33. Kapitel
Als sie im Hafen von New York einliefen, redeten Kate und Christopher ununterbrochen. Mit jedem Wort erklärten sie, dass sie die Stadt eigentlich hassten, aber sie konnten das Glitzern in ihren Augen nicht verbergen, als sie nach den langen Reisen wieder heimkehrten.
Aurelia war eingeschüchtert und beeindruckt zugleich, als sie den Hudson River entlangfuhren und die Freiheitsstatue, die auf einer kleinen Insel zwischen Manhattan und Staten Island errichtet worden war, passierten. Clara und Tino starrten stumm darauf – Victoria wusste mehr darüber.
»Die Statue ist ein Geschenk Frankreichs an die USA, meines Wissens gibt es sie erst seit wenigen Jahrzehnten.«
»So ist es«, schaltete sich Christopher ein, »am Sockel ist ein Gedicht von Emma Lazarus angebracht. ›Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure bedrängten Massen, die frei zu atmen begehren‹, lautet es.«
»Ha von wegen!«, lachte Kate empört. »Als ob hier irgendjemand frei atmen könnte! In New York, müsst ihr wissen, herrscht stets ein Gedränge, und man muss um jeden Schritt kämpfen. Und in Manhattan sieht man die Sonne vielerorts nur zu Mittag, weil die Häuser so hoch sind.«
Christopher lächelte gutmütig. »In Brooklyn wäre das ganz anders«, erklärte er, »aber jedes Mal, wenn ich Kate vorschlage, dass wir in die beschaulichere Gegend übersiedeln, erklärt sie, dass der einzig wahre Ort, an dem man in New York leben könnte, Manhattan sei.«
In der Tat plusterte sich Kate empört auf. »Du glaubst doch nicht ernsthaft, ich würde in Brooklyn leben?«
»Seht ihr! Sehr ihr!«, rief Christopher zufrieden.
Aurelia indessen war verwirrt. »Ich dachte, die Stadt heißt New York. Wo ist nun Manhattan, und wo ist Brooklyn?«
Christopher deutete erst in die eine, dann in die andere Richtung, während er erklärte, dass New York seit 1898 aus fünf Boroughs bestand, Manhattan, die Bronx, Staten Island, Long Island und Brooklyn. Letzteres lag jenseits des East River, und die Stadthäuser dort waren nicht höher als drei, vier Stockwerke, ganz anders als in Manhattan.
»Man könnte dort um vieles ruhiger wohnen«, fügte er hinzu.
»Papperlapapp!«, ging Kate dazwischen. »Weißt du, wie viele Reedereien, Werften, Fabriken und Eisenbahngesellschaften es dort gibt? Von dort kommt immer Lärm.«
Christopher hörte nicht auf sie. »Und außerdem gibt es in Brooklyn viele Reihenhäuser, die sich auch ärmere Leute leisten können.«
»Du denkst doch nicht etwa, dass ich in deren Nähe leben will?«
Christopher unterdrückte ein Grinsen. »Natürlich nicht!«, rief er im Brustton der Überzeugung – und an Victoria und Aurelia gewandt: »Kate ist nämlich ein furchtbarer Snob.«
Dieser Verdacht war Aurelia schon seit längerer Zeit gekommen. Auf der Estancia war Kate ausnehmend freundlich gewesen, hatte nicht über die einfachen Lebensbedingungen gemurrt, sondern sich ihnen angepasst und immer wieder ihre Dankbarkeit beteuert, weil Christophers Wunde von Victoria so gut versorgt worden war. Seit sie in Buenos Aires mit ihnen zusammengetroffen waren, war sie zu ihnen zwar immer noch freundlich – zeigte ihr wahres Gesicht jedoch gegenüber dem Schiffspersonal ungeniert: Sie trat herrisch, arrogant und rechthaberisch auf, und obwohl Christopher hinter ihrem Rücken manchmal die Augen verdrehte und er sich die eine oder andere spöttische Bemerkung nicht verkneifen konnte, ließ er sie gewähren.
»Ich bin kein Snob!«, stritt sie nun energisch ab.
»O doch!«, bestand Christopher, der in Victorias und Aurelias Gegenwart stets streitlüsterner war – wahrscheinlich, weil Kate ihn dann nicht ganz so scharf zurechtweisen konnte wie unter vier Augen. »Ihre Mutter und Großmutter haben zu den zentralen Persönlichkeiten des Gilded Age gehört.«
»Das Gilded Age?«, fragte Clara, die sich bis jetzt am wortkargsten erwiesen hatte und sich schwertat, das englische Wort auszusprechen.
»Das war die Zeit nach dem Bürgerkrieg – und zugleich die dekadenteste Zeit, die New York je erlebt hatte. Die gesellschaftliche Elite, zu der maximal vierhundert Familien zählten, scharten sich um die Society-Königin Caroline Astor, in deren Adern noch das Blut der niederländischen Pioniersippen floss, die sich als Erstes in New York niedergelassen haben.«
»Caroline Astor!«, stieß Kate verächtlich aus. »Du willst meine Mutter doch nicht ausgerechnet mit ihr vergleichen? Meine Mutter war bis ans Lebensende rüstig, während Caroline Astor zuletzt ihr Gedächtnis verloren hat. Sie ist völlig wahnsinnig geworden, hat mit imaginären Gästen gesprochen und ist mit ihrem Dienstmädchen Menüpläne durchgegangen für Feste, die niemals stattgefunden haben.« Trotz der verächtlichen Miene klang sie begeistert, und Tino kicherte.
»Nun, solange sie ihren Verstand noch beisammenhatte, waren diese Feste die Höhepunkte der Saison«, fuhr sie fort, »Die teuersten Speisen und der beste Champagner sind serviert und die Verdauungszigarren in Hundertdollarscheinen eingerollt worden.«
Victoria schüttelte missbilligend den Kopf. »Was für eine nutzlose Verschwendung!«
Kate jedoch schien sich an etwas ganz anderem zu stören. »Und man hat schrecklich langweilige Gespräche geführt. Alles musste stets so anständig sein. Schon ein Wort wie Hose war für einen Gentleman tabu. Oder man durfte auch das Wort ›bloody‹ gegenüber einer Dame nicht aussprechen, nicht einmal, wenn es nur um die Beschaffenheit eines Steaks ging.«
Tino kicherte. »Bloody, bloody, bloody!«, wiederholte er ein ums andere Mal und sprang dabei wild herum. Auf der langen Schiffsreise war ihm mehr als einmal langweilig geworden.
»Sei doch endlich still!«, rief Clara streng, die in den letzten Wochen ein wenig die Mutterrolle übernommen hatte.
»Bloody, bloody!«, rief Tino weiterhin feixend und entwischte Clara, die ihm den Mund zuhalten wollte, immer wieder aufs Neue.
»Dieser ganze Reichtum«, zischte Victoria, »er wurde auf Kosten derer gewonnen, die in den Fabriken gnadenlos ausgebeutet wurden.«
Ihre Stimme nahm einen dozierenden Tonfall an, und Aurelia warf ihr einen mahnenden Blick zu. Obwohl sie als Gäste der Wellingtons nach New York kamen, hielt sich Victoria mit ihrer Meinung nie zurück und war schon ein paarmal mit Kate in die Haare geraten, wenn diese abfällig über das arme Pack sprach. Christopher und Aurelia war es bisher immer gelungen, den Streit zu schlichten, aber Aurelia hoffte, dass es nach der Ankunft leichter sein würde, die beiden voneinander entfernt zu halten.
Nun war ohnehin keine Zeit mehr für einen Disput, denn sie legten endgültig an.
Schon aus der Ferne hatten sie die Hochhäuser Manhattans gesehen, und als sie wenig später das Schiff verließen, stand Aurelia erstmals vor einem der Häuser, die den Himmel kitzelten und deren Spitze man selbst dann nicht sehen konnte, wenn man den Kopf zurücklegte. Der eigene Chauffeur holte sie mit dem Auto ab, doch anstatt gleich zu ihrem Haus in der Fifth Avenue zu fahren, schlug Kate eine kleine Rundfahrt vor, die an den berühmtesten Gebäuden der Stadt vorbeiführte, dem Flatiron Building, das die Form eines Bügeleisens hatte und darum so genannt wurde, dem Tower Building, das mit seinen dreizehn Stockwerken der erste Wolkenkratzer der Stadt gewesen war, und natürlich dem Broadway.
»Tino, schau doch nur!«, rief Clara andauernd, doch Tino war so fasziniert von dem Auto, in dem sie fuhren, dass er gar nicht auf die Häuser achtete.
»Wir hätten übrigens auch mit der U-Bahn oder der elektrischen Straßenbahn fahren können, dann wären wir schneller gewesen«, meinte Christopher.
»Ich dränge mich doch nicht mit Wildfremden in überfüllte Wagen!«, rief Kate. »Was werde ich froh sein, wenn wir endlich zu Hause sind, ohne dass mir jemand meine Geldbörse gestohlen hat.«
Die hielt sie auch hier im Wagen fest umklammert – genauso wie stets auf dem Schiff.
Angesichts des Reichtums der Wellingtons erwartete Aurelia ein äußerst luxuriöses Heim – und wurde nicht enttäuscht.
Die Fifth Avenue, so wurde Kate nicht müde zu betonen, war ohne Zweifel die beste Adresse New Yorks, die Nachbarschaft erlesen und die Wege zum Sportclub oder Theater nur kurz.
»Wir haben auch einen Sommersitz auf Long Island – aber den besuchen wir so gut wie nie«, erklärte Christopher.
»Die Gespräche, die dort im Sommer geführt werden, sind so langweilig wie einst im Gilded Age!«, stöhne Kate.
»Darf man immer noch nicht über Hosen reden und ›bloody‹ sagen?«, fragte Tino neugierig.
»Das schon, aber es wird pausenlos über die Wirtschaft und die Folgen des Krieges gefaselt.«
»Es ist nicht das Schlechteste, wenn sich die gnadenlosen Kapitalisten ein paar Gedanken über die Welt machen«, mischte sich Victoria ein.
Ausnahmsweise verzichtete Kate auf eine Entgegnung, denn eben waren sie angekommen.
Das Haus war ein regelrechtes Schloss mit Wandteppichen, Deckenfresken, Buntglasfenstern und diversen Gemälden von Rembrandt, die Kates Vorfahren aus Frankreich importiert hatten. Die Fußböden aus polierter Eiche glänzten genauso wie die walnussgetäfelten Wände, im Renaissancekamin brannte ein behagliches Feuer. Unmengen von Dienstboten standen zu ihrem Empfang bereit und reichten Erfrischungen.
»Ich liebe unsere Reisen!«, stieß Kate aus. »Aber es ist auch immer wieder schön, heimzukommen.« Sie seufzte genussvoll und wandte sich an Christopher: »Kannst du dich erinnern, wie wir hier auf unserer Hochzeit die Quadrille getanzt haben?«, fragte sie und klang so liebevoll wie sonst kaum.
Das war für Tino nur ein Ansporn, wieder schrill »Bloody, bloody!« zu rufen.
»Willst du wohl still sein?«, mahnte Clara.
Victorias Blick blieb misstrauisch. »Lass dich von diesem Reichtum nicht täuschen«, flüsterte sie Aurelia zu, »New York ist keine wohlhabende Stadt. Die Reichen schwimmen im Luxus, aber die anderen leben in dunklen Mietskasernen …«
Aurelia hörte an ihren Worten vorbei, sagte selbst nichts und widmete sich dem Anblick der edlen Gemälde. Immer noch war sie sich nicht sicher, was sie hierhergetrieben hatte, aber plötzlich erwachte in ihr etwas, was sich im Gleichmaß der letzten Jahre kaum geregt hatte: unbändige Neugierde darauf, was der nächste Tag wohl bringen würde.
Seit langem hatte Tiago nicht so viel Elend gesehen wie im Einwandererhafen von New York. Armut gab es zwar auch in London; vor allem seit dem Krieg konnte man kaum über die Straße gehen, ohne dass Bettler, Invaliden und Waisen einem hilfesuchend ihre Arme entgegenstreckten. Aber im Büro von Lawrence, wo er die meiste Zeit verbracht hatte, war nichts davon zu spüren gewesen, und auf den Baustellen war er ausschließlich von jungen, kräftigen Männern umgeben.
Hier nun auf Ellis Island, gut acht Meilen von Manhattan entfernt, wo die Schiffe aus Europa eintrafen und ihre Passagiere einer strengen Gesundheitsuntersuchung unterzogen wurden, fühlte er sich wie in einem Vorzimmer zur Hölle. Menschen, die halb verhungert oder schon krank ihre Heimat verlassen hatten, wirkten nach den langen Wochen auf hoher See noch ausgezehrter.
Lawrence hatte ihm abgeraten, das Schiff nach New York zu nehmen. Obwohl es weniger Auswanderer als früher gab, zog es nach wie vor viele Europäer in die Neue Welt, und längst hieß man sie nicht als neue, frische Arbeitskräfte begeistert willkommen, sondern zeigte ihnen durch abfällige Gesten und Worte, wie unerwünscht sie waren.
»Tu dir das nicht an!«, hatte Lawrence ihn gewarnt.
Doch das Schiff nach New York war das erste gewesen, das Southampton verließ, nachdem Tiago wieder wusste, wie er hieß, und seine Verletzungen verheilt waren, und er war überzeugt, schneller nach Südamerika zu gelangen, wenn er erst einmal den Atlantik überquert hatte.
Nach der plötzlichen Erkenntnis, woher er stammte, hatte er sich weitere Erinnerungen erhofft, doch alle bruchstückhaften Bilder, die aufstiegen, glichen Blitzen: Sie waren zu kurz und zu grell, um Einzelheiten seines früheren Lebens zu beleuchten. Mal glaubte er, eine Palme zu erkennen, mal eine Bergspitze, manchmal sogar Gesichter. Doch stets konnte er nur die Farbe der Haare erkennen, die sie umrahmten, nicht die konkreten Züge oder gar die Augen.
Er hoffte, auf vertrautem Boden bald mehr zu erfahren, doch seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt: Auf dem Schiff brach eine Seuche aus, und obwohl der Schiffsarzt sich nicht sicher war, ob es sich um Typhus, Dysenterie oder etwas Harmloseres handelte, wurde die gelbe Flagge gehisst. Eine Weile fuhren sie vor dem Hafen auf und ab, und erst als es nach einer Woche keine neuen Toten zu vermelden gab, wurde ihnen endlich erlaubt, Ellis Island zu betreten. Die Untersuchungen der Passagiere fielen noch strenger aus als bei anderen Schiffen.
Endlos lange kam Tiago die Kette vor, in der er sich anstellen musste. Grau, zerlumpt und mager waren die meisten, in deren Gesichter er blickte. Bei einigen war der Blick wie tot, bei anderen standen Hoffnung und Sehnsucht darin – beides atmete Verzweiflung und die Angst, so kurz vor dem großen Ziel abgewiesen zu werden.
Die Ärzte, die die Untersuchungen vornahmen, hatten sich längst an das Elend gewohnt. Mitleidlos untersuchten sie Hälse nach Kröpfen oder dem scharlachroten Rachen, zwangen manche Menschen dazu, zu urinieren, um den Harn auf Vergiftungen zu untersuchen, und kannten keinerlei Nachsicht mit verschämten Frauen, die sich vor ihren Kindern ausziehen mussten und deren Schamhaare durchkämmt wurden, da sich darunter ein Ausschlag befinden könnte.
Noch Nächte später hatte er Alpträume angesichts der vielen Tragödien, die er hautnah miterlebte – unter anderem die eines jungen, eigentlich kräftigen Mannes, der ein Bein verloren hatte, darum hinkte und prompt ein L, als Zeichen für »lame«, mit Kreide auf seine Kleidung geschrieben bekam. Jeder wusste, was das bedeutete: Man würde ihm nicht gestatten, Ellis Island zu verlassen, sondern ihn auf dem nächsten Schiff zurück nach Europa schicken – da nützte es auch nichts, als der Mann erst wütend, dann verzweifelt, schließlich unter Tränen bekundete, dass er das Bein im Krieg, folglich im Dienst am Vaterland, verloren hatte, dass ihn sein Fehlen aber nicht daran hindern würde, so hart zu arbeiten wie jeder andere auch.
Schließlich, da er sich nicht beruhigte, wurde er gewaltsam fortgeschafft.
Fast noch mehr traf Tiago das Schicksal einer spanischen Familie: Der Mann war stattlich und feist, die Mutter hingegen bleich, schmal und hustete Blut. Auch die Kinder unterschieden sich, kamen die Söhne doch nach dem gut genährten Vater, die Mädchen nach der hohlwangigen Mutter. Prompt wurden die weiblichen Familienmitglieder von den anderen getrennt und in eines der beiden Krankenhäuser von Ellis Island eingewiesen. Wenn sie sich rasch erholen würden, so hieß es, könnten sie bald zum Rest der Familie stoßen – falls nicht, wäre die Familie auf ewig getrennt. Die Frau und die Söhne schluchzten herzzerreißend, die Mädchen hatten keine Kraft dazu, und im Gesicht des Mannes stand nur nackte Gier – Gier nach gutem Verdienst und folglich nach Reichtum, die ihn hierhergelockt hatte und der er im Notfall auch Frau und Töchter opferte.
Wahrscheinlich, ging es Tiago durch den Kopf, war dieses Opfer sogar umsonst. Längst war Amerika kein gelobtes Land mehr, in dem der einfachste Lump zum Millionär werden konnte. Hier galt wie überall sonst auf der Welt, dass Arme immer ärmer und Reiche immer reicher wurden.
Vor Tiago kam ein Russe an der Reihe. Er versuchte, auf Englisch zu sprechen, aber er hatte einen so starken Akzent, dass man ihn kaum verstand. Obwohl kräftig und gesund, zweifelte man darum an den Fähigkeiten seines Verstands und stellte ihm eine Rechenaufgabe, auf dass er beweisen möge, dass ihm dieser nicht fehlte. Wenn er zwei Pferde, drei Kühe und vier Schafe hätte, wurde er gefragt – wie viele Tiere hätte er dann insgesamt?
Der Russe glotzte erst verständnislos, dann knurrte er – diesmal gut verständlich: »Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, wenn ich so viele Tiere gehabt hätte, dann wäre ich nicht nach Amerika gekommen.«
Tiago musste schmunzeln und freute sich, dass der Russe die Einwanderungserlaubnis erhielt, ehe endlich er selbst an der Reihe war.
Noch mehr als die Tatsache, dass er besser gekleidet war als der Rest und fließendes Englisch sprach, schlug ins Gewicht, dass er nicht in New York bleiben wollte. Prompt wurde ihm der Passierschein ausgestellt – wann das nächste Schiff nach Südamerika den Hafen verließ, konnte man ihm aber nicht sagen.
Tiago unterdrückte ein Seufzen. Er hatte gehofft, dass er Manhattan gar nicht betreten müsse, doch nun sah es so aus, als müsste er sich auf einen längeren Aufenthalt einstellen.
Victoria langweilte sich bald im Haus der Wellingtons – ganz anders als Clara, die der viele Luxus sichtlich begeisterte und die die vielen Annehmlichkeiten genoss. Eigentlich missfiel Victoria das, wollte sie doch nicht, dass sich das Mädchen zu sehr daran gewöhnte, aber das strahlende Gesicht rührte sie, und meist biss sie sich auf die Lippen, um sie nicht dafür zu maßregeln.
Tino wiederum fand großen Spaß daran, die Dienstboten zu provozieren und allerhand Streiche anzustellen – Kate Wellington reagierte mit Strenge, Christopher dagegen war begeistert: Anstatt den Jungen zu mäßigen, stachelte er ihn zu allerlei Unsinn an, bis es Kate eines Tages reichte und sie die beiden aus dem Haus warf. Sie sollten nach Coney Island fahren, wies sie sie an, immerhin läge das nur vierzig U-Bahn-Minuten von Manhattan entfernt.
Eine Strafe war das ganz gewiss nicht. Tagelang schwärmte Tino hinterher von der Vergnügungsinsel mit den vielen Phantasiegebäuden, Karussells und Lichtkaskaden. Insgesamt zweihundertfünfzigtausend Glühbirnen erleuchteten die Fassaden des Amüsierviertels und zeichneten am Abend grelle Illuminationen auf den schwarzen Himmel.
Eine schrecklich künstliche Welt, dachte sich Victoria, und eine sinnlose Art, sein Geld auszugeben … Aber wie so vieles sagte sie es nicht laut, sondern gönnte dem Jungen seinen Spaß. Noch mehr gönnte sie Aurelia, dass diese endlich die Aufmerksamkeit bekam, die sie verdiente. Kate empfing viele Gäste, erzählte zum hundertsten Mal von den vielen Abenteuern, die sie auf der Weltreise erlebt hatten, aber auch von der Künstlerin, die sie an einem der einsamsten Orte auf Erden entdeckt hatte. Victoria hatte zwar das Gefühl, dass die meisten weniger an den Gemälden als vielmehr an Aurelias Schicksal interessiert wären, das Kate künstlich überhöht hatte – so wie sie davon erzählte, schien es, als hätte Aurelia aus Kummer um ihren Mann die letzten Jahre als Eremitin verbracht –, aber immerhin betrachtete die Gästeschar die Bilder interessiert. Manches Porträt wurde in Auftrag gegeben, und Aurelia wurde mit allem überhäuft, was sie zum Malen brauchte, feinsten Pinseln aus Chinaborsten oder Iltisschwänzen, teuersten Ölfarben, Leinwänden und Staffeleien.
In der dritten Woche ihres New-York-Aufenthalts lud Kate zu einer großen privaten Ausstellung ein. Einlass würde nur bekommen, wer eine entsprechende Einladung hatte – dennoch ließ sie auch in Zeitungen dafür werben: nicht, wie sie dreist erklärte, um Leute zum Kommen anzustacheln, sondern um sie neidisch werden zu lassen.
»So funktioniert die Welt«, erklärte sie eitel, »was die Menschen in Fülle haben, verliert an Wert. Was nur wenigen zuteilwird, gilt als Privileg.«
Einmal mehr verkniff sich Victoria einen Kommentar – insgeheim froh, dass Kate bei der Ausstellung zwar auch diverse Artefakte und Mitbringsel aus anderen Ländern zeigen wollte, im Mittelpunkt aber ohne Zweifel Aurelias Gemälde Die Farben Chiles stehen würde.
Victoria freute sich ehrlich für sie, floh allerdings an den Tagen vor dem Empfang oft aus dem Haus, um den ermüdenden Diskussionen um Menüfolge und Kleiderauswahl zu entgehen. Kate ermahnte sie, dass sie am besten in der Nähe der Fifth Avenue bleiben möge, in den übrigen Vierteln wohne nur Pack, und Victoria nickte zwar, hatte aber anderes im Sinn. Die Sehenswürdigkeiten der Stadt interessierten sie wenig – umso mehr die unterschiedlichen Menschen, die hier lebten. Einen Tag lang tat sie nichts anderes, als mit der Hochbahn mehrmals quer durch Manhattan zu fahren und die Geschäftsleute zu beobachten, die derart unter Druck standen, dass sie zeitunglesend ihren Lunch kauten. Offenbar hatten sie sonst keine Zeit zum Essen. Erst nach ein paar Stunden bemerkte sie, dass die Männer gar nicht ihr Mittagessen verzehrten, sondern lediglich einen Kaugummi kauten.
Tags darauf fuhr sie über die Brooklyn Bridge – die längste Hängebrücke der Welt mit einer mächtigen Stahlseilverankerung. Kate hatte erzählt, dass sie bei der feierlichen Eröffnung 1883 als achtes Weltwunder gefeiert wurde – eine Bezeichnung, die ihr durchaus würdig erschien, obwohl sie Brooklyn hasste. Christopher Wellington dagegen, der um Victorias Gesinnung wusste, fügte hinzu, dass der Bau dieses achten Weltwunders viele Menschenleben gekostet hatte, an die keiner mehr denke – wohl eher, um seine Frau zu provozieren, als aus gleicher Überzeugung.
In Brooklyn war Victoria zu Fuß unterwegs, geriet von Viertel zu Viertel, kam an den koscheren Lebensmittelgeschäften der Juden in Williamsburg vorbei, kleinen Nudelfabriken und Trattorien im italienischen Bushwick und den Lokalen in Bedford, wo Brathähnchen und Süßkartoffeln wie in den Südstaaten angepriesen wurden. Das Essen ließ sie kalt – viel faszinierender fand sie, dass so viele Nationen an einem Platz lebten. In der Atacamawüste, wo viele Ausländer gearbeitet hatten, hatte sie manche Fremdsprache gelernt, und es machte ihr Spaß, diese nun auszuprobieren. Kein Wort verstand sie – nach Manhattan zurückgekehrt – auf der Pell Street in Chinatown.
Es war später Nachmittag geworden, als sie an den Lebensmittelständen des Washington Market vorbeikam – ein so lauter und belebter Ort, dass es sie rasch zur Flucht drängte. Sie wich auf eine der Seitenstraßen aus, auf deren Boden Müll verrottete. Der Dreck störte sie wenig – wie immer befriedigte sie es, wenn sie hinter dem vermeintlich reichen, glanzvollen New York, das Kate beschwor, das wahre Gesicht der Stadt entdeckte, in der es neben allem Geld so viel Elend gab. Sie ging neugierig weiter, kam zu einer der größten Mietskasernen, wo Menschen in winzigen Löchern und unter schrecklichen hygienischen Bedingungen lebten.
Irgendetwas Außergewöhnliches musste dort vor sich gehen, denn vor einer der Türen drängten sich mehrere Dutzend Menschen. Sie trat näher und hörte eine laute Stimme, die ins Freie drang und der zu lauschen all diese Menschen offenbar gekommen waren. Victoria hörte interessiert zu – und erstarrte schon im nächsten Moment: Wer immer diese Rede hielt – er sprach zwar englisch, aber er hatte einen unüberhörbaren spanischen Akzent.
Noch ehe sie wusste, wer es war, berührte sie etwas tief in ihrer Seele.
Sie zwängte sich durch die Menschenmasse hindurch, erreichte das Gebäude, trat auf die Zehenspitzen. Wieder erstarrte sie, als sie erkannte, wer die Rede hielt. Sie hätte nie geglaubt, diesen Mann wiederzusehen – und erst recht nicht hier.
Tiago war gezwungen, zwei Wochen auf die nächste freie Schiffspassage Richtung Chile zu warten. Anfangs war er ärgerlich und ungeduldig, später fügte er sich dem Unvermeidlichen. Zum ersten Mal seit Jahren konnte er sich nicht in Arbeit flüchten, sondern hatte Zeit, nachzudenken. Dies fiel ihm schwer. Obwohl er genügend Geld hatte, um sich in einem anständigen Hotel einzumieten, hielt er es drinnen kaum aus. Saß er still, so glaubte er, würden auch die Erinnerungen erlahmen und die Stille seinen Kopf zum Platzen bringen. Im Lärm und Gewühl der New Yorker Straßen hoffte er auf neue blitzartige Bilder, die jäh vor seinen Augen aufsteigen würden.
Besagtes Gewühl jedoch fiel so heftig aus, dass er sich weniger auf mögliche Erinnerungen konzentrieren konnte, als darauf, heil über die Straßen zu kommen, ohne von einem Fuhrwerk, Auto oder der Straßenbahn, die von unterirdisch verlaufenen Kabeln gezogen wurde, überfahren zu werden. Wenn er wiederum vermeinte, irgendwo sicher stehen zu können und nicht zu riskieren, dass sich Ellbogen in seinen Körper rammten, wurde seine Aufmerksamkeit von den vielen faszinierenden Gebäuden und Konstruktionen gebannt.
Sich mit Architektur zu beschäftigen hatte ihm all die Jahre geholfen, zu überleben und nicht den Verstand zu verlieren. Hier nun merkte er, wie viel er tatsächlich mittlerweile davon verstand, und er hätte gerne mehr darüber erfahren. Allerdings war er nur von geschäftigen Fremden umgeben, die längst blind waren für die Attraktionen ihrer Stadt.
In den ersten Tagen hatte es geregnet – dann wurde es so schwül und heiß, dass selbst die Damen manchmal ihre Jacken auszogen und unter den Arm nahmen. Und in dem Moment, in dem er eine von diesen Damen beobachtete, stieg eine Erinnerung hoch. Er war sich nicht sicher, warum er es wusste – aber die Frauen in Chile, das war ihm plötzlich ganz klar, hätten sich niemals so gehenlassen und aller Welt gezeigt, dass Hitze oder Kälte ihnen zusetzten. Auch im Sommer trugen sie Mieder und enge Kragen.
Plötzlich sah er viele elegante Kleider vor sich, Kleider aus Brokat, aus Musselin, aus Samt, mit Spitzenbordüren, breiten Gürteln, Perlenstickereien – Kleider, die Aurelia getragen hatte. Immer noch konnte er ihr Gesicht nicht sehen, aber er war sich plötzlich sicher: Sie musste wunderschön gewesen sein.
Allerdings, und auch das ging ihm durch den Kopf, als er die New Yorker Frauen musterte – auch sie hatte sich in den unbequemen Kleidern nicht immer wohl gefühlt. Vielleicht hätte sie heute und hier auch ihre Jacke ausgezogen – einfach weil es praktischer war.
Je konkreter die Erinnerungen wurden, desto aufmerksamer musterte er die Frauenmode und stellte fest, wie stark sie sich in den letzten Jahren verändert hatte. Man sah kaum mehr Mieder, und die Röcke waren so kurz, dass man die Unterschenkel sehen konnte. Eine Frau war über seinen Blick, der ihr wohl als aufdringlich erschien, so erbost, dass sie ihren Sonnenschirm hob und auf seinen Arm schlug. Tiago zuckte zusammen und entschuldigte sich mehrmals, aber sie rauschte hochmütig davon.
Fortan wagte er es nicht mehr, den Frauen hinterherzustarren. Stattdessen entdeckte er nun die kleinen Zeitungskioske für sich, die es an jeder Ecke gab und wo man diverse Modemagazine kaufen konnte: Vanity Fair, Vogue oder Harper’s Bazaar. Bald fand er heraus, dass sie nicht nur über Kleider berichteten, sondern auch über teuren Schmuck, Automobile oder die Polosaison.
Der Zeitungsverkäufer starrte ihn missmutig an, als er eines Tages wieder einmal die Journale musterte. »Wenn Sie sie lesen wollen, dann müssten Sie sie gefälligst auch kaufen«, knurrte er.
Tiago kramte in seiner Tasche nach Münzen, stellte aber fest, dass er keine mehr hatte und sein Portemonnaie im Hotelsafe gelassen hatte. Er öffnete den Mund, um sich zu entschuldigen, als ihm seine Kehle plötzlich ganz trocken wurde. Sein Blick war auf eine weitere Titelseite von einem der Journale gefallen, und das, was er sah, ließ sein Herz stocken.
Es war kein Auto, kein Diamant, kein Kleid. Es war ein Bild. Ein Bild, das er kannte.
Mit zitternden Händen ergriff er das Journal. Obwohl die einzelnen Worte verschwammen, konnte er die Überschrift lesen, die unter diesem Bild stand.
Die Farben Chiles.
Im großen, lauten New York schien es plötzlich ganz still und leise zu werden. Ein Gefühl überkam ihn, als wäre eine Saite seiner Seele zum Schwingen gebracht, und der Ton, der erklang, wäre der schönste, den er je gehört hatte.
Das Bild war nur sehr klein abgedruckt, aber ausreichend groß, um die Details zu erkennen: zwei Menschen, die Hand in Hand vor einer weiten, kargen Landschaft standen und sich vom rötlichen Himmel kaum abhoben.
Patagonien … das war Patagonien …
Mit immer noch zitternden Händen schlug er die Zeitung auf und suchte nach dem entsprechenden Artikel. Wieder verschwammen ihm die Buchstaben vor den Augen, dann sprangen ihm zwei Namen in den Blick.
Christopher und Kate Wellington.
Offenbar hatten diese irgendetwas mit dem Bild zu tun.
Er murmelte sie, aber die Namen blieben ihm fremd. Er wollte weiterblättern, weiterlesen, doch in diesem Augenblick trat der Zeitungsverkäufer vor und riss ihm das Journal aus der Hand.
»Wie gesagt – wenn Sie die Zeitung lesen wollen, müssen Sie sie bezahlen.«
»Bitte, ich habe kein Geld dabei … aber ich muss doch …«
»Dann ist das Ihr Pech.«
Sprach’s und wollte die Zeitschrift zurück auf den Stapel legen. Ehe er es tat, hatte sie Tiago ihm schon unwirsch aus der Hand gerissen. Unmöglich konnte er darauf verzichten! Dieses Bild war der Schlüssel zu seiner Vergangenheit, einer Vergangenheit, die sich – während der Verkäufer erbost auf ihn einschrie – unter dem Schleier der letzten Jahre hervordrängte!
Aurelia … Sie kommt aus Patagonien … Sie ist eine begnadete Malerin … Mein Vater … Mein Vater war gegen die Verbindung … Mein Vater heißt William Brown, er ist Engländer.
Die Erinnerungen waren keine Blitze mehr, sie kamen wie ein mächtiger, breiter Fluss, der ihn mit sich riss. Der Zeitungsverkäufer riss auch – nämlich an dem Journal, während Tiago es erbittert festhielt und es einfach nicht hergeben wollte. Seine Verzweiflung gab ihm Kraft. Bald hatte er es wieder an sich gebracht, presste es an die Brust wie einen kostbaren Schatz und stürmte davon.
Ja, mein Vater ist Engländer … Meine Mutter hingegen ist Chilenin. Alicia … Sie heißt Alicia, und sie ist fromm …
Er hörte den Zeitungsverkäufer laut schreien und nahm aus den Augenwinkeln wahr, wie ein Mann auf einem Fahrrad darauf aufmerksam wurde, nicht irgendein Mann, sondern ein Streifenpolizist, der mit diesem Transportmittel so viel schneller vorankam als mit einem Wagen.
»Ein Dieb! Der Mann ist ein Dieb! Haltet ihn!«
Tiago rannte und rannte. Alles war ihm egal – dass der Polizist ihn verfolgte, dass er gegen Menschen stieß, dass diese ihn beschimpften. Er rannte immer weiter davon – und zugleich mit jedem Schritt auf sein altes Leben zu.
Er musste unbedingt herausbekommen, wo dieses Ehepaar Wellington lebte und was sie mit diesem Bild zu tun hatten! Er musste Aurelia wiederfinden!