe zu holen. Alles umsonst. Am Ende hatte Stourton ihn doch getötet. Genau wie dich, Jon, dachte ich. Aus der Rache wird nichts. Und diesmal wird der Hartgill-Fluch auch eine Littlejohn das Leben kosten. Der Gedanke war noch schlimmer als die Angst, die ich um mich selbst hatte.

»Jon!«, flüsterte Ella, als wir fast oben waren. »Wo ist Longspee?«

Natürlich. Sie wusste nichts von dem toten Choristen und dem, was er mir erzählt hatte. Ja, wo war er … ich wollte ihn rufen, seit Stourton über das Friedhofstor gesetzt hatte, aber ich konnte mich an nichts als seine Dunkelheit erinnern, und der Gedanke, dass ich vielleicht einem Mann vertraut hatte, der einen Jungen getötet hatte, der nicht älter gewesen war als ich, lähmte mir die Finger jedes Mal, wenn ich sie über seinem Siegel schließen wollte.

»Er hat den Choristen aus dem Fenster gestoßen!«, flüsterte ich ihr zu. »Er ist auch ein Mörder!«

Ella warf mir einen Was-ist-das-nun-wieder-für-eine-Jungen-Dummheit?-Blick zu.

»So ein Blödsinn!«, flüsterte sie zurück. »Ruf ihn! Sofort!«

Oh, wo war sie gewesen? Jedes Wort fuhr mir wie frischer Wind durch die finsteren Gedanken.

Wir hatten die niedrige Holztür erreicht, die hinaus auf das Turmdach führte. Der Knecht schubste uns nach draußen. Stourton folgte ihm. Die Nacht schwärzte ihm die bleichen Glieder, und sein Gesicht war so durchsichtig, als könnte ihn ein Windstoß auslöschen. Aber der lebende Leichnam neben ihm duckte sich wie ein Hund, sobald er in seine Richtung sah.

»Zu schade, Hartgill, dass ich dich nicht eigenhändig in die Tiefe stoßen kann!«, sagte Stourton, während er sich die bleichen Kleider glatt strich. »Aber ich schlüpfe nicht gern in den toten Körper irgendeines Bauern.«

Der tote Mann, der neben ihm stand, machte einen Schritt auf Ella zu.

Ich stellte mich schützend vor sie, auch wenn sie versuchte, mich zurückzuzerren.

»Du bist so ein jämmerlicher Lügner!«, stammelte ich (mehr brachten meine zitternden Lippen nicht zustande). »Weißt du, was ich denke? Dass du dich noch nie getraut hast, jemand eigenhändig umzubringen. Das hast du schon immer andere machen lassen!«

Meine Finger tasteten nach Longspees Siegel.

»Ja! Ich wette, deshalb traust du dich nicht in die Hölle!«, schrie ich. »Weil du …«, Ella griff warnend nach meinem Arm, aber ich war einfach zu wütend, um den Mund zu halten, »weil du verdammter Dreckskerl nicht einen einzigen Mord auf dem eigenen Gewissen hast!«

Stourtons rote Augen verdunkelten sich. Ich konnte sein Skelett unter der pergamentenen Haut sehen, als trüge er ein abscheulich gutes Halloween-Kostüm.

»Ach ja?«, raunte er und machte einen Schritt auf mich zu. Dann presste er die bleiche Hand direkt auf mein Herz.

Ich sah Blut. Es klebte mir an den Kleidern. Ich war Stourton und stand auf einem dunklen Feld. Vor mir lagen zwei gefesselte Männer. Ihre Gesichter waren blutverschmiert, aber sie lebten noch. Einer meiner Knechte ließ den Knüppel sinken, als ich ihm auffordernd die Hand hinhielt. Er drückte mir ein Messer in die Hand. Der Griff war glatt und kühl und in der Klinge spiegelte sich das Licht einer Fackel. Ich wusste, was ich tun würde. Und dass ich mich darauf freute …

Es war ein schreckliches Gefühl. Schrecklicher als alles, was ich je gefühlt hatte.

Aber plötzlich war das Messer fort. Alles war fort, das dunkle Feld, die gefesselten Männer … und stattdessen lag Stourtons bleiche Hand vor meinen Füßen, abgeschlagen gleich unter dem Handgelenk.

»Vergiss, was du gesehen hast, Jon!«, sagte Longspee und schob sich vor mich. »Vergiss es, hörst du?«

Sein Schwert schimmerte von Stourtons geisterbleichem Blut.

Ich spürte, wie Ella nach meiner Hand griff. Sie zog mich zurück, bis wir hinter uns die Mauer des Turmes fühlten. Sie reichte uns kaum bis zu den Schulterblättern, und ich glaubte den Abgrund, der hinter ihr gähnte, wie Eis im Nacken zu spüren.

»Oh nein, nicht schon wieder du, ach so edler Ritter!«, spottete Stourton, während er sein Schwert zog. »Willst du mir noch eine Haut zerschneiden? Gib dir keine Mühe. Du kannst mir nichts anhaben, auch wenn du dich noch so oft mit mir schlägst. Du trägst den falschen Namen, um mich zur Hölle zu schicken.«

Einer der Knechte, die mit uns auf den Turm gestiegen waren, trat an die Seite seines Herrn. Und vor der Tür, hinter der die rettende Treppe nach unten lag, stand der zweite Wache. Die beiden anderen waren bei Zelda und dem Vollbart geblieben.

»Der falsche Name?«, fragte Longspee. »Welchen Namen würde ich brauchen?«

Stourton lachte. Aus seinem Ärmel wuchs eine neue Hand – ihre Finger spreizten sich wie die Blätter einer fleischfressenden Blüte, während die Hand, die Longspee abgeschlagen hatte, auf dem Turmdach welkte und zerfiel.

»Was denkst du, edler Ritter? Ich höre den alten Mann immer noch seinen Fluch schreien, bevor er starb. Ein Hartgill soll dich zur Hölle schicken, Stourton! Nur ein Hartgill! Aber stattdessen schicke ich sie seit fünf Jahrhunderten zur Hölle, aus Rache für das seidene Seil. Und nicht einer ist zurückgekommen, um den Fluch des alten Mannes wahr zu machen. Sie sind wie Lämmer, traben zur Schlachtbank und verlöschen. Der Junge, den du so selbstlos beschützt, wird denselben Weg gehen, und zwar heute Nacht.«

Sein Knecht wollte einen Schritt auf mich zu machen, aber Longspee richtete warnend die Schwertspitze auf ihn.

»Denkst du, das tote Fleisch kann dich beschützen?«, sagte er. »Ich werde dein schwarzes Herz so gründlich durchbohren, dass du deinen Herrn am Tor der Hölle erwarten wirst.«

Der Knecht zögerte, das tote Gesicht angstverzerrt.

»Worauf wartest du?«, fuhr Stourton ihn an. »Greif dir die Kinder und stoß sie über die Mauer, oder ich schick dich eigenhändig zur Hölle!«

Der Knecht machte erneut einen Schritt auf uns zu.

Aber Longspees Schwert war schnell wie eine Flamme, und der Knecht fiel wie ein aufgeschlitzter Sack und erfüllte die Luft mit so üblem Gestank, als löste seine verrottete Seele sich in der Nachtluft auf. Longspees Gestalt leuchtete so hell, als bestünde er aus weißem Feuer, und der Knecht, der an der Treppe stand, wandte sich entsetzt zur Flucht, aber Stourton stieß ihm mit einem Fluch das Schwert in den Rücken. Dann wandte er sich wieder zu Longspee um. Sein Gesicht hatte nichts Menschliches mehr, und seine Haut wehte ihm in Fetzen von den Knochen, als schälte seine eigene Wut sie ihm vom Leib.

»Jon, lauft zur Treppe!«, rief Longspee, während er Ella und mich mit seinem Körper deckte.

Stourtons Gestalt färbte sich schmutzig rot, als tränkte all das Blut, das er vergossen hatte, ihm die Glieder. William aber leuchtete so hell wie das weiße Herz einer Flamme, und es war mir egal, was der Chorist erzählt hatte. Ich sah nur das Licht und war wieder Longspees Knappe, was immer er getan hatte, was immer ihn auf Erden hielt.

»Ella, lauf!«, rief ich. »Ich bleib bei ihm.«

Aber natürlich rührte sie sich nicht. Ich versuchte, sie zur Treppe zu zerren, aber sie ist noch heute stärker als ich.

»Lass mich!«, stieß sie hervor. »Hast du nicht gehört, was Stourton gesagt hat? Jon, DU musst ihn umbringen! Du bist der Hartgill, der ihn zur Hölle schicken wird!«

»Ach ja?«, gab ich atemlos zurück. »Und wie soll ich das anstellen?«

Ich sah Ella an, dass sie darauf auch keine Antwort hatte.

Stourton bleckte die verrotteten Zähne wie einer seiner Hunde, aber sein Schwert war leichter als Longspees, und er wehrte es ohne Mühe ab.

»Was macht ihr noch hier, Jon? Verschwindet!«, rief William mir zu, während er einen weiteren Hieb abwehrte.

Aber wir rührten uns nicht.

DU musst ihn umbringen, Jon.

Sie schienen eine Ewigkeit zu kämpfen – zwei Geister, der eine so dunkel, der andere so hell. Es gab keine Zeit mehr, nur die zwei Männer, die nicht sterben konnten, und Ella und mich. Schließlich trieb Longspee Stourton gegen die Mauer und stieß ihm das Schwert ins Herz. Aber der Seidene Lord streifte erneut eine bleiche Hülle ab, und nahm Gestalt in einer weiteren an, blutrot über seinen bleichen Knochen.

»Ich habe viele Häute, edler Ritter«, höhnte er. »Und all das Blut, das ich vergossen habe, hat sie nur haltbarer gemacht. Was ist mit dir? Kehr in deine Gruft zurück, bevor ich dir deine edle Hülle zerschneide und dich in der Hölle zu meinem Diener mache. Du bist so blass als Geist, wie du es als Lebender gewesen bist. Hilfloser Bastard. Machtloser unter mächtigen Brüdern!«

Er hieb sein Schwert mit solcher Wut gegen Longspees Schild, dass William stolperte und Stourtons Klinge ihm tief in die schimmernde Schulter fuhr. Licht strömte aus der Wunde wie verdampfendes Blut und ich stolperte mit einem Wutschrei auf die beiden Kämpfenden zu.

Diesmal wartete ich nicht auf Longspees Erlaubnis. Ich trat geradewegs in sein Licht. Ich spürte, wie mein Fleisch sein Fleisch wurde, bis ich groß und stark war und den Schwertknauf in meiner Hand hielt. Ich war Jon und ich war William. Ich war Longspee und Hartgill. Ich war Mann und Junge, Ritter und Knappe, voll Angst und furchtlos zugleich, jung und fast tausend Jahre alt, alles in einem. Ich fühlte mein Herz in seiner Brust schlagen, seine Erinnerungen zu meinen, meine die seinen werden, und als ich den Mund öffnete, hörte ich Longspees Stimme meine Worte sagen:

»Nun trag ich den richtigen Namen, Seidener Lord, und all deine blutgetränkten Häute können dich nicht vor mir schützen: Ein Hartgill wird dich zur Hölle schicken, mit William Longspees Schwert.«

Stourton hob mit einem heiseren Schrei das Schwert, doch ich sah die Angst in seinen Augen, und ich griff ihn an, mit Longspees Kraft und meiner Wut, mit Longspees Arm und meiner Liebe, für ihn und für Ella, die immer noch hinter uns stand und nicht fortlief und sich nicht versteckte.

Stourton schlug mein Schwert zur Seite, aber ich trieb ihn zurück, Schritt für Schritt, Hieb für Hieb. Und dann stieß ich ihm die Klinge so tief in die Brust, dass sie in die Mauer hinter ihm fuhr. Seine Haut welkte wie die Blätter einer grässlichen Blüte und seine brennenden Augen erloschen. Aber ich holte noch einmal aus und schlug ihm den Kopf vom knochigen Hals. Ich wusste nicht, welcher Hass mich trieb, ob es nur meiner war oder auch Longspees.

Ellas Stimme brachte mich wieder zu Verstand. »Jon!« Sie rief meinen Namen, aber auch den von Longspee, und ich ließ das Schwert sinken und fiel zitternd auf die Knie, während Stourtons Gestalt vor mir zerfiel, Hülle für Hülle, zerstört von Longspees Licht und meinem Namen. Und plötzlich war ich wieder ein Junge, der auf demselben Steinboden kniete, auf dem einst William Hartgill gekniet hatte, als er darauf gewartet hatte, dass sein Sohn ihn vor dem Mann rettete, den ich nun getötet hatte.

Ella schlang die Arme um mich, und als ich hochblickte, sah ich Longspee an der Mauer lehnen. Er sah so sehr wie ein lebender Mann aus, dass ich für einen Moment nicht glauben konnte, dass er schon vor vielen Hundert Jahren gestorben war.

»Jon Whitcroft«, sagte er. »Ich glaube, du bist kein Knappe mehr.«