13. Kapitel

Andrés saß hinter dem Mikroskop in seinem Labor – oder vielmehr in dem Raum, den er sich gerne als Labor eingerichtet hätte. Noch fehlte es an Ausrüstung und den notwendigen Gerätschaften, um wirklich so bezeichnet zu werden. Das Mikroskop war veraltet und quietschte. Immerhin konnte er einige Forschungen zur Bakteriologie machen und versuchen, jene Tests namhafter Mediziner zu wiederholen, die einzelne Bazillen mit Anilinfarben färbten und identifizierten.

Er wusste, er war auf diesem Feld ein Stümper, aber seine Faszination für diese Mikroorganismen war eine ungleich größere, als wenn er Krankenhausflure abschritt. Er interessierte sich für Krankheiten, für jene »Experimente der Natur«, wie sie viele Wissenschaftler bezeichneten. Für Kranke hingegen interessierte er sich nicht.

Blutenden, eiternden, hustenden Menschen gegenüberzustehen widerte ihn an. Wenn er sich sein Leben ausmalte, wie es sein sollte, so sah er sich stundenlang in einem Labor sitzen – und zwar in einem, das dieses Namens würdig war – und hinterher am Schreibtisch, um seine Erkenntnisse in einem Artikel für die Revista Médica, die erste medizinische Fachzeitschrift Chiles, festzuhalten. Seine Kollegen würden begeistert sein, und wenig später würde man ihm eine Stellung am Instituto de Anatomía Patológica, das Doktor Westenhöfer erst vor kurzem gegründet hatte, anbieten. Ja, auch in dieser Form beschäftigte er sich gerne mit Krankheiten: Wenn man nicht mehr den leidenden Menschen, sondern den Leichnamen gegenübertrat, die nur vermeintlich stumm, nur vermeintlich leblos waren. In Wahrheit hüteten sie so viele Geheimnisse, denen man bei einer Sektion auf die Spur kommen konnte.

Er kannte Ärzte, die diese Arbeit zwar als notwendig, aber als widerwärtig empfanden, doch er selbst fürchtete weder die Toten noch die Mikroorganismen, die man nicht sehen konnte. Er fürchtete die Lebenden weit mehr.

»Andrés, wo bleibst du?«

Er zuckte zusammen, als er die Stimme seines Vaters hörte. Ramiro duldete nur widerwillig, dass er Zeit in seinem »Labor« verbrachte. Nutzlos schien ihm eine Arbeit, bei der sein Sohn nicht mit Menschen zusammentraf, wobei auch Ramiro keine kranken Menschen im Sinn hatte, sondern reiche – solche zum Beispiel, die man bei Wohltätigkeitsvereinen traf. In einem von diesen, der Junta de Vacunas, der Vereinigung für Impfungen, sollte sich Andrés nach Ramiros Willen ehrenamtlich engagieren – was zum einen bedeutete, dass er den wohlhabenden Unternehmergattinnen rührende Geschichten von sterbenden Kindern erzählen sollte, die ihnen erst Tränen in die Augen trieben, dann Geld aus den Taschen zogen, und zum anderen, was noch schlimmer war, dass er selbst Impfungen vornehmen sollte.

»Wenn ich es doch noch schaffe, eine Stiftung zur Gründung eines kleinen, aber feinen Privatkrankenhauses ins Leben zu rufen – dann sind das die Menschen, die einen Beitrag dazu leisten können«, sagte sein Vater oft. Vielleicht hatte er recht. Manche Menschen hatten so viel Geld, dass sie es bedenkenlos ausgaben. Doch er, Andrés, wollte mit diesem Geld nichts zu tun haben, nichts mit Bürokratie, nichts mit Verwaltung. Selbst wenn das erträumte Krankenhaus eine eigene Abteilung für Pathologie haben würde – er wollte keine Verantwortung dafür tragen, die Kosten für ein neues technisches Gerät nicht rechtfertigen, ellenlange Berichte schreiben, sich vielleicht gar um die Buchhandlung kümmern. Er wollte …

»Andrés, hörst du mich nicht?«, rief sein Vater und betrat den Raum.

Seine erste Regung war, vom Mikroskop aufzuspringen, aber dann blieb er trotzig sitzen.

»Hast du schon gelesen«, er deutete auf eine der medizinischen Fachzeitschriften, »ein Artikel über Möricke. Er hat schon wieder eine neue Operationsmethode angewandt, die Haematocele Retrouterina, bei der …«

»Wenn du solche Begriffe benutzt, werden die feinen Damen der Gesellschaft nicht sonderlich beeindruckt sein. Die armen rachitischen Kinder dagegen …«

Andrés fuhr hoch: »Dir selbst sind diese armen rachitischen Kinder doch auch völlig gleichgültig!«, brach es aus ihm hervor.

Sein Vater machte sich nicht einmal die Mühe, es zu leugnen. »Alicia Alvarados wird bei dem Wohltätigkeitsbasar gewiss auch anwesend sein.«

»Ich verstehe dich nicht!«, rief Andrés. »Du selbst hast mir eingeredet, Tiago und Aurelia Unterschlupf zu bieten. Wir waren beide bei ihrer Trauung dabei. Das ist doch ein Schlag ins Gesicht der Brown y Alvarados’. Und jetzt willst du dennoch, dass ich mich bei ihnen einschmeichle?«

»Gott, Andrés!« Eine steile Falte erschien auf Ramiros Stirn. »Gib dich nicht so begriffsstutzig! Menschen wie unsereins ist es nicht vergönnt, sich nur für eine Seite zu entscheiden. Wir dürfen keine Brücken abreißen. Gewiss musst du dafür sorgen, dass Tiago dein Freund bleibt – aber zugleich sollte William Brown wissen, dass du auch ihn verstehst. Tiago musst du erklären, wie ungerecht seine Eltern sind – Alicia jedoch, dass du Tiagos Entscheidung nie und nimmer gutheißen wirst. Auf diese Weise bleiben wir der Familie verbunden – ganz gleich, wie der Streit ausgeht.«

Andrés schluckte. Seit nunmehr vier Wochen lebten Tiago und Aurelia im Haus, zwei davon als Frischverheiratete. Immer wieder musste er sich vorstellen, was wohl hinter den Türen des gemeinsamen Schlafzimmers geschah. Einmal hatte er sich sogar dorthin geschlichen und gelauscht. Er hatte nichts gehört, war hinterher dennoch hochrot im Gesicht gewesen.

Wenn er die beiden ansah, wusste er nicht, was größer war – die versteckte Lust bei Aurelias Anblick oder der versteckte Hass auf Tiago. Vielleicht galt dieser Hass gar nicht so sehr Tiago, der sich derart dreist mit seinem Vater anlegte, sondern sich selbst, weil er das nie wagen würde. Vielleicht war der Hass in Wahrheit auch Neid – Neid auf Tiago, weil der seinen Willen durchsetzte, und auch ein bisschen Neid auf Aurelia, die einfach nur heiraten musste, um aufzusteigen, während sein Vater sich dafür jahrzehntelang in der Kunst der Diplomatie, der Heuchelei, des Ränkeschmiedens üben musste.

»Gerade deswegen ist es doch besser, ich bin heute nicht dabei«, erklärte Andrés schnell, weil er einen Ausweg gefunden hatte, die unangenehme Pflicht von sich zu weisen. »Ich meine, wenn du William oder Alicia siehst, könntest du dich offen von mir distanzieren, könntest erklären, wie unangenehm es ist, dass Tiago und Aurelia unter diesem Dach leben und dass du es nur meinetwegen zulässt.«

Ramiro nickte nachdenklich.

»Zugleich könntest du ihnen vermitteln, dass es Tiago gutgeht. Insgeheim wird Alicia das gerne hören.«

Eigentlich war er sich nicht sicher, ob es etwas gab, was Alicia gerne tat oder hörte. Die Frau war steif wie ein Stock. Aber Ramiro war von seinem Argument überzeugt. »Vielleicht hast du recht, und du bleibst hier. Aber verschwende die Zeit nicht im Labor – du solltest lieber mit Tiago und Aurelia zusammen sein.«

Andrés lauschte, wie die Schritte seines Vaters sich langsam entfernten. Allein aus Trotz wäre er gerne erst recht im Labor sitzen geblieben, doch am Ende war es nicht nur Ramiros Wunsch, der ihn dazu trieb, es zu verlassen, sondern die eigene Sehnsucht, Aurelia zu sehen, sich an ihrem Anblick zu laben … und sich davon zugleich vernichtet zu fühlen.

Wie er es hasste, wenn Tiago ihre Hand hielt und sie streichelte! Wie er es hasste, wenn sie sein Lächeln beseelt erwiderte! Und wie er seinen Blick dennoch nicht von ihr lassen konnte!

Nun, heute blieb ihm die äußerste Prüfung erspart. Nachdem er an der Tür zu ihrem Gemach geklopft hatte und eintrat, stellte er fest, dass sich Aurelia allein in dem großen, edel eingerichteten Raum aufhielt und versunken zeichnete. Sie hatte ihn nicht kommen gehört; ihr Blick war starr auf den Skizzenblock gerichtet, während ihr Stift mit Windeseile darüberfuhr.

Andrés wurde der Mund trocken. Wie weich sich wohl ihre Haut anfühlte, jene Haut, die er zugleich küssen und schlagen wollte. Wie perfekt wohl ihre Glieder waren – unter jenen ärmlich anmutenden Kleidern … Kleider einer Tochter patagonischer Schafzüchter, Kleider, die er ihr am liebsten vom Leib gerissen hätte, um sie nackt zu sehen und zu beschämen, und zugleich, um sie in edlere Stoffe zu hüllen.

Ihm entfuhr ein Seufzen, und Aurelia, die ihn bis jetzt nicht wahrgenommen hatte, zuckte zusammen und blickte hoch. Er freute sich diebisch über ihren etwas ängstlichen Gesichtsausdruck. In den letzten Wochen hatten sie sich beide immer sehr höflich und distanziert verhalten. Keiner hatte auf das angespielt, was damals vor dem Haus der Familie Brown y Alvarados passiert war, aber es fiel Aurelia schwer, ihm in die Augen zu sehen, und irgendwie genoss er es: dass er zum ersten Mal seit langem mit ihr allein war. Und dass sie ihn scheute.

Rasch senkte sie ihren Blick. »Tiago ist nach Hause gefahren. Er versucht, mit seiner Mutter zu sprechen.«

Da wird er nicht viel Glück haben, dachte Andrés zufrieden, da er doch um Alicias Terminplan wusste. Er sagte aber nichts, sondern trat näher. Flüchtig streifte sein Blick das gemeinsame Bett, und einmal mehr stellte er sich vor, was in den Nächten darin passierte.

»Soso … er versucht seine Mutter gnädig zu stimmen …«

»Sie scheint ihm näherzustehen als sein Vater. Ihr Wohlwollen ist ihm wichtig.«

»Ach was!«

Sein Tonfall war so herablassend, dass sie ihn nun doch verwirrt ansah.

»Ich glaube, er tut das aus Berechnung. Weil am Ende eine Versöhnung mit Alicia wahrscheinlicher ist als die mit seinem Vater.«

»Aber er leidet wirklich darunter …«

»Natürlich leidet er! Aber spar dir die romantischen Vorstellungen, die du dir von ihm gemacht hast! Tiago ist genauso berechnend wie jeder andere Mensch. Gewiss, er hat sich in dich verliebt und glaubt nun, für diese Liebe einen gerechten Kampf auszufechten. Aber im Grunde ist er reichlich bequem. Sein Leben lang hat er alles bekommen, was er wollte. Echte Hindernisse musste er nie aus dem Weg räumen, und ich glaube, würde er jemals vor einem solchen stehen, würde er einknicken wie ein Halm im Wind. Zwar hat er manchen Streit mit seinem Vater ausgefochten, hat gegen dessen Willen durchgesetzt, dass er die Escuela besuchen kann. Aber nie ist es hart auf hart gekommen. Nie hat er sich wirklich überlegen müssen, was es heißt, arm zu sein.«

Aurelia schwieg betreten.

»Soll ich dir etwas sagen? Guillermo ist ein Spieler – aber Tiago auch. Er spielt nur damit, ein Außenseiter zu sein und nicht zur Oberschicht zu gehören – in Wahrheit nutzt er alle Privilegien seines Rangs. Sonst hätte man ihn nie auf der Escuela aufgenommen – und das weiß er auch.«

Kurz sah er in ihrem Blick Bestürzung aufblitzen, die seine Worte bestätigte, aber dann straffte sie den Rücken und erklärte entschlossen: »Es ist besser, du gehst jetzt.«

Andrés rieb seine Hände. Vielleicht wäre es tatsächlich besser, sie allein zu lassen. Aber er konnte nicht auf das Vergnügen verzichten, ihr zuzusetzen … und ihr nahe zu sein.

»Warum? Weil ich die Wahrheit sage? Und dir diese Wahrheit nicht gefällt? Glaubst du denn wirklich, du hast gewonnen? Oh, deine Ehe nützt dir gar nichts, solange sie nicht von einem Pfaffen gesegnet wurde. Tiago wird sich eine Weile mit dir vergnügen und den Rebellen mimen, aber dann wird er dich fallenlassen und zurück unter seines Vaters Rockzipfel kriechen. Eine zivilrechtliche Ehe lässt sich rasch scheiden.« Er schluckte. »Er glaubt, dass er für dich kämpft. Aber Menschen wie er haben nie richtig zu kämpfen gelernt. Ich kann kämpfen. Ich würde dich nie fallenlassen.«

Während er sprach, war er unmerklich näher gekommen. Er sah, wie sie sich an die Lehne des Stuhls presste, und lächelte. Dann beugte er sich vor. Er hatte es nicht geplant, aber plötzlich konnte er nicht anders, als ihre Hand zu nehmen. Sie versuchte, sie ihm zu entziehen, doch sein Griff blieb fest.

»Du kommst aus dem Nichts, Mädchen, und wenn du dich auf Tiago verlässt, wirst du bald wieder dorthin verschwinden«, raunte er. »Ich hingegen … ich hingegen würde immer zu dir stehen.«

Er beugte sich noch weiter vor. Ganz dicht waren seine Lippen vor ihren. Sie wich zurück, drehte den Kopf so weit wie möglich zur Seite. Als seine Lippen zwar nicht ihren Mund, aber ihren Hals streiften, hob sie die freie Hand, um ihn zu schlagen, doch er hielt sie rechtzeitig fest.

»Was ist?«, spottete er. »Hast du auf der patagonischen Schaffarm nicht gelernt, wie man den Widder an den Hörnern packt?«

Beide Hände hielt er nun fest, küsste sie wieder, diesmal auf die Wangen, schmeckte diese weiche, süße Haut …

Wut und Genuss, Hass und Gier vermengten sich.

»Nicht …«, flehte sie, »… nicht!«

»Nun hab dich nicht so! Du musst einsehen, dass ich es gut mit dir meine. Dass du mir vertrauen kannst.«

»Andrés! Hör auf!«

Ihr Widerstand heizte seine Erregung noch an. Doch als er abermals versuchen wollte, ihren Mund zu küssen, erstarrte er mitten in der Bewegung.

»Was, zum Teufel, geht hier vor?«, ertönte hinter ihm eine Stimme.


Die Wut schien in Tiagos Kopf förmlich zu explodieren, als er Andrés sah, der sich besitzergreifend über Aurelia gebeugt hatte. Er war der Freund und Vertraute seiner Kindertage, und sie standen sich immer nahe, nicht nur, weil sie so viel Zeit miteinander verbrachten, sondern weil Andrés unter seinem dominanten Vater ähnlich litt wie er, und überdies, weil er von einer anderen Welt erzählen konnte, die außerhalb seines düsteren Zuhauses wartete.

Jetzt aber sah er einen Fremden vor sich – einen anmaßenden, dreisten Fremden. Rasend vor Zorn, stürzte er auf ihn zu. Noch ehe Andrés ihn überhaupt gesehen hatte, packte er ihn schon am Kragen, zog ihn zurück und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Andrés war so überrascht, dass er sich nicht einmal wehrte – Aurelia dagegen schrie angstvoll auf.

»Nein bitte! Tu das nicht!«

Ganz gleich, wie sie flehte – Tiago konnte nicht aufhören. Er schlug zwar nicht länger mit der Faust zu, sondern mit der flachen Hand, aber ihm fiel nichts anderes ein, was er der Ohnmacht entgegensetzen konnte – der Ohnmacht der letzten Tage, da er vor seinem Elternhaus auf und ab gegangen war und mit sich gekämpft hatte, zerrissen vom Wunsch, Versöhnung zu suchen, und vom Widerwillen, das dunkle Haus zu betreten und um das Verständnis seiner Eltern zu werben.

»Tiago, hör auf!«

Aurelias Stimme war schließlich doch befehlender als die kalte Flamme seiner Wut. Er ließ Andrés los, der prompt auf seine Knie sackte. Sein Gesicht war von roten Flecken übersät, sein Haar zerzaust. Schnell rappelte er sich auf, einen Ausdruck ehrlicher Bestürzung auf seinem Gesicht. Doch ehe er Tiago die Situation erklären, ehe er sich rechtfertigen und um Vergebung flehen konnte, sagte Tiago kalt zu Aurelia: »Pack deine Sachen! Wir verlassen noch heute das Haus.«

Andrés’ Gesichtsausdruck wandelte sich. Nicht länger heischte er um Vergebung, blickte den Freund stattdessen halb spöttisch, halb nachsichtig an. »Ach ja?«, fragte er. »Und wohin wollt ihr dann gehen? So ganz ohne Geld?«

Tiago sah an ihm vorbei. »Dass du es wagst …«, zischte er.

»O nein!«, stritt Andrés den Vorwurf ab. »Ich bin hier nicht der Schuft! Du ziehst doch Aurelia in etwas hinein, was für sie niemals gut enden kann! Du machst ihr Versprechungen – und kannst ihr unmöglich eine Zukunft bieten.«

»Ich habe sie geheiratet!«, schrie Tiago.

»Ja, aber nur zivilrechtlich.«

Tiago ballte seine Hand zur Faust und hätte ihn am liebsten wieder geschlagen. Nur mühsam beherrschte er sich. »Ich werde immer zu ihr stehen!«, rief er.

»Wie du meinst«, gab Andrés nach. »Aber wohin willst du jetzt also gehen? Wovon willst du leben? Ha! Du bist von deinem Vater nicht minder abhängig als ich von meinem. Ich brauche seinen Respekt, du brauchst Williams Geld. Auch wenn du so tust, als könntest du dich ihm widersetzen – wer bist du denn, wenn er dir dein Leben nicht finanziert? Was hast du dir je erarbeitet? Ich … ich habe immerhin mein Studium abgeschlossen.«

Tiago hob seine Faust, aber Aurelia ging dazwischen und legte beruhigend ihre Hand auf seine Brust. »Bitte, Tiago, bitte beruhige dich. Es ist alles ein Missverständnis, es ist im Grunde gar nichts passiert. Andrés ist doch dein Freund, und er hat recht: Wir können nicht einfach gehen, wohin sollen wir denn, und …«

»Was ist passiert?«

Alle drei zuckten zusammen, als plötzlich die strenge Stimme erklang. Ramiro Espinoza stand an der Türschwelle und blickte nachdenklich von einem zum anderen.

»Dein Sohn vergreift sich an meiner Frau – das ist hier los«, sagte Tiago erbost.

Er sah, wie Andrés zusammenzuckte und schuldbewusst den Blick senkte. Es war etwas anderes, ihm, Tiago, zu trotzen, als dem Vater. Tiagos Wut verrauchte, und stattdessen stieg Mitleid in ihm auf, gleiches Mitleid, das wohl auch Aurelia dazu brachte, vorzutreten und mit bebender Stimme zu erklären: »Ein Missverständnis … es war alles nur ein Missverständnis … Ich war traurig, und Andrés hat versucht, mich zu trösten. Von außen mag es so ausgesehen haben, als ob …«

Ihre Worte erweichten Tiago, auch wenn er nicht wusste, was sie zu dieser Lüge bewog: der Wunsch, ihn zu schonen oder nicht alles noch schlimmer zu machen, für ihn, für Andrés, für sich selbst. So oder so – es überkam ihn das gleiche Gefühl wie einst im Elternhaus: der Zwang, sie zu schützen und sie aus vermeintlich vergifteter Atmosphäre zu befreien.

»Ich bedanke mich für deine Gastfreundschaft«, erklärte er vermeintlich gefasst, »aber wir gehen.«

Espinoza verspürte sichtliche Wut auf seinen Sohn – die Röte auf seinen Wangen verriet es. Doch er achtete nicht auf Andrés, sondern trat auf Tiago zu, um dieselbe Frage wie der Sohn zu stellen: »Und wohin?«

Die Wahrheit war, dass Tiago keine Ahnung hatte. Er hatte ein paar Freunde von der Escuela, und dann gab es natürlich diverse Verwandte seiner Familie, allesamt reich wie die Brown y Alvarados’ und darum in der Lage, Gäste aufzunehmen. Allerdings standen sie gewiss auf Williams Seite. Der Oberschicht wurde oft vorgeworfen, dass sie gierig, unmoralisch und dekadent sei, dennoch gab es Gesetze, die niemand brach: Eines lautete, dass ein Sohn nicht gegen den Willen seiner Eltern heiratete. Und ein anderes, dass man zusammenhielt und sich nicht gegenseitig in den Rücken fiel.

Tiago wollte jedoch nicht zeigen, wie unsicher er sich fühlte. Erst presste er die Lippen zusammen, dann wollte er verkünden, dass es nicht Espinozas Sorge sein müsste.

Noch ehe er ein Wort hervorbrachte, vernahm er ein lautes Schluchzen. Verwirrt drehte er sich um, um festzustellen, dass es nicht, wie gedacht, aus Aurelias Mund kam. Die starrte ihn nur verwirrt an – das Weinen hingegen ertönte von der Haustür her. Und es kam ihm irgendwie bekannt vor.

Tiago ließ Aurelia, Ramiro und Andrés einfach stehen und stürzte die Treppe hinunter, um überrascht zu sehen, wem da das Hausmädchen aufgemacht hatte – und wer da herzerweichend schluchzte.

»Saqui?«, rief er überrascht.

Die Nana hob die verquollenen Augen. Ihre Haare, sonst von einer weißen Haube bedeckt, standen wirr vom Kopf ab. Noch vor einer knappen Stunde hatte er mit ihr gesprochen, und obwohl sie sich um sein Wohlergehen sorgte, hatte sie bei ihrem Abschied doch gefasst gewirkt.

»O Chico, Chico!«, rief sie jetzt ein ums andere Mal. Mein Bub …

So hatte sie ihn früher genannt, in seiner Kindheit; später hatte sie es jedoch nicht mehr gewagt. Dass sie nun zu dieser Koseform griff, zeigte, wie aufgelöst sie war.

»Ich bin den ganzen Weg hierher gelaufen«, stammelte sie unter Keuchen.

»Was ist passiert?«

Sie weinte immer heftiger. »Etwas Schreckliches …«, stieß sie hervor, »etwas ganz Schreckliches … Der Chico muss sofort nach Hause kommen.«


Victoria stand nun schon seit Stunden an der Druckerpresse, und ihr Rücken schmerzte inzwischen. Für gewöhnlich wollte sie sich solche Zeichen von Schwäche nicht zugestehen, aber an diesem Tag fiel ihr die Arbeit schwerer als sonst, da sie schon während der ganzen Woche fast immer hatte stehen müssen: Im Krankenhaus lernten sie zurzeit die Arbeit im Operationszimmer kennen. Die Schwestern mussten die Patienten vorbereiten, indem sie sie badeten und rasierten, dann galt es, alles für die Operation zurechtzulegen, unter anderem die Instrumente und die Verbandsstoffe. Und schließlich konnten sie – wenn auch aus einiger Distanz – bei der Operation zusehen. Victoria war begeistert davon – selten hatte sie so viel Neues über Hygiene und Desinfektion gelernt wie in dieser Woche. Doch die Erschöpfung, die heute auf ihren Schultern lastete, war der Preis, den sie dafür bezahlen musste.

Rebeca teilte diese Müdigkeit nicht – zum einen war sie nicht im Operationssaal zum Einsatz gekommen, zum anderen überließ sie es Victoria, die Flugblätter zu vervielfältigen, während sie sich selbst einfach auf den Schreibtisch gesetzt hatte und ihre Füße herunterbaumeln ließ.

»Sauberkeit ist so wichtig«, berichtete Victoria von dem, was sie gelernt hatte, »besonders für die schwangeren Frauen! Es wird noch viel zu wenig für sie getan. Schon seit Jahren empfehlen die Ärzte, dass sie vor und nach der Geburt vierzig Tage nicht arbeiten sollen, aber es gibt noch kein Gesetz, das diese Regelung verbindlich vorschreibt. Und es gibt auch noch viel zu wenige weibliche Lehrerinnen in Sachen Hygiene. Ich meine, wer ist besser geeignet, den Frauen zu zeigen, wie sie auf sich und ihre Kinder achten, wenn nicht ihresgleichen? Vor den arroganten Doktoren empfinden sie ja doch nur Scham – und die wiederum lassen sich gar nicht erst dazu herab, sie in den Armenvierteln zu besuchen. Genau das aber muss geschehen, um …«

Rebeca hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. »Das weiß ich alles längst!«, meinte sie gelangweilt. Obwohl sie sich sehr kühl verhielt, hatten sie sich in den letzten Wochen dennoch wieder angenähert. Dass Victoria während der Ausschreitung nicht für sie eingetreten war, schien spätestens dann vergessen, als Victoria sich bereit erklärte, künftig nicht nur die Druckerpresse der Veliz’ für die Vervielfältigung von Flugzetteln zur Verfügung zu stellen, sondern obendrein für Druckerschwärze und Papier zu bezahlen.

Victoria war zutiefst erleichtert, dass sich Rebeca nicht länger als feindselig erwies. Ein Wermutstropfen war nur, dass sie kein weiteres Mal mit Jiacinto hier im Hinterzimmer der Buchhandlung gestanden hatte. In den letzten Wochen hatte sie ihn zwar manchmal in der rauchgeschwängerten Wohnung der Carrizos getroffen, aber dort hatte er sie nie sonderlich beachtet. Und vor allem hatte sich ihr Kuss nicht wiederholt, obwohl Victoria sich so danach sehnte, des Nachts oft wach lag und wieder und wieder den Moment heraufbeschwor, da ihre Lippen sich getroffen hatten, ihre Zungen kurz verschmolzen waren, nicht das Trennende gezählt hatte, sondern die gemeinsame Leidenschaft für Politik.

»Nun, aber hast du schon davon gehört, dass das Zentrum für Propaganda gegen Tuberkulose in Valparaíso einen Wettkampf organisiert hat?«, fragte sie. »Alle Mütter, die ihre Kinder selbst stillen, konnten sich anmelden, und wer die Ratschläge des Zentrums in Sachen Hygiene am besten befolgte, bekam einen Preis. Mehr als dreihundert haben teilgenommen, und von all den Kindern, die diese Mütter stillten, sind nur vier gestorben. Viel weniger als der Durchschnitt. Und das Zentrum hat offenbar auch Milchstationen gegründet, wo Ammen ihre Milch abgeben können und Mütter, die nicht stillen können …«

»Genug jetzt!«, stöhnte Rebeca genervt. »Die ganze Woche muss ich mir das im Krankenhaus anhören! Warum soll ich mich auch sonntags damit beschäftigen?«

Victoria blickte verwirrt hoch. »Weil du doch eine überzeugte Feministin bist! Du solltest davon überzeugt sein, dass Frauen in all ihren Lebensphasen unterstützt werden müssen. Wenn es um Frauen und Gesundheit geht, ist die Politik nur auf die Prostituierten und die Geschlechtskrankheiten fixiert. Aber das Thema ist so viel bedeutender. Man muss …«

Erneut hob Rebeca die Hand, um ihren Redefluss zu unterbrechen. Sie stand auf und trat mit den üblichen katzenhaften Bewegungen zu Victoria. Sie stand so dicht bei ihr, dass Victoria von ihrem kurzen, schwarzen Haar gekitzelt wurde. »Ach, all diese Klagen über das Elend der Frau!«, sagte sie. »Magst ja recht haben, dass man ihnen hilft, wenn man erklärt, wie man sauber wird und sich sauber hält. Aber ich sage dir eins: Die Freiheit der Frau steht und fällt mit einer ganz bestimmten Sache, und die hat nichts mit Hygiene zu tun. Eine Frau wird erst dann Herrin über ihren Körper und somit ihr Leben sein, wenn sie entscheiden kann, wann sie ein Kind bekommt und wann nicht.«

Victoria senkte ihren Blick. Sie wusste, dass radikale Feministinnen über die Möglichkeit von Empfängnisverhütung diskutierten, aber sie selbst hatte dieses Thema noch nie angesprochen – war es doch zu sehr mit Dingen verbunden, die selbst in ihrem liberalen Elternhaus nie offen ausgesprochen wurden.

»Ich denke wie Clara de la Luz!«, ereiferte sich Rebeca. »Die Kirche und die Kapitalisten fördern die wilde Fortpflanzung des Proletariats – damit sie möglichst viele neue Arbeiter bekommen, die man ausbeuten und knechten kann. Mein Gott! Wenn man ein wenig Ahnung hat, ist es doch so einfach, keine Kinder zu kriegen.«

Victoria senkte ihren Blick noch tiefer. Auch sie hatte, genau genommen, nicht viel Ahnung davon. Sie wusste, wie man Fruchtbarkeitstabellen benutzte, aber nicht, wie diese genau funktionierten. Und dann hatte sie von diesen sonderbaren Gegenständen aus Kautschuk gehört, die die Frau in ihren Körper schieben oder der Mann über sein Geschlecht ziehen sollte. Gesehen hatte sie sie allerdings noch nicht.

Allein beim Gedanken stieg ihr Röte in die Wangen – und sie musste unwillkürlich an Jiacinto denken.

Rebeca starrte sie lauernd an. »Sag bloß, du weißt ebenfalls nichts über diese Dinge?«

Victoria war es peinlich, es einzugestehen, und fragte deswegen schnell zurück: »Hast du … hast du dergleichen schon mal benutzt?«

In der Wohnung der Carrizos gingen viele Männer ein und aus, und sie hatte gesehen, wie Rebeca sich ihnen so freizügig und besitzergreifend auf den Schoß setzte oder durch ihre Bärte fuhr, wie sie es oft bei ihren Brüdern tat, aber sie wusste nicht, ob einer von ihnen ihr besonders nahestand.

»Hast du je einen Mann geliebt?«, fügte sie hinzu.

Rebeca kicherte. »Pah, Liebe ist nur eine Illusion. Und gib’s zu: Das willst du eigentlich gar nicht wissen. Du möchtest vielmehr wissen, ob ich schon einmal mit einem Mann geschlafen habe.«

Victoria nickte aufgeregt.

»Mit mehr als einem …«, gab Rebeca zu. Sie klang weder sonderlich begeistert noch beschämt, als wären Liebschaften etwas so Selbstverständliches wie die kurzen Haare oder das Tragen von Hosen.

»Und wie hast du verhindert, dass du schwanger wurdest?«

»Oh, ich wurde schwanger …«

»Aber …«

»Ich hatte zwei Abtreibungen.«

Victoria riss die Augen auf. Auch dieses Thema wurde von Feministinnen diskutiert – die einen forderten das Recht der Frau, es zu tun, die anderen beklagten, dass viel zu viele daran starben, aber sie hatte sich kaum Gedanken darüber gemacht.

»Oh!«, entfuhr es ihr nur.

Rebecas Augen wurden plötzlich eiskalt. »Oder denkst du etwa, ich möchte wie meine Mutter enden?«, fragte sie mit harter Stimme.

»Ich weiß nichts über deine Mutter. Du hast mir nie etwas über sie erzählt.«

Rebeca zuckte die Schultern. »Da gibt es auch nicht viel zu erzählen. Zumindest nichts Erfreuliches. Mein Vater war Anwalt, aber seine Klienten ausschließlich Arme, die ihm kein ordentliches Honorar zahlen konnten – und mein Vater war so gutmütig, fast immer darauf zu verzichten. Meine Mutter war nicht richtig gesund – und unter den Umständen, in denen wir lebten, wurde es nicht besser. Sie hat ständig Kinder geboren, die meisten tot.« Sie schüttelte den Kopf, und in ihrem Gesicht zeigte sich plötzlich Verachtung, von der Victoria nicht sicher war, wem sie galt: ob dem idealistischen Vater, der Mutter oder den Reichen, denen solche Schicksale gleichgültig waren.

»Sie ist viel zu früh gestorben. Genau wie mein Vater.«

Victoria schluckte schwer und musste an ihre eigenen Eltern denken. »Aber wenigstens hast du deine Brüder.«

Juan … und Jiacinto …

Ob Rebeca ahnte, was sie für ihn fühlte? Ob sie sich ihr anvertrauen, vielleicht gar ihren Rat erbitten sollte?

»Ich hätte auch gerne Geschwister gehabt«, sagte sie stattdessen.

Rebecas Gesicht wurde wieder ausdruckslos. »Es lebt sich tatsächlich leichter mit ihnen als ohne«, meinte sie, »aber nun lass uns …«

Sie verstummte, als sie erst Schritte hörten, dann Pepes Schnaufen.

Victoria fühlte sich ertappt. Zwar wusste Valentina mittlerweile, dass sie immer wieder die Druckerpresse bediente, aber Pepe hatte sie es verschwiegen – wohl, weil der sich sonst in stundenlangen Selbstgesprächen darüber erregen würde.

Als er nun im Hinterzimmer erschien, achtete er jedoch gar nicht darauf.

»Victoria!«, rief er aufgeregt. »Komm sofort zu Mutter! Sie hat eben eine Nachricht erhalten. Von Aurelia. Es ist etwas Schlimmes passiert.«

»Mit Aurelia?«, rief Victoria entsetzt, und ihr letzter Streit war augenblicklich vergessen.

»Aurelia geht es gut, aber die Brown y Alvarados’ wurden von einem schweren Schicksalsschlag getroffen.«


Valentina hatte offensichtlich gerade am großen Esstisch Platz genommen, um das Mittagessen einzunehmen, als ein Bote Aurelias Nachricht überbrachte. Als Victoria ins Zimmer trat, sah sie, wie sie gerade mit sichtlichem Bedauern, aber doch entschlossen die Suppenschüssel zur Seite schob und aufstand.

»Wir sollten auf der Stelle zu ihr fahren«, erklärte sie Victoria. »Diesen lächerlichen Streit zwischen euch Mädchen werde ich nicht länger dulden. Ihr seid gemeinsam nach Santiago gekommen, also müsst ihr füreinander da sein. Vor allem in Stunden wie dieser.«

Die Sorgen, die sich Victoria um Aurelia gemacht hatte, waren eben noch tief und ehrlich gewesen – doch dass ihr Streit mit ihr lächerlich sein sollte, kränkte sie.

»Was ist denn passiert?«, fragte sie gedehnt und mit einem gleichgültigen Tonfall, als ginge sie das alles nichts an.

»Tiagos älterer Bruder Guillermo ist verunglückt. Bei einem Autounfall. Vor drei Tagen«, erklärte Valentina schlicht.

Pepe verdrehte die Augen. »Mich wundert es gar nicht, dass man sich in diesen Ungetümen das Genick brechen kann. Es sollte verboten sein, dass …«

Ein strenger Blick seiner Mutter ließ ihn verstummen, wenngleich er mit derselben bockigen Miene schwieg, die nun auch Victoria aufsetzte.

»Was geht mich das an?«, fragte sie schnippisch. »Aurelia hat mich Tiago nie offiziell vorgestellt – geschweige denn ihrem Schwager.«

»Nun, es geht Aurelia etwas an. Guillermo hat den Unfall nicht überlebt, und das wird weitreichende Folgen für sie haben …«

»Nämlich welche?«

Valentina seufzte. »So wie es aussieht, hat William Brown Tiago dringend gebeten, nach Hause zurückzukehren. Wie William nunmehr zu Tiagos Ehe mit Aurelia steht, weiß ich nicht, aber es gibt nur zwei Möglichkeiten: Er pocht auf Scheidung oder akzeptiert sie als neues Familienmitglied. So oder so, finde ich, ist der Zeitpunkt gekommen, wieder mit ihr zu sprechen. Was war noch einmal der Grund für euren lächerlichen Streit?«

Dass erneut dasselbe Wörtchen fiel, erboste Victoria. »Es war nicht lächerlich, es war …« Sie brach ab, denn im Grunde genommen hatte sie Aurelia in den letzten Wochen oft schmerzlich vermisst. Es ärgerte sie nach wie vor, dass diese Tiago geheiratet hatte, aber manchmal, wenn sie selbst mit klopfendem Herzen an Jiacinto dachte, fragte sie sich, ob es nicht ein Unrecht war, der anderen ausgerechnet die Liebe zu einem Mann vorzuwerfen. Auch wenn er der falsche Mann war, zumindest in Victorias Augen – die Liebe war doch ein tiefes, echtes, ehrliches Gefühl!

Ehe sie etwas hinzufügen konnte, ertönte hinter ihnen schrilles Gelächter. Victoria hatte nicht bemerkt, dass Rebeca nachgekommen war und offenbar ebenfalls von Guillermo Brown y Alvarados’ Tod erfahren hatte.

»Nun, da hat es einmal den Richtigen getroffen«, rief sie und lachte weiterhin schallend.

Victoria hatte zwar selbst wenig Mitgefühl mit einem Mann, der sich mit seinem Auto leichtsinnig zu Tode fuhr, aber begriff nicht, was daran lustig sein sollte, wenn ein Mensch in so jungen Jahren aus dem Leben gerissen wurde. Auch Valentina verzog missbilligend die Stirn, während Rebeca inzwischen so heftig lachte, dass sie sich nach vorne beugte und Speicheltröpfchen von ihrem Mund sprühten.

»Warum lachst du?«, fragte Valentina.

»Weil Geld eben doch nicht alles ist!«, rief sie schrill. »Weil auch die Reichen sterblich sind!«

Offenbar dachte Rebeca an ihre toten Eltern, die ausgemergelte Mutter, den hilflosen Vater, und an die als Kinder gestorbenen Geschwister und hielt es für ausgleichende Gerechtigkeit, dass sich auch die canalla dorada nicht immer einem zu frühen Tod entziehen konnte.

So abrupt, wie es begonnen hatte, riss ihr Gelächter hab. »Im Übrigen gebe ich Doña Valentina recht«, erklärte sie nüchtern. »Ich finde auch, dass du dich mit Aurelia versöhnen solltest.«

Victoria starrte sie verwundert an. Sie hatte mit den Carrizos so gut wie gar nicht über ihre Freundin gesprochen und auch den Streit nur vage erwähnt.

»Aber ja doch!«, rief Rebeca bekräftigend. »Falls Tiago sich weiterhin zu ihr bekennt und sie offiziell in die Familie aufgenommen wird, ist sie jetzt eine reiche Frau. Und du kannst sie sicher dann und wann um Geld bitten. Wir können es brauchen.«

Sprach’s, zuckte die Schultern und wandte sich um. »Außerdem würde Jiacinto das auch so sehen«, erklärte sie abschließend mit einem Grinsen.

»Also gut«, gab Victoria nach, nachdem sie gegangen war, »wir werden Aurelia besuchen und ihr beistehen. Aber wir sollten nichts überstürzen. Es reicht, wenn wir morgen zu ihr fahren. Oder nächste Woche.«

»Das heißt, wir können jetzt doch noch essen!«, frohlockte Pepe, dem die Aufregung zumindest nicht auf den Magen geschlagen war.

»Die Suppe ist längst kalt geworden«, stellte Valentina etwas mürrisch fest, nahm jedoch trotzdem wieder am Speisetisch Platz und zog die Schüssel zu sich.

Im Schatten des Feuerbaums: Roman
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