4. Kapitel

Victoria hatte klare Vorstellungen von Aurelias Zukunft – doch wann genau diese Zukunft beginnen sollte, schien ihr gleichgültig. Auch sie selbst war noch zum Warten gezwungen: Sie waren im April, Ende des Sommers, in Santiago eingetroffen, und ihre Ausbildung als Krankenschwester, die sie an einem der fünf großen städtischen Krankenhäuser machen würde, begann erst einen knappen Monat später. In dieser Zeit zog sie sich oft mit Valentina und deren Anwalt zurück, um Fragen zu ihrer Vormundschaft und ihrem Erbe zu klären, während Aurelia auf sich allein gestellt blieb und sich an den gleichmäßigen Tagesablauf gewöhnte.

Valentina, die sich schon vor Jahren aus der Buchhandlung zurückgezogen hatte und es Pepe überließ, das Geschäft zu führen – nur bei wirtschaftlich mageren Monaten half sie mit ihrer Leibrente aus –, liebte es, den Tag einer strengen Planung zu unterwerfen. Sie zwang den Mädchen nichts auf, verlangte aber von ihnen, dass sie diese Ordnung unter keinen Umständen störten. Erst am späten Vormittag verließ sie ihr Schlafzimmer – zuvor ließ sie sich von dem Hausmädchen Bona Kuchen und heiße Schokolade zum Frühstück servieren und außerdem mehrere Zeitungen: den Mercurio, eine große Lokalzeitung, und überdies Die deutschen Nachrichten für Südamerika, die eigens von Valparaíso an ihren Haushalt geschickt wurde.

Aurelia fragte sich, warum sie – als Chilenin – so interessiert an der deutschen Kultur war und woher sie Victorias Mutter Emilia überhaupt gekannt hatte, und erfuhr von Victoria, dass Valentinas Mann ein Abkömmling von deutschen Einwanderern war und sie sich seiner Kultur zugehörig fühlte. Getauft worden war er auf den Namen Franz Kupfer; später hatte er sich Francisco genannt. Im Bürgerkrieg von 1891 musste er sein Leben lassen, und Valentina hatte Pepe, der ihr einziges Kind geblieben war, danach allein aufgezogen. Bei der Gestaltung des Tagesablaufs spielte Francisco immer noch eine wichtige Rolle. Im Esszimmer hing ein großes Gemälde von ihm, darunter lagen sein Degen und eine Urkunde, die eine besondere militärische Auszeichnung beinhaltete. Auf dem kleinen Tischchen davor brannte stets eine Kerze. Der Platz am Kopfende der Tafel blieb – im Gedenken, dass er dort zu Lebzeiten sein Essen eingenommen hatte – leer, und an Sonn- und Feiertagen brannte auch dort eine Kerze. Einmal wöchentlich besuchten Valentina und Pepe die Kathedrale von Santiago, um für Francisco zu beten, und zu diesem Zweck trug sie – die sich generell auf schwarze Kleider beschränkte – nicht nur ein schwarzes Spitzenhäubchen, sondern auch einen Schleier, der ihr Gesicht verhüllte.

Valentina wurde nicht müde zu betonen, welch großartiger Gatte und Soldat ihr Mann gewesen war, und wurde schmallippig, wenn zur Sprache kam, dass dieser sich zu Lebzeiten nicht immer mit Ruhm bekleckert hatte: Im besagten Bürgerkrieg nämlich hatte er auf der Seite des Präsidenten Balmaceda gekämpft – der nicht nur der große Verlierer dieser Auseinandersetzung, sondern obendrein ein schändlicher Mann gewesen war, der sich nach seinem Scheitern das Leben genommen hatte. Mehr als einmal hörte Aurelia Valentina klagen, warum Francisco denn nur im leidigen Bürgerkrieg gefallen sei und nicht im – irgendwie ehrenhafteren – Pazifikkrieg. Dass dieser zehn Jahre früher stattgefunden hatte, sie ihn – wäre er damals gestorben – nie kennengelernt und ihm keinen Sohn geschenkt hätte, spielte bei diesen Überlegungen keine Rolle.

Pepe bemerkte einmal trocken, dass es eine Zeit gegeben hatte, da seine Mutter ein falsches Datum für den Todestag ihres Mannes genannt hätte. Zu diesem Zweck hatte sie ihn auch um fünf Jahre älter gemacht und vorgegeben, sie hätte ihn posthum geboren. Pepe wirkte grimmig, als er das erzählte, obwohl er sich so oder so nicht an seinen Vater erinnern konnte und er überdies, wie Aurelia insgeheim dachte, ohnehin viel älter aussah, als er war. Eigentlich war er nur ein Jahr vor ihr geboren, aber er wirkte hausbacken und steif, als hätte er den vierzigsten Geburtstag längst hinter sich gebracht.

»Nun«, meinte sie in der Hoffnung, es sei ihm ein Trost, »so wichtig erscheint es mir nun auch wieder nicht, in welchem Krieg dein Vater gekämpft hat und in welchem er gefallen ist.«

Pepe nickte. »In jedem Fall war er von seinen Feinden gefürchtet. Er konnte mit seiner Pistole sogar eine Fliege treffen.«

Aurelia war etwas skeptisch, wandte jedoch nichts ein. Sie wusste nicht recht, ob Pepe vom allgegenwärtigen Gedenken an seinen Vater eingeschüchtert oder vielmehr stolz auf ihn war, und sie verstand noch weniger, warum Valentina so besessen war, dieses Gedenken am Leben zu erhalten – sie, die sich wie Victoria als Feministin bezeichnete, eine so selbstbewusste Frau war und nie den Anschein gab, sie zöge dieses Selbstbewusstsein aus der Tatsache, dass sie Franciscos Witwe war. Außerdem wirkte sie niemals kummervoll. Kein einziges Mal sah Aurelia sie um den Mann weinen, wenn ihr Blick auf das Gemälde oder auf den leeren Platz am Esstisch fiel, sie runzelte nicht einmal die Stirn. Stattdessen zeigte sich lediglich der sture Ausdruck einer Hausfrau, die sich in den Kopf gesetzt hat, ihr Haus frei von Staub zu halten. Ja, dies war ganz offenbar ihr Ziel: das Gedenken an Francisco rein zu halten – und das nicht so sehr aus Trauer, Nostalgie oder Liebe, sondern weil die Ordnung des Lebens das verlangte.

Auf Aurelia wirkte das überlebensgroße Gemälde von Francisco so einschüchternd wie die dunklen, überladenen Räume, aber nach einigen Tagen entdeckte sie ein Plätzchen für sich: den kleinen Garten im Innenhof des Hauses, in dem Bona, das Hausmädchen, Gemüse anbaute und zwei Hühner hielt. Die Wände des Hauses waren weiß gekalkt, der kleine Brunnen war etwas verwittert und das schmale Bänkchen ein guter Ort, um dort zu sitzen, sich von den Sonnenstrahlen necken zu lassen, ein paar Zeichnungen anzufertigen und aus der Ferne den Rufen des Obsthändlers zu lauschen, der von Tür zu Tür zog und seine Waren anpries. An diesem Ort war es auch, wo sie ihren Eltern einen langen Brief schrieb, erklärte, was geschehen war, und auch, dass sie vorerst hierzubleiben gedachte.

Ihretwegen hätte das Leben gerne in diesem beschaulichen Gleichmaß weitergehen können. Doch dann kam der Tag, an dem Victoria ihren Dienst im Krankenhaus antreten sollte. Sie sprach seit Wochen von nichts anderem, und am Abend zuvor hatte sie vor Aufregung kaum etwas gegessen. Aurelia stand früher auf als sonst, um ihr noch alles Gute zu wünschen, aber sie fand das Speisezimmer, indem sie sonst immer ihr Frühstück einnahmen, verwaist vor: Offenbar hatte Victoria es gar nicht mehr erwarten können, zu ihrem neuen Arbeitsplatz zu kommen. Das Haus schien ungewöhnlich still, und Aurelia entschied, sich wie so oft am Vormittag in den Garten zurückzuziehen, wo Bona eben frische Wäsche aufhing – im Hause Veliz wurde fast täglich gewaschen und die Betten mindestens einmal wöchentlich neu bezogen –, doch sie hatte kaum auf dem Bänkchen Platz genommen und ihren Malblock geöffnet, als Valentina sie zu sich rief. Es war ungewohnt zu dieser frühen Tageszeit und noch ungewohnter, dass sie bereits zum Ausgehen gekleidet war – genauso wie Pepe.

Aurelia überlegte noch, ob sie einen wichtigen Feiertag oder Gedenktag für Francisco vergessen hatte und Valentina nur früher als sonst zur Kirche aufbrechen würde, als diese schon verkündete: »Victoria beginnt heute ihren Dienst im Krankenhaus. Da wird es Zeit, dass auch du die Tage nicht länger vertrödelst, sondern dein Leben endlich in ordentliche Bahnen lenkst.«

Aurelia lauschte schuldbewusst – Victoria sprach seit Wochen von nichts anderem als ihrer Ausbildung und malte sich die Zukunft, in der sie nichts dem Zufall überlassen wollte, in gestochen scharfen Farben aus, während sie selbst sich lieber vagen Träumen hingab.

»Aber …«, setzte sie an.

»Also los, komm!«, fiel Valentina ihr ins Wort.

Pepe führte eines seiner Selbstgespräche, in denen er sich darüber beklagte, dass er die Buchhandlung heute erst später öffnen konnte und er überdies in diese schreckliche Stadt fahren musste, aber als Valentinas strenger Blick ihn traf, verstummte er ausnahmsweise.

Auch Aurelia fügte sich diesem Blick, holte ihre Malmappe, wie Valentina verlangte, zog sich rasch ihr bestes Kleid an und eilte nach unten, wo Valentina und Pepe bereits in einer herbeigerufenen Droschke saßen.

»Und wohin fahren wir?«

»Nun, wohin wohl?«, gab Valentina mit gleicher Ungeduld zurück, die sie mit Victoria gemein hatte. »Du willst doch die Escuela de Bellas Artes besuchen.«

Sofort wurde Aurelia ganz aufgeregt. Während der Fahrt sah sie nicht viel von Santiago und schaute erst zum Fenster hinaus, als die Schatten von Bäumen auf die Droschke fielen. Sie standen im Parque Forestal, und inmitten des Parks lag die Escuela – gleich neben jenem Museo de Bellas Artes, an dem noch gebaut wurde und das zum hundertsten Jahrestag der Unabhängigkeit Chiles in einem Jahr eröffnet werden sollte.

Die Droschke hielt, aber Valentina machte keine Anstalten auszusteigen. Nicht nur Aurelia, auch Pepe blickte sie verdutzt an.

»Du willst sie doch nicht alleine gehen lassen?«, fragte er empört. »Warum bin ich denn dann überhaupt mitgekommen und halte den Laden geschlossen?«

»Du bist mitgekommen, weil du mich nie alleine aus dem Haus gehen lässt. Und außerdem gedenke ich, ein paar Einkäufe zu machen. Aurelia aber wird nun allein mit Señor Matías Ponce sprechen. Was man nämlich nicht alleine macht, hat keinen Wert.«

»Aber … aber …«, stotterte Aurelia hilflos und fragte dann: »Wer ist denn Señor Ponce?«

»Das ist der Einzige, den ich kenne, der an der Escuela arbeitet – ich bin nicht sicher, ob als Lehrer oder als Verwalter. In jedem Fall habe ich ihm dein Kommen angekündigt. Du zeigst ihm deine Bilder, und der Rest wird sich fügen. Hinterher kannst du mit der Trambahn nach Hause fahren, die Strecke kennst du ja.«

Pepe blickte sie empört an. »Mutter, wie kannst du sie hier nur einfach aus der Droschke werfen!«

Valentina zuckte die Schultern. »Nun, ich werfe sie nicht aus der Droschke. Wenn du mit mir einkaufen gehen willst, Mädchen, dann kannst du mich gerne begleiten. Wenn du aber tatsächlich Malerin werden willst, dann musst du etwas dafür tun. Ich habe meinen Beitrag geleistet.«

Pepes Mund, den er noch zu aufgebrachter Widerrede geöffnet hatte, klappte wieder zu. Ihm war deutlich anzusehen, was er von Aurelia erwartete: dass sie lieber alle Träume sausenließ, als nur einen Schritt allein in dieser schmutzigen, gefährlichen Stadt zu machen.

Doch Aurelia erhob sich und kletterte aus der Droschke, die Malmappe fest an sich gepresst. Ihr war nicht wohl zumute, aber sie ahnte, dass sie weder Valentina noch Victoria jemals wieder unter die Augen treten könnte, wenn sie hier und heute versagte.


Ihre Schritte hallten auf dem Marmorboden – das einzige Geräusch inmitten der Stille, die in dem Gebäude herrschte, eine ehrfürchtige Stille im Übrigen, die davon zu künden schien, dass hier schon seit Jahren niemand eine unbedachte Bewegung gemacht oder ein zu lautes Wort gesagt hatte. Aurelia wagte kaum zu atmen, presste ihre Mappe noch fester an sich und hätte sich am liebsten dahinter versteckt. Mit jedem weiteren Schritt fühlte sie sich wie eine Hochstaplerin – vor allem aber: zutiefst einsam. Oft hatte sie gehört, dass Patagonien der einsamste Ort der Welt wäre – aber sie konnte sich nicht erinnern, sich dort jemals so verlassen gefühlt zu haben wie hier. Sie wusste nicht, was genau sie erwartet hatte – in jedem Fall mehr Menschen, junge Menschen, mit Farbresten an den Fingern und in leidenschaftliche Gespräche vertieft. Doch weit und breit war nichts von diesen zu sehen.

Sie blickte sich um, das Licht war trübe. Sie hatte keine Ahnung, wo die Lehrsäle waren, wo die Ausstellungsräume, wo ein Büro – so es denn ein solches überhaupt gab. Als eine Frau die Treppe herunterkam, war sie zwar erleichtert, aber zugleich von deren Erscheinungsbild eingeschüchtert: Sie trug die Haare so streng frisiert wie Victoria und ein ähnlich unförmiges Kleid. Aurelia schien sie gar nicht wahrzunehmen.

»Bitte«, stammelte diese, »Valentina Veliz schickt mich und …«

»Die kenne ich nicht«, unterbrach die andere sie prompt.

»Sie schickt mich, damit ich mit Señor Matías Ponce sprechen kann«, fügte Aurelia hastig hinzu.

Dieser Name war der Frau offenbar bekannt. Sie musterte Aurelia etwas länger und deutete ihr dann schweigend an, mitzukommen. Eine Weile ertönte wieder nichts anderes als das Klappern ihrer Schritte, dann erreichten sie eine Tür, und hinter dieser befand sich ein größerer Raum, der einem Klassenzimmer glich. Zumindest hatte sich Aurelia so immer eine Schule vorgestellt – selbst hatte sie ja nie eine besucht. Überdies roch es nach Farben, nach Harzen und chemischen Substanzen, und als Aurelia eintrat, sah sie manch Farbpalette, Skizzenblock und Staffelei. Ehe sie den Raum jedoch genauer mustern konnte, vernahm sie ein Räuspern. Fast alle Plätze waren verwaist – ausgenommen jener hinter einem großen Schreibtisch in der Nähe der Tür.

Ein Mann saß dort, mit mausgrauem Anzug, Nickelbrille und dickem Schal um den Hals, und eben notierte er etwas in ein Buch. Er glich mehr einem Beamten, der Steuern eintrieb, als einem Künstler, aber offenbar war das Señor Ponce.

Beherzt trat Aurelia auf ihn zu.

»Aurelia Hoffmann«, stellte sie sich vor.

Ihre Stimme klang erstaunlich fest. Das Gebäude schüchterte sie ein, jener wenig freundliche Mann auch – dennoch wuchs plötzlich die Gewissheit in ihr, dass sie zu Recht hier war, dass es keinen geeigneteren Ort für sie gab. Sie wollte wirklich Malerin werden!

»Wollen Sie mir Ihre Bilder zeigen oder nicht?«, gab Ponce grußlos zurück.

»Bitte?«, entfuhr es Aurelia.

»Darum sind Sie doch hier, oder nicht?«, meinte er und deutete auf ihre Mappe. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie sie immer noch mit beiden Händen umklammerte. Matías Ponces mürrisches Gesicht war nicht sehr ermutigend, aber dennoch legte Aurelia die Mappe vor ihm auf den Tisch und sah schweigend zu, wie er sie öffnete, erst die Zeichnungen mit Kohlestift durchblätterte und sich schließlich den Bildern aus Erdfarbe widmete.

Sie hielt den Atem an, während sie auf sein Urteil wartete. Als er es endlich aussprach, öffnete er kaum die Lippen, so dass sie nur Wortfetzen verstand. »Zeichnungen mit Kohlestift … ganz akkurat … Talent zur Beobachtung … aber auf sehr schlechtem Papier … Bilder mit den Erdfarben … originell, aber auch einfach … fast immer das gleiche Motiv … eine einsame Frau inmitten Patagoniens.«

Er hob den Kopf und blickte sie erstmals richtig an. Als er nun den Mund öffnete, kam immerhin ein ganzer Satz heraus: »Es ist nicht schlecht, was Sie da gemalt haben, aber das Motiv ist ziemlich nichtssagend.«

Aurelia verkrampfte ihre Hände ineinander und dachte fiebrig, was ihr Victoria einmal in den letzten Wochen über den deutschen Maler Pablo Burchard, der in Valparaíso lebte, erzählt hatte.

»Pablo Burchard hält auch häufig vermeintlich belanglose Dinge fest«, begann sie schließlich zögernd, »zum Beispiel einsam in der Landschaft stehende Bäume.«

Señor Ponce sah sie nachdenklich an. »Pablo Burchard steht aber auch klar in der Tradition der französischen Impressionisten. Sein Spiel von Farbe, Luft und Licht erinnert an das von Pierre Bonnard.«

Diesen Namen kannte Aurelia nicht, erinnerte sich jedoch, dass auch Tiago von den Impressionisten geredet – und sie mit ihnen verglichen hatte.

»Was genau wollen Sie hier eigentlich?«, fragte Matías Ponce plötzlich.

»Ich würde gerne … besser werden. Mehr lernen … über Farben, über Kunstgeschichte … ich möchte gerne Unterricht haben.«

»Soso, Sie wollen Unterricht haben. Und welche Voraussetzungen bringen Sie dafür mit?«

Fragend blickte sie ihn an und deutete schließlich auf ihre Bilder.

»Nun, Sie müssen schon ein bisschen mehr vorweisen als ein paar nette Landschaftsbilder. Was verstehen Sie von der Kunst? Was können Sie über die großen Maler Chiles sagen? Alberto Valenzuela Llanos, Pedro Lira, Ramón Subercaseaux …«

Sie hoffte, dass er ihre Verzagtheit, die die Frage auslöste, nicht ansah, und suchte händeringend nach ein paar klugen Sätzen, um ihn zu beeindrucken. Doch allzu bald kniff er seine Lippen zusammen.

»Das habe ich mir gedacht«, erklärte er streng, ehe sie auch nur ein Wort hervorbrachte, »Sie wissen so gut wie nichts darüber …«

Er stützte seine Hände auf den Tisch ab, richtete sich dann auf und begann in dem Raum auf und ab zu gehen. »Heute wird oft behauptet, dass es keine allgemeinen Regeln in der Kunst mehr gäbe, dass so viele unterschiedliche Bewegungen konkurrieren, die nichts miteinander gemein haben: ob Impressionismus, Symbolismus, Expressionismus, Kubismus, Fauvismus. Nun, inmitten dieser Vielfalt scheint es oft nicht klar, was man können muss und was nicht, um ein wahrer Künstler zu sein.« Er machte eine lange Pause. »Und dann gibt es noch ein anderes Phänomen – dass Kunst nicht mehr beschränkt bleibt auf die Elite, sondern in sämtliche Lebensbereiche vordringt. Es ist Mode geworden, dass man Lampen, Geschirr, Kleider und Bucheinbände mit bekannten Motiven der Malerei verziert. Im Übrigen könnte das eine Chance für Sie sein.«

Wieder machte er eine Pause und blieb erstmals stehen.

»Wie meinen Sie das?«, fragte sie verwirrt.

»Seien wir doch ehrlich. Die akademische Malerei ist in meinen Augen nichts, wofür Sie bestimmt sind. Was nicht gleich heißt, dass Sie kein Talent haben. Das haben übrigens durchaus viele Frauen. Ich habe etliche gesehen, die meisterhaft kopieren können.«

Ihr schwante langsam, in welche Richtung seine Gedanken gingen. »Kopieren?«, fragte sie entsetzt.

»Ach Gott, diese Modetorheit aus Europa, dass man Frauen zum Studium zulässt! Wie soll denn das gehen? Nun gut, ein paar Kurse können Sie machen. Aber wissen Sie nicht, dass die Aktmalerei, das Studium des Körpers also, ganz wesentlich zur akademischen Ausbildung gehört? Und das kann man einer Frau doch wirklich nicht zumuten! Selbst in Europa verlegen die meisten ihr künstlerisches Talent am Ende lieber aufs Sticken von Taschentüchern.«

Unwillkürlich hatte Aurelia ihre Mappe an sich gezogen und geschlossen, als müsste sie ihre Bilder schützen – und auch sich selbst. Die Scham, weil sie so wenig von Kunst wusste, machte heißem Zorn Platz. Aus jedem Wort Ponces triefte Verachtung, und wenn sie auch nicht sicher war, was genau diese bedingte – tatsächlich ihr Geschlecht, vielleicht aber auch ihre Jugend oder ihr Talent, das er nicht anerkennen wollte –, so war sie trotzdem überzeugt, dass sie diese nicht verdiente!

»Ich kann zeichnen, aber nicht sticken«, brach es wütend aus ihr heraus.

»Meinetwegen!«, meinte Ponce müde. »Versuchen Sie es doch bei einer dieser illustrierten Zeitschriften – dort wird immer jemand gesucht, der Kunst reproduziert und ins gutbürgerliche Wohnzimmer bringt. Vielleicht findet dort jemand Gefallen an Ihrer … Landschaftsmalerei.«

Aurelia presste ihre Mappe noch fester an sich. »Das heißt, es ist ausgeschlossen, dass mir jemand hier Unterricht erteilt?«

Señor Ponce seufzte, als hätte er schon zu viel Zeit an ihr verschwendet. »In Europa mag der Kunstbetrieb ganz sonderliche Wege beschreiten, hier aber bewegen wir uns in traditionelleren Bahnen. Bevor auch nur daran zu denken ist, dass Sie Schülerin an der Escuela werden, müssten sie unendlich viel nachholen – in der Geometrie, der Ästhetik, Kunstgeschichte.«

»Und bis dahin«, wiederholte sie, und der gerechte Zorn schwand, als sie begriff, dass sie gescheitert war, »bis dahin ist es undenkbar, hier Unterricht zu bekommen.«

Ponce setzte sich wieder hinter den Schreibtisch und hob entschuldigend die Hände. »Ich fürchte, so ist es«, erklärte er knapp.

Aurelia blieb wie erstarrt stehen. Sie wusste, dass ihr nichts anderes übrigblieb, als zu gehen, aber noch konnte sie sich nicht dazu überwinden.

Matías Ponce blickte hoch, nicht länger bedauernd, sondern ungeduldig. »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«, fragte er.

Aurelia rieb ihre Lippen aufeinander.

»Ich denke, ich kann etwas für die Niña tun«, ertönte plötzlich eine Stimme von der Tür her. »Denn ich für meinen Teil würde ihr nur allzu gerne Malunterricht geben.«


Victoria trat von einem Bein auf das andere. Heute Morgen war sie noch voller Vorfreude auf ihren Dienst ins Krankenhaus aufgebrochen, aber nun war es noch nicht einmal Mittagszeit, und sie begann sich zu langweilen. Sie wollte die Krankensäle sehen, die Operationsräume, wollte sich um Patienten kümmern! Stattdessen hatte sich eine ältere Frau vor den neuen Lernschwestern aufgebaut und einen langen Vortrag begonnen, der kein Ende nahm. Schwester Adela, so ihr Name, hatte wie viele andere Krankenschwestern ihre Ausbildung in Deutschland erfahren. In Chile gebe es einen Mangel an qualifiziertem Pflegepersonal – eine ihrer Aufgaben sei es, Abhilfe zu schaffen, indem sie das Niveau der hiesigen Ausbildung jener anpasste, die sie selbst genossen hatte. Ob sie Deutsche war oder nur einige Jahre dort gelebt hatte, wusste Victoria nicht. In jedem Fall sprach sie mit jenem leichten Akzent, den Victoria von ihrer Mutter kannte.

Davon abgesehen hatte Schwester Adela leider nichts mit Emilia Hoffmann gemein. Letztere hatte in alles, was sie tat, viel Leidenschaft gelegt – ob es nun um die Apotheke ihres Mannes ging, die eigenen Geschäfte in Patagonien, ihre Wohltätigkeit oder ihren Kampf für die Rechte der Frauen.

Schwester Adela jedoch vermittelte den Eindruck, als würde sie mitten in ihrer Rede einschlafen. Und das, was sie sagte, hatte mit Leidenschaft nichts zu tun. In ihren Augen hatte eine Krankenschwester eine solche nämlich nicht einzubringen, stattdessen die Bereitschaft für ein Leben voller Demut und Dulden.

Sie zählte noch viele andere erforderliche Tugenden auf, und auch wenn Victoria nicht genau zuhörte, so ahnte sie doch, dass dies auf eines hinauslief: die künftigen Krankenschwestern darauf abzurichten, nie aufzumucken, keine eigenen Entscheidungen zu treffen und nie die Strukturen zu hinterfragen.

Das fängt ja gut an!, ging es ihr durch den Kopf.

»Eine Krankenschwester muss mit wenig Schlaf auskommen«, trug Schwester Adela eben vor, »sie muss früh aufstehen, und sie hat keine Zeit, auf sich selbst zu achten, will sagen: keine Zeit, der Eitelkeit zu frönen. Sorge zu tragen, dass sie stets sauber ist, hat sie natürlich schon.«

Victoria unterdrückte ein Gähnen.

»Dies sind nun die ersten Aufgaben des Tages: Jeder Kranke muss mit Wasser und Seife gereinigt werden. Dabei sind ein eigenes Handtuch zu verwenden und ein eigener Waschlappen. Anschließend werden die Haare gekämmt, wird der Mund ausgewaschen, werden die Zähne geputzt und hinterher mit Gurgelwasser gespült. Falls der Kranke unfähig ist, dabei mitzuwirken, muss die Pflegerin ein in das Mundwasser getauchtes Gazeläppchen um ihren Finger wickeln und den Mund reinigen. Nach einmaligem Gebrauch ist dieses Läppchen sofort zu verbrennen. Und wenn der Kranke nicht einmal seinen Mund öffnen kann, so muss man ein keilförmiges Holzstück zwischen seine Zähne schieben. Anschließend werden die Fingernägel gestutzt und bei den Männern die Bärte gebürstet.«

Victoria unterdrückte erneut ein Gähnen. Um wie viel hilfreicher wäre es, Schwester Adela würde all dies an einem konkreten Patienten vorführen, anstatt nur darüber zu sprechen!

»Nach der Morgenwäsche erfolgt die Visite des Arztes, dem über sämtliche Vorkommnisse berichtet werden muss. Selbstverständlich können Krankenschwestern keine eigene Diagnose stellen, durchaus aber Fieber messen und diverse andere Dinge kontrollieren: ob der Kranke Schmerzen hat, in welchem Zustand sich seine Verdauung befindet, wie lange er geschlafen hat, ob es vielleicht zu Nasenbluten gekommen ist. Alles Auffällige ist zu notieren und zu berichten – der Arzt wird dann entscheiden, ob es etwas mit dem jeweiligen Krankheitsbild zu tun hat oder nicht.«

Lieber Himmel!, dachte Victoria. Sich eigene Gedanken zu machen scheint wohl verboten zu sein!

Sie wandte sich von Schwester Adela ab und ließ ihren Blick über die anderen jungen Frauen schweifen, die mit ihr gemeinsam die Ausbildung zur Krankenschwester begannen. Sie alle standen so steif da, als hätten sie einen Stock verschluckt, und blickten Schwester Adela ehrfürchtig an. Keine von ihnen schien sich zu langweilen oder aufrührerische Gedanken zu hegen. Vielleicht war die eine oder andere Tochter deutscher Auswanderer, die häufig im Gesundheitswesen arbeiteten – aber Victoria ahnte, dass die gemeinsame Herkunft keine Nähe schaffen würde. Die Chileninnen wiederum stammten wohl allesamt aus der Mittelschicht, deren Berufe zwar anerkannter waren als die der Arbeiter, aber die zu wenig Geld einbrachten, um auf den Zuverdienst der Töchter – zumindest bis sie heirateten – zu verzichten. Wurden sie nicht Krankenschwestern, blieben wenige andere Betätigungsfelder: Sie konnten Sekretärin werden, Grundschullehrerin oder Telefonistin.

Plötzlich nahm Victoria aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Während fast alle Lernschwestern fromm wie Schafe glotzten, grinste eine, die sich an die Wand gleich neben der Tür gelehnt hatte, Victoria unverhohlen an. In ihren Augen lag ein Funkeln.

Victoria senkte den Blick, sah dann wieder zu jener Frau. Sie glaubte, den gleichen Überdruss, den sie selbst spürte, in ihrer Miene zu lesen – und außerdem kam ihr die Frau irgendwie bekannt vor. Sie musste sie schon einmal gesehen haben, wenn ihr auch nicht mehr einfiel, wann und wo.

Ehe sie auf die junge Frau zutreten und fragen konnte, wer sie war, hörte sie, wie ihr eigener Name gerufen wurde. Schwester Adelas Blick ruhte auf ihr, und nicht länger schien dieser gleichgültig, sondern irgendwie … triumphierend.

»Schwester Victoria, können Sie meine letzten Worte wiederholen?«

Victoria unterdrückte ein Seufzen. Obwohl sie ihr Urteil über Adela schnell gefällt hatte, wollte sie im Gegenzug nicht gleich am ersten Tag unangenehm auffallen.

»Es ging um die wichtigsten Aufgaben von uns Krankenschwestern«, setzte sie zögerlich an. Sie hatte zwar nicht gehört, was Adela sagte, vermutete jedoch, dass es um die Pflichten ging, die nach der Morgenwäsche folgten. »Die Kranken müssen massiert werden«, riet sie wahllos, »die Verbände ausgewechselt oder neue angelegt sowie Medizin dargereicht werden.«

Sie geriet ins Stammeln. Schwester Adela kniff ihre Augen zusammen. »Und was sind die wichtigsten Fähigkeiten einer Krankenschwester?«

Victoria zuckte die Schultern. Wach und wissbegierig zu sein, hätte sie am liebsten gesagt, aber sie vermutete, dass Schwester Adela andere Ansichten hatte. Sie brachte kein Wort heraus und fühlte mit einem Mal viele hämische Blicke auf sich gerichtet. In Victorias Augen blitzte es, als sie diese erwiderte. Woher nahmen sich diese dummen Hühner das Recht, sie so herablassend anzusehen, nur weil sie einen Augenblick lang nicht aufgepasst hatte! Sie wusste mehr als sie vom Leben und wahrscheinlich noch viel mehr von der Medizin!

Einzig die junge Frau, die sie vorhin angegrinst hatte, blickte nicht hämisch. Auf leisen Sohlen schlich sie zu ihr und raunte ihr etwas zu. Victoria verstand es nicht. »Beobachtungsgabe und gutes Gedächtnis«, wiederholte die andere etwas lauter.

»Das habe ich gesehen, Schwester Rebeca!«, schaltete sich Schwester Adele mit schriller Stimme ein. Ihr vorwurfsvoller Blick glitt von Victoria zu der anderen, doch die schien über die Maßregelung nicht sonderlich betroffen. Erst jetzt sah Victoria, dass ihre Augen grün schimmerten. Sie waren lang und schmal, fast ein wenig wie die einer Katze, und es funkelte erneut darin auf. Anstatt demütig den Blick zu senken, lächelte sie, als würde der Tadel sie amüsieren, und Victoria konnte nicht anders, als dieses Lächeln zu erwidern.

»Was gibt es da zu lachen, meine Damen! Wenn Sie Ihre Arbeit nicht ernst nehmen, dann …«

Ehe sie sich vollends in Rage redete, brach Schwester Adela unvermittelt ab, denn in diesem Moment betrat ein weiß gekleideter Mann den Raum, begleitet von vier weiteren, die wie Lakaien hinter ihm herschlichen. Adela trat hastig zurück, und die anderen Schwestern senkten prompt ehrfurchtsvoll den Blick.

Als ob sie gleich auf die Knie sinken wollen wie vor einem König!, schoss es Victoria durch den Kopf. In Wahrheit war der Weißgekleidete gewiss nur ein Arzt.

Dieser richtete weder an die neuen Schwestern noch an Adela einen Gruß, sondern wartete, dass Letztere sein Schweigen dienstbeflissen übersetzte.

»Morgendliche Visite!«, verkündete sie. »Wir folgen jetzt Doktor Ramiro Espinoza!«

Victoria musterte den Arzt. Ihr Vater hatte als Apotheker viel mit Medizinern zu tun gehabt, und einige waren bei ihnen zu Hause ein und aus gegangen. Victoria hatte gelernt, dass es ganz unterschiedliche Ärzte gab, Philanthropen, die sich für das Wohl ihrer Patienten aufopferten, rationale Praktiker, die zwar in ihrem Beruf gut waren, aber mit ähnlich viel Leidenschaft ans Werk gingen wie ein Metzger bei der Schlachtung, und schließlich jene eingebildeten und arroganten, die sich als Herren über Leben und Tod aufspielten.

Ein kurzer Blick auf Doktor Ramiro Espinoza genügte Victoria, um ihn der dritten Kategorie zuzuordnen.

Dennoch war sie froh, dass sein Erscheinen Adelas Vortrag beendet hatte und sie nun endlich einen der Krankensäle betreten würden.

»Tut, was Doktor Espinoza euch sagt, und fallt nicht unangenehm auf«, zischte Adela den jungen Frauen auf dem Weg dorthin zu. Den Namen des Arztes sprach sie aus wie den einer Gottheit.

Die ersten Krankensäle, an denen sie vorbeikamen, waren groß, erfreulich hell und schienen auch ziemlich sauber, dennoch erkannte Victoria, dass sie allesamt überbelegt waren, sich Pritsche an Pritsche reihte, so dass kaum ein Durchkommen war und hier gewiss nicht die Regel eingehalten wurde, wonach eine Schwester für maximal zehn Patienten zuständig war. Entsetzt war sie, als sie danach die Kinderstation passierten, einen viel kleineren Raum mit winzigen Fenstern, durch die kaum Licht oder gar ausreichend frische Luft hereinkam. Die Pritschen hier waren noch schmaler und die Kinder, die darauf lagen, in einem erbärmlichen Zustand.

Rachitis, stellte sie mit Blick auf eines der Kinder fest, gewiss leidet es an Rachitis. Die Beine des Einjährigen waren angeschwollen, das Gesicht verschwitzt, aus dem Mund troff Blut.

Wie gerne hätte sie sich um dieses Kind gekümmert, doch der Doktor ging achtlos weiter, und sie musste ihm folgen.

Auf die Kinderstation folgte die Säuglingsstation, die in fast noch katastrophalerem Zustand war. Es gab nur ein einziges Fenster, das zudem völlig verdreckt war, und lediglich eine einzige Schwester tat hier ihren Dienst, noch dazu eine uralte. Victoria konnte es kaum fassen, als sie sah, wie sie einem Säugling mit dessen beschmutzter Windel die Nase putzte.

Sie erwartete, dass Doktor Espinoza dies ebenfalls bemerken und eingreifen würde, doch er durchquerte zügig auch diesen Raum, und ihm folgten erst die anderen Ärzte und dann die Schwestern, allesamt mit geduckten Köpfen, als wären sie nicht in einem Krankenhaus, sondern beim Militär.

»Was für Zustände!«, stieß Victoria aus.

»Es sind eben nur die Kinder der Arbeiter«, ertönte eine Stimme neben ihr. Erst jetzt bemerkte sie, dass die junge Frau mit den grünen Augen und dem spöttischen Lächeln, die offenbar Rebeca hieß, unmittelbar neben ihr ging. »Und die sind keine Mitglieder bei einem der vielen Gesundheitsvereine.«

»Welchen Vereinen?«

»Privatleute schließen sich zusammen und zahlen regelmäßig Beiträge – und im Krankheitsfall kommt der Verein für die Kosten auf. Aber diese Beiträge können sich viele nicht leisten, und weil man weiß, dass sie am Ende nicht für ihr Bett und ihre Behandlung zahlen können, kümmert man sich kaum um diese Patienten.«

In den grünen Augen blitzte nicht länger nur Spott, sondern Hass auf. Als Victoria sie anstarrte, bemerkte sie noch etwas anderes, was sie verwirrte: Unter der weißen Schwesternhaube trug Rebeca die Haare kurz geschnitten – etwas, was Victoria noch nie gesehen hatte. Sie hatte zwar davon gehört, dass moderne Frauen in Europa die Haare ähnlich kurz wie Männer trugen, aber dass es auch Frauen in Chile gab, die das wagten, war ihr unbekannt.

Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch da traf sie schon Schwester Adelas strenge Stimme: »Wollt ihr wohl endlich aufhören zu tuscheln?«

Rasch folgten sie Doktor Espinoza in den größten Krankensaal. Dieser war reinlich, die Betten waren frisch bezogen, und in der Luft lag der durchdringende Geruch nach Phenol, einem Desinfektionsmittel.

»Diese Patienten können es sich leisten, krank zu sein«, murmelte Rebeca, die Adelas Maßregelung überging. »Und deswegen werden sie auch bestens betreut.«

Doktor Espinoza war zum Bett einer Frau getreten, deren Beine hochgelegt waren. Er nickte einem der jungen Mediziner zu, der mit ernsthaftem Gesicht ihren Puls fühlte, während Schwester Adela die beiden ansah, als feierten sie Gottesdienst.

»Was für ein lächerliches Getue!«, sprach Rebeca aus, was Victoria insgeheim dachte. »Wenn man nur gleiche Sorge auf die Kinder verwenden würde, die an Rattenbissen sterben, weil ihre Eltern zu betrunken sind, um sie davor zu bewahren!«

»Kaum zu glauben«, zischte Victoria nicht minder erbost. Sie wollte etwas hinzufügen, als sie plötzlich spürte, wie abermals alle sie anstarrten. Zum zweiten Mal an diesem Morgen war sie unachtsam gewesen, und nachdem sie erst Schwester Adelas Missfallen geweckt hatte, waren nun Doktor Ramiro Espinozas Augen nicht weniger abfällig auf sie gerichtet. »Also können Sie meine Frage beantworten? Da Sie so eifrig tuscheln, scheint es Sie nicht weiter zu interessieren, was ich hier treibe.«

Victoria wusste nicht, ob sie zugeben sollte, dass sie seine Frage gar nicht erst gehört hatte, oder lieber bekennen, dass sie die Antwort nicht wusste.

Sie hielt schweigend seinem Blick stand, während eine andere Lernschwester nach vorne trat und eifrig erklärte: »Die Beine der Patientin sind hochgelagert, um die Gefahr einer Thrombose zu minimieren.«

Das also hatte er wissen wollen. Doktor Espinoza nickte zufrieden, während die andere Schwester Victoria ein schadenfrohes Lächeln zuwarf.

»Als wäre es eine Leistung, eine andere auszustechen«, murrte sie leise in Rebecas Richtung, »dabei sollten wir Schwestern zusammenhalten.«

»Haben Sie vielleicht noch etwas beizusteuern?«, fragte Ramiro Espinoza süffisant und ging auf das nächste Bett zu. »Oder vielleicht können Sie mir etwas zu unserer nächsten Patientin sagen. Bei dieser Frau wurde eine Exstirpation des Kropfes vorgenommen. Bis vor kurzem war es üblich, bei dieser Operation die gesamte Schilddrüse zu entfernen, um Rezidiven vorzubeugen. Allerdings haben die meisten der Patienten anschließend schwerwiegende Mangelerscheinungen entwickelt – was zum Schluss führt, dass die Schilddrüse doch nicht unverzichtbar ist. Wissen Sie, warum?«

Er sah sie triumphierend an und war überzeugt, sie erneut bloßstellen zu können. Doch Victoria straffte ihre Schultern, reckte stolz das Kinn und antwortete, ohne nachzudenken: »Die schädlichen Folgen einer Totalexstirpation der Schilddrüse haben bewiesen, dass diese offenbar die Funktion hat, eine bestimmte Substanz im Körper herzustellen, die wiederum für die Gesundheit des Patienten unerlässlich ist.«

Rebeca kicherte verstohlen, die Ärzte und die anderen Schwestern blickten sie nahezu verdattert an.

»Um welche Substanz es sich genau handelt, ist bis jetzt nicht erwiesen«, fuhr Victoria selbstbewusst fort. »In jedem Fall hat der Physiologe Moritz Schiff durch Übertragung von Schilddrüsengewebe erreicht, dass man bei den betroffenen Patienten die Mangelerscheinungen beheben konnte.« Sie machte eine kurze Pause. »Moritz Schiff gehört zu den sehr experimentierfreudigen Medizinern. Er hat Selbstversuche nie gescheut. So ist es bekannt, dass er sich den Extrakt von Hundehoden injiziert hatte und dadurch gesteigerte sexuelle Kräfte verspürt hat.«

Victoria hörte Rebeca wieder neben sich auflachen. Einige der Schwestern waren rot angelaufen, die Ärzte raunten empört.

Doktor Espinoza fasste sich als Erster wieder, trat auf sie zu und musterte sie von oben bis unten. »Ihr Name!«, befahl er kühl.

»Victoria … Victoria Hoffmann.«

»Etwa eine Deutschchilenin?«

»So ist es.«

Er grinste schmal. Victoria deutete es keinen Augenblick lang als Zeichen der Anerkennung. Sie ahnte, dass sie sich gerade einen Feind gemacht hatte – wegen ihrer Dreistigkeit … und wohl auch wegen ihrer Herkunft, wenngleich sie nicht wusste, was Doktor Espinoza daran störte. Nun, für ihre Herkunft konnte sie nichts, und ihr Selbstbewusstsein würde sie ganz sicher nicht ablegen. Sie starrte ihm offen ins Gesicht und erwiderte sein falsches Lächeln.

Im Schatten des Feuerbaums: Roman
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