19. Kapitel

Victoria hielt die Luft an, als sie sich auf die Zehenspitzen stellte. Sie war nicht sicher, ob sie groß genug war, um den Türrahmen abzutasten. Tatsächlich konnte sie gerade mal mit ihren Fingerkuppen das berühren, was dort oben lag – vorausgesetzt, Rebeca hatte recht.

Schon nach Sekunden war es anstrengend, so zu stehen. Sie sank zurück auf die Fersen, atmete tief durch und blickte sich noch einmal um.

Vor einer knappen Stunde war einer der Kurse in Theorie zu Ende gegangen, in dessen Verlauf sie Schwester Adela so lange nach den Symptomen der Basedowschen Krankheit ausgefragt hatte, bis Victoria dachte, sie würde selbst gleich wahnsinnig werden und die Schwester mit hervorgequollenen Augen anspringen. Sie hatte sich mit Mühe beherrschen können – und alles über die »Glotzaugenkrankheit« gewusst: Zu den klassischen Symptomen zählten Gewichtsabnahme, Schwitzen, Zittern der Hände, Durchfall und Herzjagen. Bei fehlender Behandlung drohte Herztod durch die anhaltende Tachykardie oder Vergiftung des Körpers durch die krankhafte Funktion der Schilddrüse. Maßnahmen gegen die Krankheit waren das Ansetzen von Blutegeln oder Durst- und Trockenkuren, bei denen der Patient entweder nur trockene Brötchen oder auch die rohe Schilddrüse von Hammeln und Kälbern zu essen bekam, die man – um Ekel zu vermeiden – mit Salz und Pfeffer aufs Brot strich.

Am Ende hatte sich Victoria zwar gefreut, dass sie Schwester Adelas Fragen allesamt beantworten hatte können und sie somit einmal mehr der Möglichkeit beraubt war, sie bloßzustellen, aber zugleich ärgerte sie sich darüber, dass diese immer noch so versessen auf eine Schwäche von ihr wartete, obwohl sie in all den Jahren immer eine vorbildliche Krankenschwester gewesen war. Überdies hatte diese eingehende Befragung dafür gesorgt, dass die vorgesehene Dauer des Kurses deutlich überzogen wurde, und sie war doch so in Eile!

Wieder stellte sie sich auf die Zehenspitzen und tastete den Türrahmen ab. Diesmal stießen ihre Fingerkuppen gegen etwas Schweres, Kaltes, und sie seufzte erleichtert auf. Endlich! Noch konnte sie den Gegenstand nicht erfassen, aber sie stieß mit den Fingerkuppen so lange dagegen, bis er krachend zu Boden fiel. Erneut drehte sie sich um, um zu prüfen, ob jemand sie gesehen hatte, aber der Gang war leer, und sie bückte sich schnell, um den Schlüssel aufzuheben.

Sie befand sich im chirurgischen Trakt des Krankenhauses, und jetzt, am späten Nachmittag, herrschte hier Totenstille. Die Operationen waren allesamt am Morgen und Vormittag angesetzt, und so war sie ungestört, als sie den Gang entlang zum Arzneischrank huschte.

Seit einem Jahr war es nahezu ein Ding der Unmöglichkeit, Medikamente zu entwenden und an die Armen zu verteilen. Damals war es Schwester Adela aufgefallen, dass regelmäßig Arzneien verschwanden, und der Medikamentenschrank, der bis dahin jedem zugänglich war, weil man es als selbstverständlich ansah, dass sich nur der daraus bediente, der einer ausdrücklichen ärztlichen Anordnung folgte, hatte ein Schloss bekommen und war obendrein im chirurgischen Trakt untergebracht worden. Außerdem waren sämtliche Schwestern zu dem Verschwinden der Arzneien befragt worden, erst von Schwester Adela, dann von Doktor Espinoza selbst. Victoria ahnte, dass Espinoza sie und Rebeca im Verdacht hatte, aber er konnte ihnen nichts nachweisen – es ihnen lediglich unmöglich machen, weiterhin zu stehlen, zumindest bis Rebeca herausgefunden hatte, wo der Schlüssel versteckt wurde.

Diesen Schlüssel hielt Victoria fest umklammert. Ihre Hände wurden schweißnass, als sie daranging, den Schrank aufzuschließen und so viele Arzneien wie möglich in der Tasche zu verstauen, die sie unter einem Umhangtuch trug. Die meisten Medikamente stammten von der Apotheke Daube – auch das am dringendsten benötigte Salvarsan, das einzige wirklich wirksame Mittel gegen Geschlechtskrankheiten. Victoria konnte all die Frauen, die sie in den letzten Jahren daran sterben gesehen hatte, nicht zählen – ganz zu schweigen von ihren Kindern, die tot oder schwerkrank zur Welt kamen. Viele Frauen gingen aus Scham nicht ins Krankenhaus, betrachtete man sie doch nicht selten als Prostituierte, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass sie von ihren Männern, die ebensolche besuchten, angesteckt worden waren. Wurden sie überhaupt als Patientinnen aufgenommen, behandelte man sie verächtlich, ließ sie am längsten warten und gab ihnen die schlechtesten Betten.

Kein Wunder, dass die meisten von ihnen Ärzte scheuten und sich von irgendwelchen Quacksalbern sinnlose Mittel aufschwatzen ließen. Dass dies wiederum zum Rückgang offiziell diagnostizierter Krankheitsfälle führte, feierte die Politik als Erfolg ihrer Hygienemaßnahmen, anstatt, wie Victoria bitter bemerkte, den Ärzten ihre Arroganz auszutreiben.

So oft hatte sie mit Jiacinto darüber gelästert.

Ach, Jiacinto …

Rasch füllte sie ihre Tasche mit Phiolen und Döschen, als sie sich an die zwei Nächte erinnerte, die in den letzten anderthalb Jahren auf die erste gefolgt waren und die sie trotz aller Vorsätze nicht wirklich hatte genießen können. Sie ahnte instinktiv, dass sie diesen Augenblick der Nähe mit langen Wochen vergeblicher Hoffnung und neuer Distanz bezahlen musste. War sie mit ihm allein, war er meist freundlich und anerkennend, und sie musste ihn nicht drängen, sie zu küssen und mit ihr zu schlafen – doch sie war so gut wie nie mit ihm allein. Entweder er scharte seine Anarchistenfreunde um sich oder seine Geschwister, und wann immer diese dabei waren, zeigte er sich Victoria gegenüber blind und machte auch keine Anstalten, dem Zufall nachzuhelfen, mit ihr allein in einem Raum zu landen. Wenn sie ganz viel Glück hatte, neckte er sie oder führte mit ihr Diskussionen, zog sich jedoch später mit einer seiner vielen anderen Geliebten zurück.

Jedem Schritt nach vorne folgten nicht einfach nur zwei, sondern viele zurück, und wann immer sie sich dennoch Hoffnungen machte, wurden sie von Rebeca zerstört. Beiläufig betonte sie immer wieder, dass Jiacinto nichts von Treue und Ehe halte und jede Frau ihn mindestens mit einem halben Dutzend weiterer zu teilen hatte.

Nun, Victoria wäre sogar bereit gewesen, ihn zu teilen, wenn sie dieses bisschen von ihm sicher bekommen hätte! Und ihretwegen mochte er gern Verfechter der freien Liebe sein, wenn nur etwas von dieser freien Liebe für sie abfiel!

Aber was zählten drei Nächte in zwei Jahren? Sie versuchte, sie in ihren Erinnerungen so lange wie möglich lebendig zu halten – und hieß sogar die Angst willkommen, schwanger zu sein, die sie einmal befiel, wäre dies doch ein sichtbares Zeichen, dass sie und Jiacinto irgendwie zusammengehörten. Aber sie war nicht schwanger. In jenen drei Nächten hatte sich Jiacinto immer rechtzeitig aus ihr zurückgezogen und sich auf ihren Bauch ergossen – offenbar darin geübt, unerwünschten Nachwuchs zu vermeiden.

Die Männer, mit denen Rebeca ihr Bett teilte, schienen gleiche Vorsicht nicht zu kennen. Zumindest war Victoria sicher, dass sie vor einigen Monaten wieder eine Abtreibung hatte machen lassen. Erst hatte sie sich tagelang zurückgezogen, dann war sie über Wochen geschwächt und blass gewesen, und die Brüder hatten sie sorgenvoll betrachtet. Victoria wagte nicht, sie darauf anzusprechen, war aber insgeheim gekränkt, dass Rebeca sich ihr nicht anvertraut hatte.

Immerhin – heute würden sie gemeinsame Sache machen. Sie waren übereingekommen, dass es besser war, wenn diejenige, die die Medikamente aus dem Schrank stahl, das Krankenhaus nicht auch noch mit ihnen verlassen sollte: Deswegen würde Rebeca im Hinterhof gleich neben der Wäscherei warten, Victoria ihr die Medikamente übergeben und danach auf normalem Wege die chirurgische Abteilung verlassen, während Rebeca aus einem Fenster der Wäscherei kletterte.

Victoria verschloss den Schrank sorgfältig, legte den Schlüssel wieder auf dem Türrahmen ab und blickte sich erneut um. Immer noch war weit und breit niemand zu sehen. Sie bemühte sich, ein unbekümmertes Gesicht aufzusetzen, und drückte die Tasche fest an sich, als sie den Gang entlanglief.

Sie war sich nicht ganz sicher, warum Rebeca so sehr auf diesen Diebstahl drängte. In den letzten Monaten hatte Victoria den Carrizo-Geschwistern immer wieder von ihrem Geld gegeben, das sie von ihren Eltern geerbt hatte, und dafür hätten sie in jeder Apotheke die Medikamente kaufen können, aber wahrscheinlich ging es Rebeca nicht nur darum, Geld zu sparen, sondern den Nervenkitzel zu genießen.

Victoria selbst hätte gerne auf diesen verzichten können. Nach den vielen Stunden im Operationssaal fühlte sie sich müde und verschwitzt. Als sie im Hinterhof ankam, stolperte sie, verstauchte sich den Fuß und schimpfte über die eigene Ungeschicklichkeit.

Fluchend humpelte sie weiter und wollte die ganze Sache einfach nur so schnell wie möglich hinter sich bringen. In der Nähe der Wäscherei lag Gestank in der Luft. Das dreckige Wasser wurde hier einfach ausgeschüttet, und wenn wie heute keine Sonne schien, so standen tiefe, dreckige Pfützen, deren Geruch nach Exkrementen und Blut Fliegen anzog. Das Summen war der einzige Laut, den Victoria vernahm, als sie beim vereinbarten Treffpunkt ankam – ansonsten war nichts zu hören und niemand zu sehen.

Victoria war verwirrt. Bis heute fiel es ihr schwer, Rebeca einzuschätzen, aber in solchen Angelegenheiten war sie für gewöhnlich zuverlässig.

»Rebeca?«, rief sie vorsichtig.

Die Fliegen rochen ihren Schweiß und schwirrten um ihren Kopf. Sie wedelte mit den Händen, um sie zu vertreiben, und strich sich die verklebten Haarsträhnen zurück.

Kurz vermeinte sie aus der Wäscherei Schritte zu hören, aber sie verklangen, und niemand erschien.

»Rebeca?«, fragte sie wieder, und wieder erhielt sie keine Antwort.

Sie fühlte ein unangenehmes Ziehen in ihrem Magen – und ahnte instinktiv, dass hier irgendetwas nicht mit rechten Dingen zuging.

Hoffentlich war Rebeca nichts zugestoßen …

Sie überlegte, ob sie einfach selbst die Medikamente an der Pforte vorbeischleusen sollte, trat dann aber noch näher an den Eingang der Wäscherei heran. Abermals hörte sie Schritte – und diesmal kamen sie eindeutig auf sie zu.

Endlich!, dachte sie erleichtert.

Als die Tür aufgestoßen wurde, löste sie bereits ihre Tasche von der Schulter, um sie Rebeca zu überreichen. Schon lag ihr die Frage auf den Lippen, wo sie so lange geblieben sei.

Doch dann wich sie zurück. Wer da aus der Wäscherei kam, war nicht Rebeca, sondern Doktor Espinoza, Schwester Adela – und zwei großgewachsene Männer in Uniform. Victoria machte einen weiteren Schritt zurück, unterdrückte jedoch den Drang, fortzulaufen.

Sie wusste sofort, dass es zu spät war. Man hatte sie erwischt, und sie wollte Doktor Espinoza nicht auch noch den Triumph gönnen, sie auf der Flucht zu stellen.

Sie reckte ihr Kinn und sah ihm stolz entgegen, während er sie kalt lächelnd musterte. Sein Blick blieb an ihrer Tasche hängen.

»Wie es scheint, haben wir unsere Diebin endlich gefunden.«


Victoria fiel hart auf den Boden. Sie schlug schmerzhaft mit Kopf und Schulter auf, biss sich dabei auf die Zunge und schmeckte Blut. Trotz des glühenden Schmerzes fühlte sie auch Erleichterung, keinem festen Griff mehr ausgeliefert zu sein. Die Männer, die sie abgeführt hatten, waren so brutal vorgegangen, als drohte große Gefahr von ihr. In Wahrheit hatte sie sie sich nicht gewehrt – weil es schlichtweg sinnlos war. Sie hatte Espinoza ihre Tasche überreicht, zugesehen, wie er sie mit einem selbstgefälligen Gesichtsausdruck öffnete und die gestohlenen Medikamente hervorzog. Vermeintlich gleichmütig hatte sie ihm zugehört, als er erklärte, dass er sich darüber ganz und gar nicht wunderte, dass sie nie wieder ein Krankenhaus betreten würde, weder dieses noch ein anderes, und dass man sie als gemeine Diebin vor Gericht stellen würde. Sie hatte kein Wort gesagt, war auch bereit, freiwillig mit den Männern – offenbar Polizisten – mitzugehen, doch die hatten sie so roh ergriffen, als wäre sie eine Wahnsinnige, die wild um sich schlug.

Als sie aus Espinozas Sichtfeld verschwunden waren, hatte sie ihre Züge nicht länger beherrschen können. Ihre Verwirrung, ihre Ohnmacht, ihre nackte Angst wurden übermächtig: Warum war Rebeca nicht hier? Warum hatte Espinoza gewusst, dass sie ausgerechnet bei der Wäscherei auftauchen würde? Was würde nun mit ihr passieren?

Mehr instinktiv als willentlich strampelte sie nun doch und wurde noch fester gepackt. Zorn erwachte, und sie spuckte einem der Männer ins Gesicht. »Hijo de puta!«, zischte sie.

Ihr Lohn war ein Schlag in die Magengrube, so dass sie die letzten Schritte zur Kutsche gekrümmt hinter sich brachte. Man zwang sie hinein und warf sie auf den Boden, wo sie jede einzelne Umdrehung der Räder in sämtlichen Gliedern spürte. Dann und wann wurde ihr ein weiterer schmerzhafter Stoß versetzt, so dass ihr Körper, als sie im Gefängnis ankamen, von Kratzern und blauen Flecken übersät war.

Sie hatte sich nun besser im Griff, beschimpfte die Männer nicht mehr, verlangte jedoch, ihren Anwalt zu sprechen. »Er heißt Juan Carrizo! Er muss sofort kommen! Er wird mich hier herausholen!«

Sie wusste – ihr Flehen war zwecklos. Zu oft hatte sie selbst erlebt, wie die Rechte von Menschen mit Füßen getreten wurden, sie verhaftet, oft wochen-, wenn nicht monatelang in Gefängnisse gesperrt wurden und schließlich nur freigelassen wurden, weil die Gefängnisse überfüllt waren.

Sie war sich auch nicht sicher, ob es Espinoza wirklich darauf anlegte, sie vor Gericht zu bringen. Er wollte sie aus dem Krankenhaus verjagen – und das war ihm endlich geglückt. Was nun mit ihr geschah, interessierte ihn wohl nicht mehr – niemanden schien es zu interessieren.

Während sie nach Juan verlangte, wurde sie aus dem Wagen gezerrt, in das graue Gebäude gebracht, mehrere Gänge entlanggestoßen und schließlich in eine Zelle geworfen.

Dort blieb sie erst mal gekrümmt liegen und schluckte das Blut in ihrem Mund. Die Erleichterung, keine Hände mehr auf sich zu spüren, schwand, als sie sich umsah und stöhnend feststellte, wohin sie da geraten war. Stickig und niedrig war der Raum, die Wände waren klebrig, auf dem Boden lag verfaultes Stroh. Darunter befand sich ein bräunlicher Matsch, von dem sie gar nicht wissen wollte, was es war. Es stank durchdringend nach Exkrementen, und auch hier flogen brummend Fliegen um ihren Kopf wie vorhin vor der Wäscherei.

Sie hatte sich noch nie so schmutzig gefühlt und noch nie so einsam. Rebeca … Jiacinto … Ob sie schon erfahren hatten, was ihr zugestoßen war? Und ob, falls es so war, Jiacinto sich Sorgen um sie machte?

Der Gedanke ließ Wärme in ihr aufsteigen und gab ihr Mut, aufzustehen. Die Schmerzen waren erträglich, die Angst, die sie gleich im nächsten Moment packte, nicht. Ein Stöhnen erklang nicht weit von ihr – ein Zeichen, dass sie nicht die einzige Gefangene war.

In der gegenüberliegenden Ecke hockten zwei Gestalten und erhoben sich nun zögerlich – beides Männer, wie sie mit wachsendem Entsetzen feststellte. Obwohl das Licht trüb war und ihre Gesichter dunklen Masken glichen, glaubte sie zu sehen, wie einer grinste.

»Warum ist so eine hübsche Kleine hier?«, fragte er gedehnt.

Er trat auf sie zu, noch ganz langsam, gemächlich, doch Victorias Körper spannte sich unwillkürlich an. Vermeintlich kalt gab sie zurück: »Und warum seid ihr hier?«

Gelächter ertönte. »Wir haben bei der letzten Chingana etwas zu viel getrunken.«

Chinganas waren Feste in den Armenvierteln, bei denen gespielt, gesoffen, gehurt wurde und man sich mit Hahnenkämpfen und Prügeleien amüsierte. Diese beiden hier hatte man wohl in die Zelle geworfen, damit sie ausnüchterten oder sich im Suff gegenseitig totprügelten. Wahrscheinlich war der Obrigkeit beides recht.

Warum aber hatte man sie als Frau ausgerechnet zu ihnen gesperrt? Weil keine andere Zelle frei war? Oder als Zeichen besonderer Bosheit?

Zunehmend lüstern starrten die beiden auf Victoria. Hilfesuchend blickte sie zur Tür. Eine kleine Luke war an dieser angebracht, aber sie war verschlossen.

»Ja, sie ist wirklich hübsch«, sagte nun auch der andere, »eigentlich ist sie viel zu schade für so ein Gefängnis …«

Er trat ebenfalls näher, und so klein, wie der Raum war, dauerte es nicht lange, bis sie rechts und links vor ihr standen und die Arme nach ihr ausstreckten. Noch legten sie keine Hast an den Tag, und Victoria bückte sich schnell, huschte unter den Armen hindurch und rannte zur Tür. Verzweifelt klopfte sie daran. »Lasst mich raus!«, brüllte sie.

Die Männer torkelten, als sie ihr folgten. Doch die Tatsache, dass sie selbst beweglicher und Herrin ihrer Sinne war, war ihr in diesem winzigen Raum nicht von großem Nutzen.

»Hier hört dich niemand«, lallte der eine. »In dieser Nacht werden wir ganz unter uns sein.«

Der andere kicherte: »Es kann ziemlich kalt werden, wenn erst mal die Sonne untergeht. Aber keine Angst – wir werden dich schon wärmen.«

Victorias Kehle wurde eng vor Furcht, aber sie wollte sie nicht zeigen. Als die beiden wieder auf sie losgingen, bückte sie sich erneut und huschte an ihnen vorbei, um sich nun in die Ecke zu pressen, aus der sie gekommen waren. Sie war sich nicht sicher, wie lange sie ihnen noch entkommen würde, merkte nur, wie sich zum amüsierten Ausdruck in ihren Augen ein bedrohliches Funkeln gesellte. Ob der Panik konnte sie kaum atmen. Kurz nur wurde ihr ein Aufschub gewährt, dann trat der eine auf sie zu, und der andere stellte sich, als sie fliehen wollte, ihr in den Weg. Er bekam sie an der Taille zu fassen und presste sie an sich. Sie roch fauligen Atem, viel Wein und viel Blut. Sie konnte sich seinem Griff nicht entwinden, lediglich die Hände heben und versuchen, ihm sein Gesicht zu zerkratzen, doch ehe sie seine Haut fühlte, riss ihr der andere die Arme zurück. Hilflos war sie ihnen nun ausgeliefert, als sie sie zu Boden drückten, ihre Beine gewaltsam spreizten, ihr Kleid hochzogen. Alles Strampeln war vergeblich.

»Nein!«, schrie sie. »Nein!«

Die Männer hörten nicht auf, und zu Victorias Angst gesellte sich ein anderes Gefühl – das Gefühl von größter Scham. Wie tief war sie nur gesunken! In welche Lage hatte sie sich da selbst gebracht! Was würden ihre Eltern nur von ihr denken, wenn sie sie so sehen könnten!

Bis vor kurzem war sie überzeugt gewesen, dass diese auf ihre energische, kampfbereite Tochter stolz sein würden. Aber jetzt fragte sie sich plötzlich, ob sie es gutheißen konnten, dass sie nichts weiter war als eine gemeine Diebin, die man mit anderem Pack ins Gefängnis warf.

»Lass mich los!«, schrie sie keuchend. Tränen quollen ihr aus den Augen, als sie spürte, wie schwielige Hände sich an der Innenseite ihrer Schenkel hochtasteten.

Ehe sie ihre intimste Stelle erreicht hatten, fiel plötzlich ein greller Lichtschein auf sie, gefolgt vom Quietschen des Tors.

»Aufhören, sofort!«

Die Männer gehorchten zögernd, und sobald Victoria von ihren Griffen befreit war, sprang sie hastig auf. Noch trugen ihre Knie sie nicht. Sie zitterten so stark, dass sie stolperte, ein zweites Mal hart auf den Boden aufprallte und sich ihre Lippen wieder blutig biss.


Obwohl sie nicht lange im Kerker gewesen war, schnitt ihr das Tageslicht scharf wie ein Messer in die Augen. Sie blinzelte, als sie erst aus der Zelle gezogen wurde, dann einen Gang entlang, schließlich eine Treppe hinauf. Von der Person, die dort stand und die offenbar gekommen war, um ihre Freilassung zu verlangen, sah sie darum zunächst nur Umrisse. Einige wenige aufgeregte Herzschläge lang hoffte sie, dass es einer der Carrizos war, vielleicht Jiacinto selbst. Aber als sie die Augen öffnete, sah sie, dass diese Gestalt nicht sehnig und dreckig, sondern beleibt und schwarz gekleidet war.

Valentina war zu ihrer Rettung gekommen – und dass sie es höchstpersönlich tat und nicht etwa Pepe geschickt hatte, musste ein großes Opfer sein. Sie hasste es schon, vertraute Wände zu verlassen und mit fremden Menschen zusammenzutreffen – wie unerträglich musste es da sein, ein Gefängnis zu betreten und ihre Freilassung zu fordern!

Immerhin – diesem Gesuch war offenbar nachgekommen worden.

»Wir können gehen«, erklärte sie grußlos.

Wahrscheinlich hatte sie ein ordentliches Bestechungsgeld gezahlt. Victoria schluckte die Enttäuschung, dass sie nicht von den Carrizos hier herausgeholt worden war, hinunter und drückte dankbar Valentinas Hand.

Diese zog sie rasch zurück, ließ sich ansonsten aber ihren Widerwillen vor all dem Dreck nicht anmerken. Mit gestrafftem Rücken verließ sie das Gefängnis, und Victoria folgte ihr. Als sie ins Freie traten, japste sie gierig nach frischer Luft, als hätte sie über Jahre nur die vermoderte des Kerkers gerochen.

»Was machst du für Sachen?«, murmelte Valentina und führte sie zur Droschke, wo Pepe wartete. Erst erging dieser sich in Vorwürfen, dass seine Mutter ihn angewiesen hatte, hierzubleiben, anstatt mitzukommen – doch als er Victorias ansichtig wurde, verstummte er entsetzt. Sie blickte auf sich herab: Ihr Kleid war zerfetzt, über ihre Hände lief etwas Blut, die Haare hingen ihr ins Gesicht. Mitleid war in Pepes Blick zu lesen, aber auch derselbe Ekel wie in dem seiner Mutter. Als sie die Droschke bestieg, fragte er zwar. ob es ihr gutging, rückte jedoch von ihr ab, um ihr ja nicht zu nahe zu kommen.

Victoria verkrampfte ihre Hände, als die Droschke losfuhr, aber diese hörten dennoch nicht zu zittern auf.

»Wieso … wieso habt ihr gewusst, dass ich hier bin?«

»Hätte übel ausgehen können, Mädchen …«, knurrte Valentina, und Pepe nickte zustimmend.

Victoria löste ihre Hände voneinander und verschränkte sie über der Brust, als Valentina fortfuhr: »Eine Frau, die in der Wäscherei des Krankenhauses arbeitet, hat gesehen, was passiert ist. Sie kannte dich. Offenbar leidet sie an Tuberkulose, und du hast ihr einmal ein Medikament gegeben und verzichtet, ihre Krankheit zu melden. Nachdem du verhaftet worden bist, kam sie zu uns.«

»Und du hast meine Freilassung bewirkt …«, murmelte Victoria, nicht sicher, in welche Worte sie ihren Dank kleiden sollte. Keines schien ausreichend, aber Valentina wartete auch nicht darauf.

»Wenn man mit ein bisschen Geld winkt, ist hier jeder bestechlich.«

Dann schloss sie die Lippen zum Zeichen, dass sie nichts mehr sagen würde, bis Victoria halbwegs vom Dreck gereinigt war, und auch diese wünschte sich nichts mehr, als endlich das ekelerregende Gefühl vom Leib zu waschen.

Als sie zu Hause ankamen, befahl Valentina dem Dienstmädchen sofort, ein Bad einzulassen, und wenig später versank Victoria tief im heißen Wasser und verharrte so lange unter der Oberfläche, bis sie die Luft nicht länger anhalten konnte. Prustend tauchte sie auf, die Haut brannte von der Hitze und weil sie sie nun heftig mit dem Waschlappen abrieb. Als sie sich später abtrocknete, das noch feuchte Haar flocht und frische Kleidung anzog, fühlte sie sich etwas besser. Hunger erwachte – und zugleich Angst, Angst um Rebeca.

Erst jetzt konnte sie sich der Frage stellen, warum sie nicht beim Treffpunkt erschienen war, und ihr kam ein schlimmer Verdacht: Vielleicht war Rebeca auch verhaftet worden, vielleicht saß sie irgendwo in einem stinkenden Loch, und es gab keine Valentina, die sie befreite!

Victoria stürmte aus ihrem Gemach. Im Speisezimmer saßen Valentina und Pepe beim Abendessen, doch Victoria nahm nur ein Stück Brot und schlang es stehend herunter.

»Wir müssen reden«, erklärte Valentina.

»Ich habe keine Zeit! Ich muss zu den Carrizos! Ich muss wissen, ob mit Rebeca alles in Ordnung ist.«

Valentina achtete nicht auf den Einwand. »Setz dich, Mädchen!«, befahl sie streng.

Nur widerwillig fügte sich Victoria. »Bitte … bitte keine Standpauken, nicht jetzt. Es war falsch, die Medikamente zu stehlen, und …«

»Was du stiehlst oder nicht, ist mir egal«, knurrte Valentina. »Und eigentlich geht mich auch die Angelegenheit nichts an, über die ich nun mit dir reden muss. Du bist mein Gast, und du kannst es so lange bleiben, wie du willst. Ich bewunderte deine Mutter, und ich schätze dich. In jedem Fall solltest du wissen …«

Sie brach ab, während Pepe seinen Kopf einzog und offenbar wusste, dass eine unangenehme Enthüllung bevorstand.

»Was wissen?«, fragte Victoria.

»Nun, dass kein Geld mehr von deinem Erbe da ist. Du hast es in den letzten Jahren verbraucht. Zumindest den Teil, auf den du Zugriff hast. Und der andere …«

Wieder brach sie ab.

Victoria starrte sie verständnislos an. Sie hatte sich nie viel Gedanken über Geld gemacht, sondern es bereitwillig für die Carrizos ausgegeben, wann immer diese sie um einen Beitrag baten. Valentina wiederum hatte ihr den Anteil vom Erbe stets kommentarlos ausbezahlt.

»Aber …«

»Was diesen anderen Teil angeht – das ist die Apotheke in Valparaíso. Eigentlich sollte sie einmal dir gehören, und eigentlich müssten dir Ludwig und Elvira Kreutz einen Anteil vom jährlichen Gewinn auszahlen. Aber sie sträuben sich, behaupten, dass sie zu Lebzeiten deiner Eltern am Geschäft maßgeblich beteiligt gewesen wären und dass es eigentlich ihnen zustünde. Natürlich könntest du einen Rechtsstreit anstreben – aber da du obendrein unter ihrer Vormundschaft stehst, bis du einundzwanzig bist, wird es schwierig …«

Victoria riss die Augen auf. »Aber ich dachte, du wärst mein Vormund!«

»Nun pro forma eigentlich nicht. Die Kreutz’ waren froh, dass ich dich seinerzeit aufgenommen und mich bereit erklärt habe, über deine Erziehung zu wachen, aber wir haben es nie wirklich gesetzlich geregelt. Solange es ihnen finanzielle Vorteile bringt, werden sie dich auch nicht aus ihrer Vormundschaft entlassen. Auf das Barvermögen, das dir deine Eltern hinterlassen haben, haben sie nicht gewagt zuzugreifen, aber das ist nun, wie gesagt, aufgebraucht. Die Apotheke wiederum …«

Victoria stützte ihren Kopf auf die Hände und rieb sich die Schläfen. Sie fröstelte und fühlte Kopfschmerzen aufsteigen.

»Lass uns morgen weiterreden … Ich kann jetzt keinen klaren Gedanken fassen.«

»Wir müssen nicht weiter darüber reden. Wie ich sagte: Du bist mein Gast, solange du es willst, ich werde nie zulassen, dass Emilias Tochter Not leidet. Aber du musst dir überlegen, was du aus deinem Leben machst – ohne Geld … und ohne Anstellung am Krankenhaus …«

Schweigend löffelte sie die Suppe, und Pepe tat es ihr gleich.

Victoria erhob sich. »Ich … ich muss jetzt zu den Carrizos und nach Rebeca sehen.«

In Valentinas Gesicht regte sich weder Zustimmung noch Missbilligung. Wie immer ließ sie Victoria vollste Freiheit, und kurz, ganz kurz erwachte in ihr die Sehnsucht nach jemandem, der sie nicht einfach machen ließ, der sie stattdessen aufs Zimmer schickte, ihr befahl, zu essen und zu schlafen, und der versprach, sich selbst darum zu kümmern, dass alles gut würde.

Über das eigene Leben zu bestimmen war etwas, was sie immer eingefordert hatte und genoss – nur jetzt, da sie die Treppe hinunterging, war es ihr kurz eine Last.


Es war bereits stockdunkel, als Victoria das Haus verließ. Die Straße, wo die Veliz’ wohnten, war zwar beleuchtet, nicht aber manches Gässchen, das den Weg zu den Carrizos abkürzte. Für gewöhnlich mied sie solche Orte am späten Abend. Doch heute konnte nicht einmal die Erinnerung an das, was ihr im Gefängnis beinahe zugestoßen wäre, die Furcht vor zwielichtigen Halunken schüren, die sich hier herumtrieben. Sie musste zu den Carrizos, so schnell wie möglich!

Sie war erleichtert, als sie aus der Ferne schließlich die Wohnsiedlung sah, und noch erleichterter, als sie erkannte, wer auf der Straße davor auf und ab ging: niemand anderer als Rebeca selbst.

Sie stürzte auf sie zu. »Gottlob, man hat dich nicht verhaftet!«

Rebeca zuckte zusammen, als sie sie packte, und befreite sich dann unsanft. »Sie haben dich wieder aus dem Gefängnis gelassen?«, stellte sie gedehnt fest.

Victoria starrte sie verwirrt an. Was sie eben noch so froh gestimmt hatte, befremdete sie nun: Wenn Rebeca nicht verhaftet worden war – und nichts deutete darauf hin, dass sie ähnliche Torturen hinter sich hatte wie sie –, warum war sie nicht zum Treffpunkt gekommen? Warum war ihr Gesicht so kalt, so hart, so verächtlich – vor allem aber: frei von jeder Sorge um sie? Warum ging sie hier seelenruhig auf und ab?

Und noch etwas anderes irritierte Victoria an ihrer Frage.

»Da du nicht zum Treffpunkt gekommen bist – woher weißt du überhaupt, dass ich verhaftet wurde?«

Rebeca zuckte nur die Schultern und trat einen Schritt zurück.

»Und warum bist du nicht gekommen? Wusstest du etwa, dass Espinoza auf der Lauer lag? Warum hast du mich dann nicht gewarnt?«

Sie stellte mit Absicht so viele Fragen – weil sie bei jeder einzelnen die Antwort fürchtete. Erst jetzt konnte sie sich eingestehen, was sie geahnt hatte: Nicht Sorge um Rebeca hatte sie so spät am Abend hierhergetrieben. Sondern das vage Unbehagen, dass diese sich nicht dieselben Sorgen um sie machen würde.

Rebeca lächelte kalt. »Du dummes kleines Mädchen!«, stieß sie aus.

Der Boden schien unter Victorias Füßen zu wanken. »Wie … was …«, stammelte sie, riss sich dann aber, als sie sah, wie Rebecas Verachtung noch wuchs, zusammen und brachte, ohne zu stammeln, hervor: »Du bist nicht gekommen, weil du wusstest, was passieren würde. Und du hast mich nicht gewarnt, weil du mich selbst an Espinoza verraten hast.«

Wieder zuckte Rebeca nur die Schulter. »Na also …«, lästerte sie, »… doch nicht so lahm im Kopf, wie man manchmal meinen könnte.«

Victoria nahm die Beleidigung gar nicht wahr. Was war sie, gemessen an dem Schmerz, den der Verrat ihr zufügte? »Aber warum nur?«, stieß sie heiser aus.

»Warum, warum?« Rebeca hob fragend die Arme. »Nun, du hast kein Geld mehr. Zumindest hat Valentina so etwas unlängst angedeutet – ich weiß gar nicht, ob du das überhaupt bemerkt hast. In jedem Fall bedeutet das: Du hast keinen Wert mehr für uns …«

»Aber …«

»Mein Gott, Victoria! Das war das Einzige, was uns je interessierte – dass du Geld hast! Als wir uns damals im Krankenhaus getroffen haben, habe ich mich genau über dich erkundigt. Denkst du, ich hätte so lange bei diesen grässlichen Kranken gearbeitet, wenn ich nicht einen guten Grund dafür gehabt hätte? Nämlich dein Vertrauen zu gewinnen?«

Victoria blickte sie verständnislos an. Sie hörte jedes Wort, aber sie konnte es nicht glauben. Sie konnte auch nicht glauben, dass es Rebeca war, die da vor ihr stand. Gewiss, sie war manchmal bösartig, sogar wahnsinnig; sie hatte sie oft sehr distanziert und verächtlich behandelt. Aber sie hatte nie … berechnend gewirkt.

»Wir führen doch einen gemeinsamen Kampf!«, schrie sie auf.

»Ach was«, wiegelte Rebeca ab, »von wegen gemeinsam! Du warst uns nützlich, aber du hast nie zu uns gehört.«

Victoria schwindelte. Sie hatte den ganzen Tag kaum etwas gegessen und glaubte doch, sich sogleich übergeben zu müssen. Du bist kein Straßenköter … hatte Jiacinto einst zu ihr gesagt. Meinte Rebeca das Gleiche? Oder etwas anderes?

Fest stand, dass sie nie ihre Freundin gewesen war.

»Vielleicht magst du mich nicht besonders«, rief Victoria wütend, »vielleicht war ich dir nur Mittel zum Zweck. Und vielleicht kann ich tatsächlich nicht verstehen, wie ihr lebt und leben musstet. Aber ich bin doch eine Frau! Ich bin eine Frau wie du!«

»Na und?«

»Das oberste Gebot aller Feministinnen ist es doch, zusammenzuhalten und sich zu unterstützen, egal, ob man zur Oberschicht oder zu den Arbeitern gehört.«

Rebeca lachte, nicht auf diese schrille, glucksende Art, wie sie ihr zu eigen war, sondern das kalte Lachen resignierter Menschen. »Wer sagt dir denn, dass ich eine Feministin bin?«

»Aber du hast doch immer …«

»Die Politik, die Ideologie«, fiel Rebeca ihr scharf ins Wort, »das ist die Sache meiner Brüder, nicht meine. Ich tue ihnen den Gefallen und gebe vor, sie ernst zu nehmen. Aber eigentlich ist mir egal, was sie denken und glauben. Ich will frei sein und meinen Spaß haben, mehr nicht.«

Etwas zerbrach in Victoria, und sie wusste, es würde nie wieder heil werden. Kurz wunderte sie sich, dass sie sich aufrecht halten konnte, dass sie sich nicht gegen die Hauswand lehnte oder gar zu Boden stürzte. Erst später begriff sie, dass es Stolz gewesen sein musste, der ihr inmitten dieses reißenden Meers aus Lügen und Betrug noch festen Stand erlaubte.

»Weiß Jiacinto, was du mir angetan hast?«, fragte sie mit erstickter Stimme. »Dass du mich nur ausgenutzt hast … und mich verraten?«

»Denkst du etwa, es würde ihn interessieren?«

»Ich habe ihn geküsst, ich habe mit ihm … geschlafen.«

Da trat Rebeca zu ihr, umfasste ihre Schultern und drückte sie kurz. Victoria konnte ihren warmen Atem spüren – und Tropfen ihres Speichels, als sie raunend fortfuhr: »Weil ich ihm gesagt habe, er solle es tun. Ich habe gleich erkannt, dass du eine Schwäche für ihn hast – und ich habe ihm eingeredet, dass wir es ausnützen sollten.«

Sie ließ sie wieder los, und da war kein Stolz mehr, der sie aufrecht hielt, nur tiefste, bitterste Enttäuschung. Dass sie erneut nicht fiel, lag daran, dass sie zu erstarrt war, wie tot. Sie konnte kaum atmen, und hätte ihr jemand gesagt, dass ihr Herz aufgehört habe zu schlagen, sie hätte es geglaubt.

»Geh heim, kleines Mädchen!«, höhnte Rebeca. »Die Straße ist ein zu gefährlicher Ort, um dort zu spielen.«

Victoria wandte sich mit Mühe ab, aber sie hatte keine Kraft, den ersten Schritt zu tun und zu fliehen. Sie wusste nicht, was sie am meisten lähmte, Enttäuschung oder Wut oder tiefe Beschämung.

»Keine Gosse ist so dreckig wie die Abgründe deines Herzens«, zischte sie.

»Mag sein«, knurrte Rebeca. »Aber so ist die Welt. Und du wirst sie nie begreifen, weil du zu gut dafür bist.«

Sprach’s und ließ sie grußlos stehen. Nun konnte Victoria nicht anders, als sich gegen die Hauswand zu lehnen. Sie schloss die Augen, fühlte kalten Schweiß auf ihrer Stirn. Sie wusste nicht, welcher Drang größer war – sich zu übergeben oder zu weinen. Am Ende blieb sie stehen, hoffte, dass dieser Schmerz irgendwann nachlassen würde, und tat keins von beiden.


Rebeca lief nur eine Straße weiter, um nunmehr dort auf und ab zu gehen. Als sie plötzlich Schritte hörte, die näher kamen, blieb sie zwar stehen, drehte sich aber nicht um. Sie wusste, wer hinter ihr stand, in seiner Tasche kramte, ihr schließlich einen Packen Geldscheine zusteckte. Sie nahm sie schweigend und verstaute sie in ihrem Hosenbund.

»Ich gehe davon aus, dass ich Sie nie wiedersehe«, sagte Doktor Espinoza lauernd.

Erst jetzt wandte sie sich ihm zu. Während sie nickte, musterte sie ihn. Sie hatte mit ihm gemeinsame Sache gemacht, weil es für sie nützlich gewesen war, aber nicht bis ins Letzte ergründet, was ihn dazu antrieb und warum er Victoria seit Jahren hasste. Lag es daran, dass ihm jede Art von Unruhestifter zuwider war? Oder hatte es mit seinem Hass auf alle Deutschen zu tun, die im chilenischen Gesundheitswesen oft bessere Positionen einnahmen als seine Landsmänner?

Sie konnte an seinem ausdruckslosen Gesicht keine Antwort ablesen.

»Warum«, fragte sie unwillkürlich, als er sich schon wieder zum Gehen wandte, »warum wollten Sie Victoria um jeden Preis loswerden?«

Espinoza zögerte kurz, ihr zu antworten. Im Grunde erachtete er sie wohl als zu minder, um sich länger als unbedingt notwendig mit ihr abzugeben. Aber offenbar war er auf den Plan, den er ausgeheckt hatte, so stolz, dass er sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen wollte, damit zu prahlen. »Es geht mir gar nicht so sehr darum, sie loszuwerden«, gab er schließlich zu, »gewiss, sie war mir anfangs ein Dorn im Auge, mit dieser Aufmüpfigkeit, dieser Arroganz! Abgesehen davon war sie aber eine ganz brauchbare Krankenschwester. Nun kann sie mir jedoch auf andere Weise nützlich werden.« Er machte eine kurze Pause. »Wenn Victoria – wie jetzt – in einer Notsituation steckt, wer könnte ihr dann besser helfen, wenn nicht Aurelia Hoffmann?«

Rebeca runzelte die Stirn. Sie mochte verschlungene Gedankengänge und ausgefeilte Intrigen, aber sie konnte nicht nachvollziehen, wohin sich Doktor Espinoza da verstieg.

»Und was haben Sie davon?«, fragte sie verwirrt.

Er lachte auf. »Nun, mein Sohn wird Aurelia natürlich auf Victorias Notsituation aufmerksam machen … als Zeichen seiner Anteilnahme an ihren familiären Belangen, und somit als Zeichen seiner ehrlichen Freundschaft. Er hat sich letztens immer mehr von Tiago entfremdet. Es ist Wochen, wenn nicht gar Monate her, dass wir Gast bei der Familie Brown y Alvarados waren. Das möchte ich ändern.«

Sein Gesicht blieb nicht länger ausdruckslos, sondern verzerrte sich verächtlich. »Überdies liege ich William Brown seit Jahren in den Ohren, seine soziale Ader damit zu beweisen, ein eigenes Privatkrankenhaus zu finanzieren. Ich fürchte nur, dass es mir nicht gelungen ist, ihn sonderlich fürs Gesundheitswesen zu interessieren. Bei Tiago sieht das eines Tages vielleicht ganz anders aus. Wenn ich es schaffe, dass ihm Aurelia die rechten Bitten einflüstert und Victoria wiederum Aurelia, und mein Sohn an rechter Stelle die Sache lenkt … nun dann …«

»Sie meinen, weil Victoria sonst an keinem anderen Krankenhaus mehr arbeiten kann, ist sie auf ein neues angewiesen, wo dann ausgerechnet Sie sich ihr gnädig erweisen … nicht um ihret-, sondern um Aurelias willen, wobei es Ihnen auch nicht um Aurelia geht oder Tiago, sondern Ihre Zukunft und die Ihres Sohnes.«

Espinoza schwieg – Rebeca hingegen schüttelte den Kopf. »Es muss schrecklich anstrengend sein, vor Menschen wie Aurelia und Tiago zu buckeln, wenn Sie doch letztlich keine gute Meinung von ihnen haben, sie vielmehr als Spielfiguren benutzen, die man beliebig verschieben kann.«

Ein grimmiges Lächeln erschien auf seinen Lippen. »In der Tat, ich hasse diese reichen Menschen«, entfuhr es ihm bitter. »Sie glauben tatsächlich, sie könnten sich alles erlauben; sie hätten ein Recht auf all das, was ihnen zufällt, die Welt läge ihnen zu Füßen. Aber das heißt nicht, dass ich jemals verzichten werde, sie zu meinen Gunsten zu manipulieren.« Kurz schien sein Blick durch sie hindurchzugehen, dann verhärtete er sich, und die Verachtung, die er eben noch für die Oberschicht gezeigt hatte, traf ganz und gar Rebeca. »Und das heißt auch nicht, dass ich für euren Kampf Verständnis hätte.«

Rebeca zuckte ungerührt die Schultern. »Welchen Kampf?«, fragte sie unschuldig, als wüsste sie nicht ganz genau, was er meinte.

»Nun, dieser lächerliche Einsatz für mehr Gerechtigkeit und weniger Standesunterschiede. Als ob das auf dieser Welt jemals möglich wäre.«

Wieder zuckte Rebeca die Schultern. So leichtfertig, wie er sein Innerstes vor ihr ausgebreitet hatte, bekannte nun auch sie: »Meine Brüder fechten diesen Kampf aus, ich sehe nur zu und ziehe größtmöglichen Spaß daraus. Ich hasse die Reichen nicht, müssen Sie wissen, ich hasse die Armut.«

Sie zog noch einmal demonstrativ das Geld hervor, das er ihr vorhin gereicht hatte, lachte triumphierend auf und schlenderte dann grußlos davon. Noch lange spürte sie Espinozas Blick auf ihrem Rücken – und die Verachtung für das falsche Spiel, das sie trieb, obwohl er doch selbst die Intrige ausgeheckt hatte, die Victoria zu Fall gebracht hatte.

Später am Abend bekam sie noch einmal Verachtung zu spüren oder zumindest Missbilligung – die von Juan. Sie hatte ihm stolz das Geld gezeigt und auch berichtet, wie sie dazu gekommen war, aber anstatt dafür Lob einzuheimsen, schüttelte er verständnislos den Kopf.

»Warum hast du das Victoria nur angetan? Wie konntest du nur?«

Entnervt verdrehte sie die Augen. Juans hohe Moral konnte anstrengend sein – vielleicht war es ein Fehler gewesen, ihm die Wahrheit zu sagen.

Sie hätte ihn anlügen müssen, so wie sie gestern noch Jiacinto angelogen hatte. Dass Victoria keine Lust mehr hätte, sich zu engagieren, hatte sie behauptet, dass sie im Grunde des Herzens doch ein verwöhntes Mädchen geblieben wäre, dass sie furchtbar mit ihr gestritten hätte deswegen und dass es zum Bruch gekommen wäre.

Jiacinto hatte es hingenommen – während sie Juan nicht so gut unter Kontrolle hatte. Eben lächelte sie ihn aufreizend an, um einer Antwort zu entgehen, doch er blieb ernst.

»Also, warum hast du das getan?«

Aus dem Nebenzimmer ertönte ein Grölen. Jiacinto ging dort auf und ab und schrie zunehmend betrunken herum, dass es auf der Welt keine Treue und Liebe gäbe.

Rebecas Lächeln schwand von den Lippen, ihr Blick wurde hart.

»Hörst du ihn denn nicht? Er hat es nie zugegeben, aber du hast gewiss bemerkt, dass er von Victoria zunehmend fasziniert war. Es hat damals angefangen, als wir bei den Näherinnen waren. Bis dahin war Victoria nur ein Spielzeug für ihn, aber dann …« Sie schüttelte grimmig den Kopf. »Er hat sich nur an dieser Aktion beteiligt, weil er hoffte, sich dabei ordentlich prügeln zu können – aber am Ende hat er Victoria dafür bewundert, dass sie so ruhig geblieben und nicht der Panik verfallen ist, dass sie das Notwendige getan hat und diesem reichen Balg auf die Welt geholfen hat. So wie sie hat Jiacinto noch nie eine Frau angesehen. Seitdem ist es zunehmend schwerer geworden, mich zwischen sie zu stellen.«

Während sie mit ihm sprach, hatte sie sich immer tiefer über Juans Gesicht gebeugt. Der zuckte nun zurück – und wirkte angewidert.

»Warum wolltest du dich denn zwischen sie stellen, zum Teufel? Warum gönnst du ihnen nicht ein wenig Glück? Wenn Jiacinto Victoria am Ende aufrichtig lieben würde – was kannst du denn dagegen haben?«

Rebeca ballte ihre Hand zur Faust. Ihr ansonsten so weicher, geschmeidiger Körper verhärtete sich, als sie zischte: »Wir haben versprochen, dass wir zusammenhalten. Alles, was wir nach dem Tod unserer Eltern erdulden mussten, haben wir nur durchgestanden, weil wir zu dritt waren und einander hatten. Ihr könnt gerne mit anderen Frauen schlafen, so wie ich mit anderen Männern. Aber lieben … lieben tut ihr mich!«

Sie ließ die Faust sinken, legte die Hand auf Juans Schultern, streichelte darüber und setzte sich schließlich wie so oft auf seinen Schoß. Er wollte zurückweichen, aber sie ließ es nicht zu, nahm die halb gerauchte Zigarette aus dem Aschenbecher, an der er eben noch gesogen hatte, und führte sie an die eigenen Lippen. Langsam, ganz langsam blies sie ihm den Rauch ins Gesicht. Es schien sich grau zu färben, und er hustete. Anstelle von Widerwillen und Verachtung trat Resignation – und ein eigentümliches Glitzern in seine Augen. Rebeca beugte sich vor und küsste ihn auf den Mund, während er nach wie vor hustete.

Die Tür zum Nebenzimmer ging auf. Wankend erschien Jiacinto auf der Türschwelle. Beinahe fiel er darüber, wenn Rebeca nicht eilig aufgestanden wäre, um sich nun an ihn zu schmiegen und ihm dadurch Halt zu geben.

»Victoria will also nichts mehr mit uns zu tun haben«, grölte er. »Ich wusste es schon immer. Es gibt keine wahre Liebe.«

»So ist es«, stimmte Rebeca grinsend zu. »Es gibt keine Liebe. Es gibt nur uns drei.«

Dann blies sie auch ihm Rauch ins Gesicht und küsste ihn auf den Mund.

Im Schatten des Feuerbaums: Roman
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