15. Kapitel

Als die Droschke vor dem Haus vorfuhr, wandte sich Valentina streng an Victoria: »Du tust gut daran, ein etwas freundlicheres Gesicht aufzusetzen, Mädchen. Ich habe mich aufgerafft, unter Menschen zu gehen – da wirst du dich endlich überwinden können, dich mit Aurelia auszusöhnen.«

Valentina betonte oft und gerne, dass sie die Menschen nicht besonders mochte, sie vorzugsweise mied und gern zurückgezogen lebte. Allerdings sah es gar nicht danach aus, dass sie ein Opfer brachte, als sie aus der Droschke stieg – im Gegenteil: Sie nahm das Haus der Familie Brown y Alvarados sehr neugierig und anerkennend in Augenschein. Auch Pepe, den Valentina aufgefordert hatte, mitzukommen, weil er sonst zu eigenbrötlerisch würde, konnte seine Neugierde nicht verbergen. Nur Victoria hielt ihren Blick starr auf den Boden gerichtet.

Nun gut, ihr lag selbst daran, sich mit Aurelia auszusöhnen, doch William Brown stand für alles, was sie verachtete: zügellosen Kapitalismus, die Ausbeutung der Arbeiter, verlogene Wohltätigkeitsbasare und die Knechtung der Frauen, die man in Korsetts zwängte.

Es war eine große Überwindung, das Haus zu betreten, und sie hegte insgeheim die Hoffnung, dass man sie abweisen würde. Zwar mochte Valentina Veliz nicht zu den gente decente gehören, aber immerhin war sie die Witwe eines Mannes, der es in der Armee zu hohem Ansehen gebracht hatte.

Zunächst mussten sie eine Weile in der großen Halle warten, dann wurden sie eine breite Treppe hochgeleitet. Victoria hielt den Blick immer noch stur auf den Boden gerichtet und hob ihn erst, als sie Aurelias begeisterten Aufschrei hörte.

»Valentina!«, rief sie. »Und Victoria! Und Pepe!«

Eine ganze Heerschar an Dienstmädchen huschte um sie herum, und ihr schmaler Leib war von Unmengen hellem Stoff bedeckt, an dem viele Hände gleichzeitig herumzupften. Anscheinend hatten sie sie in dem Augenblick angetroffen, da ihr Hochzeitskleid angepasst werden sollte, und Victoria sah gleich wieder weg, um nicht den feinen Stoff betrachten zu müssen, weißer Satin offenbar, mit Spitze umkränzt und Perlen bestickt.

Aurelia gab den Mädchen ein Zeichen, sie eine Weile allein zu lassen, legte das Kleid ab und schlüpfte hastig in einen Morgenmantel, während nun auch Pepe, wie Victoria aus den Augenwinkeln erkannte, schamvoll auf den Boden blickte.

»Hübsch siehst du aus!«, rief Valentina als Einzige ganz ohne Scheu.

»Ach, wir haben vorhin ausprobiert, welche Frisur ich tragen soll. Wir sind aber immer noch zu keiner Entscheidung gekommen, ob ich nun wächserne Orangenblüten ins Haar gesteckt bekomme oder einen Kranz aus Blumen und Aigretten – du weißt schon, das sind Ähren aus Silber.«

Victoria knirschte mit den Zähnen, und prompt traf sie Valentinas mahnender Blick. Wieder und wieder hatte sie sie in den letzten Tagen beschworen, dass die Frauen zusammenhalten müssten, egal, ob reich oder arm, Mittel- oder Oberschicht, konservativ oder sozialistisch.

Sie riss sich zusammen und wollte sich eben überwinden, Aurelia zu begrüßen, als diese schon auf sie zugelaufen kam. »Ich bin so froh, dass du da bist«, rief sie und fiel ihr um den Hals, ganz selbstverständlich und inniglich, als hätte es nie Streit gegeben.

Victorias Körper versteifte sich zunächst, aber dann erwiderte sie die Umarmung, insgeheim viel erleichterter, als sie jemals zugegeben hätte. Als sie sich von ihr löste, betrachtete sie Aurelia eingehender. Der Morgenmantel war in einem hellen Roséton gehalten, ließ sie blass und so dünn und zerbrechlich wirken, als wäre sie aus Porzellan. Aber vielleicht, dachte Victoria bitter, kleideten sich die Frauen der Oberschicht mit Absicht auf diese Weise, auf dass nur ja niemand den Verdacht hegen könnte, es stecke zu viel Lebendigkeit in ihnen, die man ihnen noch nicht ausgetrieben hatte.

Immerhin, als Aurelia fragte, was sie ihnen anbieten könne – Tee, Likör, Kekse –, klang ihre Stimme nicht leise und verzagt, sondern durchaus selbstbewusst.

Victoria lag es auf den Lippen, alles abzulehnen, Pepe jedoch blickte auf und rief begeistert: »Also, ich würde von allem etwas nehmen!«

»Dann wird euch eines der Mädchen in den Salon führen, und ich ziehe mich inzwischen an.«

Das Kleid, mit dem sie wenig später den Salon im Erdgeschoss betrat, machte sie so blass wie der Morgenmantel, auch wenn es nicht roséfarben, sondern hellblau war. Noch bestürzender war für Victoria, dass sie ein eng geschnürtes Mieder trug, bei dessen Anblick es ihr gleich selbst schwerfiel, frei zu atmen.

Valentina dagegen beäugte sie durchaus anerkennend. »Für welchen Tag ist sie denn nun angesetzt, eure Hochzeit?«, fragte sie.

Aurelia seufzte. »Schon in einer Woche, ich weiß gar nicht, wie wir das schaffen sollen. Es gibt noch so viel vorzubereiten. Stellt euch vor, es werden dreihundert Gäste erwartet. Am Tag vor der kirchlichen Trauung ist ein Empfang geplant, und die Hochzeitsfeierlichkeiten selbst werden ganze drei Tage dauern.«

Drei Tage, an denen Aurelia wahrscheinlich fortwährend ein Mieder tragen musste, dachte Victoria erschaudernd.

Sie verkniff sich jedoch eine entsprechende Bemerkung und fragte stattdessen: »Und wann kommen deine Eltern in Santiago an?«

Auch wenn ihr davor graute, bei dieser Hochzeit dabei zu sein – sie freute sich sehr auf den Anlass, Rita und Balthasar zu treffen. Sie hatte sie zwar nur wenige Male gesehen, aber es waren enge Vertraute ihrer Eltern, mit denen sie über Emilia und Arthur reden konnte.

Doch Aurelia senkte ihren Blick und schüttelte den Kopf. »Sie kommen leider nicht«, brachte sie zögernd hervor.

Victoria blickte sie erstaunt an. Eine Ahnung stieg in ihr hoch – auch wenn sie dieser noch nicht nachgeben wollte. »Du bist ihre einzige Tochter!«, wandte sie ein.

Aurelia hielt ihren Blick weiterhin gesenkt. »Die Strecke ist doch sehr weit.«

»Na und? Auch meine Eltern sind oft nach Patagonien gereist und wieder zurück!«

Aurelia schluckte, und Victoria entging nicht, dass ihr Gesicht glühend rot anlief. »Das darf doch nicht wahr sein!«, schrie sie. Beschwichtigend legte ihr Valentina die Hand auf die Schulter, aber Victoria schüttelte sie ab. »Sie kommen nicht, weil du sie gar nicht eingeladen hast, nicht wahr? Sie wissen nicht, dass du nun auch kirchlich heiratest! Du wirst es ihnen erst hinterher schreiben.«

Ihre Stimme schwoll an – und obwohl Aurelia flehentlich den Blick hob, brachte sie keinen Einwand hervor.

»Nicht so laut!«, warf Valentina begütigend ein. »Wir wollen uns alle ein wenig beruhigen.«

Pepe aß nervös einen Keks nach dem anderen und kam kaum mit dem Schlucken nach.

Victoria ließ sich jedoch nicht besänftigen, sondern sprang auf. »Ich fasse es nicht! Ich fasse es einfach nicht!«

Aurelia rieb ihre Hände aneinander und wagte schließlich doch, den Kopf zu heben. »Es ist meine Entscheidung«, erklärte sie trotzig. »Und ich weiß, dass meine Eltern es verstehen werden.«

»Was? Dass du sie verleugnest? Dass du dich für sie schämst? So ist es doch! Du willst nicht, dass die Hochzeitsgäste erfahren, dass du die Tochter patagonischer Schafzüchter bist.«

Auch Aurelia war nun aufgesprungen. »Du verstehst das nicht!«

»Natürlich verstehe ich es! Nicht nur ihre Armut ist dir peinlich! Du befürchtest auch, dass man deiner Mutter auf den ersten Blick ansehen könnte, dass sie von einem Mapuche abstammt.«

Aurelia blickte sich hektisch um. Pure, nackte Angst stand in ihrem Blick. »Nicht so laut! Um Himmels willen!«

»Oh, es darf niemand hören! Warum eigentlich nicht? Warum schämst du dich dafür? Sämtliche Chilenen müssten sich schämen für die Art und Weise, wie sie den Mapuche ihr Land gestohlen, sie fast ausgerottet und die wenigen Überlebenden eingesperrt haben. Und deine Eltern verdienen ihr Brot mit ehrlicher Arbeit, nicht mit Aktienspekulation und Ausbeutung wie dein werter Schwiegervater. Vor allem aber lieben sie dich und wollen dein Bestes. Sie zwängen dich nicht in ein Mieder!«

Aurelia schüttelte den Kopf: »Ich tue das alles doch nicht für mich, sondern für Tiago. Natürlich schäme ich mich meiner Eltern nicht. Aber wenn die Leute sie sehen … sie könnten reden … und Tiago hat es schwer genug …«

»Du glaubst, du machst das Ganze besser, wenn du es für … ihn machst?«, rief Victoria ungläubig.

Auch Valentina hatte sich erhoben. »Mädchen, nun hört doch endlich auf, euch zu streiten.«

Pepe kaute hektisch.

»Wie?«, rief Victoria zornig. »Ich soll mir das alles anhören und auch noch gutheißen?«

Aurelia wich erst beschämt zurück, ballte dann aber doch entschlossen die Hände und funkelte sie an. »Du hast keine Ahnung«, brach es aus ihr heraus. »Was willst du überhaupt! Balthasar ist nicht mal mein richtiger Vater, sondern nur mein Stiefvater.«

»Aber du hast immer erzählt, dass er dich liebt wie eine Tochter!«

»Gewiss. Aber das ändert nichts daran, dass ich das Kind eines Nichtsnutzes und Verbrechers bin, der mich aus lauter Bösartigkeit und Geldgier entführt hat und den meine eigene Mutter erschossen hat.« Ihre Stimme wurde immer lauter und schriller. Offenbar verschwendete sie keinen Gedanken mehr daran, dass man sie hören konnte. »Aber all das spielt in meinem neuen Leben keine Rolle mehr! Es darf keine Rolle mehr spielen! Ich will nicht, dass irgendjemand davon erfährt.«

Victoria starrte sie an und fühlte plötzlich keine Wut mehr, nur Enttäuschung – und Resignation. »Wer man ist, kann man nicht einfach ablegen wie alte Kleidung«, sagte sie eisig. »Darf ich fragen, ob wenigstens dein Maltalent noch eine Rolle spielt?«

Aurelia wandte sich ab. »Tiago … er wird nicht länger die Escuela de Bellas Artes besuchen. Er wird Jura studieren …«

»Ich habe nicht nach Tiago gefragt, sondern nach dir.«

»Nun, da er dieses Opfer bringt, werde ich es natürlich auch tun. Ich werde die Malerei aufgeben. Sie … sie hat mir zwar immer viel Freude bereitet, aber ich werde künftig so viele andere Pflichten haben. Und ich möchte Tiago nicht an sein altes Leben erinnern.«

Wütend ging Victoria auf und ab; sie rammte die Fersen in den Boden. Kurz war der dumpfe Laut, der dabei ertönte, das einzige Geräusch. Valentina rief sie nicht wieder zur Räson, sondern schüttelte selbst missbilligend den Kopf. Pepe hatte sich an einem Keks verschluckt und unterdrückte ein Husten.

»So ist es also«, murmelte Victoria schließlich düster, ohne noch länger ihren Blick zu suchen. »Du verleugnest nicht nur deine Familie, sondern alles, was du bist und was dich ausmacht. Du wirfst dein Talent weg – und das nur für einen Mann!«

»Herrgott, ich liebe ihn!«

»Man liebt immer nur als der, der man ist. Wenn man sich selbst verrät – wer bleibt dann übrig, der lieben könnte?«

Aurelia ging an ihr vorbei, setzte sich wieder an den Tisch und schenkte Tee nach. »Es ist meine Entscheidung«, wiederholte sie ihre vorherigen Worte. »Nur meine. Tiago hat es nicht von mir verlangt – ich habe es aus freien Stücken so beschlossen.«

Ehe Victoria etwas entgegnen konnte, klopfte es an der Tür, und eine Frau trat ein – dunkel gekleidet wie Valentina, aber viel schlanker und hoheitsvoller. Sie trug die schwarzen Haare zu einem kunstvollen Knoten aufgetürmt, und die Taille – wie Aurelia war sie in ein Mieder geschnürt – war schmal wie die eines jungen Mädchens. Nur das Gesicht wirkte alles andere als jung. Nicht dass sie viele Falten gehabt hätte – dazu hatte sie in ihrem Leben zu wenig gelacht. Doch die Augen glichen der einer Greisin, die sich von der Welt nichts mehr erwartet.

Das musste Alicia Alvarados sein – Aurelias Schwiegermutter. Victoria versetzte es einen schmerzhaften Stich, als sie sah, dass Aurelia zusammenzuckte und in ihrem Blick Angst stand – Angst, dass Alicia etwas von ihrer Unterhaltung gehört hatte, oder Angst, dass Victoria etwas Falsches sagen würde.

Ersteres war wohl nicht der Fall, denn Alicia grüßte sie alle mit einem höflichen Nicken. Und Victoria hatte Zweiteres nicht im Sinn.

Niemand soll glauben, dass ich mich nicht benehmen kann, dachte sie stolz.

Sie vollführte einen Knicks, senkte bescheiden den Blick und begrüßte mit ehrfurchtsvoller Stimme Doña Alicia.

Alle sahen sie verwundert an, aber da fuhr sie schon fort: »Leider müssen wir jetzt gehen. Und leider können wir nicht Gast bei Aurelias Hochzeit sein.«

Sie dachte daran, dass Rebeca sich von Aurelia Geld erhoffte, entschied aber, ihr lieber mehr vom eigenen Erbe zu geben. Sie würde Aurelia für lange Zeit nicht wiedersehen.

Valentina brachte keinen Einwand hervor, sondern erhob sich. Pepe tat es ihr gleich, schob aber schnell noch einen Keks in den Mund, so dass es aussah, als würden seine Backen gleich platzen. Aurelia wiederum sah kurz so verzweifelt aus, als würde sie im nächsten Augenblick zu weinen beginnen. Aber dann erhob sie sich, um genauso ehrfurchtsvoll und steif wie Alicia Alvarados Victoria Lebewohl zu sagen.


Die Heimfahrt verlief schweigend. Valentina machte mehrmals Anstalten, etwas zu sagen, aber Victoria setzte ein so abweisendes Gesicht auf, dass sie stumm blieb. Pepe kaute verwirrt an seinen letzten Keksen. Der Streit setzte ihm sichtlich zu, aber zugleich schien er es zu genießen, dass seine Mutter von etwas verstört war, was nichts mit ihm zu tun und was er nicht verschuldet hatte.

Als sie ankamen, betrat Victoria das Haus der Veliz’ gar nicht erst. Unerträglich war der Gedanke, jetzt in ihrem Zimmer allein zu sein. Im Laufschritt machte sie sich auf den Weg zu den Carrizos. Wenn sie ehrlich war, hatte sie sich dort selten wohl gefühlt: Immer waren da zu viele Menschen, immer ein zu großes Chaos, immer lag dichter Rauch von Zigaretten in der Luft. Und was sie am meisten quälte, war, dass Jiacinto sie nicht beachtete. Doch heute war ihr das alles egal, heute wollte sie, dass Rebeca laut über Aurelias Verhalten herzog, über sie lachte und spottete und Victoria das Gefühl gab, sie könne gerne auf diese unwürdige Freundin verzichten, sie hatte ja eine andere, viel bessere, nämlich sie, Rebeca.

Doch als sie dort ankam, war Rebeca nicht da. Juan hatte ihr geöffnet und schien allein zu sein. Wie immer war er adrett gekleidet und musterte das übliche Chaos in der Wohnung mit sichtlicher Missbilligung. Doch obwohl es ihn anwiderte, räumte er niemals auf.

»Komm rein«, sagte er zu Victoria, sonst nichts.

Sie wusste nicht recht, was sie nun tun sollte, und da sie nicht nutzlos mitten im Raum stehen bleiben wollte, begann sie, die Aschenbecher zu entleeren. Ein Lächeln huschte über Juans Gesicht, Zeichen von Zustimmung, gar Dankbarkeit, doch laut sagte er: »Das musst du nicht tun.«

Victoria war froh, sich mit irgendetwas beschäftigen zu können, das sie von Aurelia ablenkte, und setzte ihre Arbeit ungerührt fort. Nachdem sie die Aschenbecher gereinigt hatte, bückte sie sich, um Unrat vom Boden aufzusammeln.

»Jiacinto und Rebeca mag es nichts ausmachen, aber du lebst nicht gern in diesem Chaos«, stellte sie fest.

»Wohl wahr«, knurrte er unwillig, rührte jedoch keinen Finger, um ihr zu helfen.

»Warum … warum lebt ihr überhaupt zu dritt?«, wagte sie jene Frage zu stellen, die ihr schon oft auf den Lippen gelegen, die sie aber nie ausgesprochen hatte. »Warum seid ihr allesamt nicht verheiratet? Nun, ich verstehe es bei Jiacinto, er ist Anarchist und gegen die Ehe. Und Rebeca wiederum ist keine Frau, die heiraten will. Aber du … du scheinst dich doch nach einem etwas … beständigeren Leben zu sehnen.«

Er starrte sie zunächst nachdenklich an und schüttelte dann heftig den Kopf. »Das darf ich doch nicht!«, brach es aus ihm hervor.

»Warum nicht?«

»Hat dir Rebeca von unseren Eltern erzählt?«

Victoria nickte und dachte an deren Worte – von jenem armen Anwalt, der sich für Gerechtigkeit einsetzte, aber seine Familie nicht ernähren konnte, von der ausgezehrten Mutter, die so viele Geschwister tot zur Welt gebracht oder im jüngsten Alter hatte sterben sehen müssen, ehe sie selbst viel zu früh verschied.

»Weißt du«, fuhr Juan fort, »ich bin einfach nicht reich genug … Ich könnte eine eigene Familie nur mehr schlecht als recht ernähren.«

Plötzlich stieg in Victoria das Bild von Aurelia auf – umgeben von Unmengen an Dienstmädchen und in diesem kostbaren Kleid, das wahrscheinlich so teuer war, dass eine normale chilenische Familie ein Jahr davon leben könnte. »Soll man etwa nur heiraten dürfen, wenn man genug Geld hat?«, fragte sie erbost.

Juan zuckte die Schulten. »Was andere Menschen machen, ist ihre Entscheidung, aber für mich ist es so, dass meine Geschwister meine einzige Familie sind.«

Er klang erschöpft und irgendwie auch traurig, aber bevor Victoria etwas sagen konnte, ertönte ein Lachen, erst aus Rebecas Mund, dann aus Jiacintos. Sie kamen gemeinsam und von einer größeren Gruppe zwielichtiger Gäste begleitet. Allesamt wirkten sie so dreckig und unordentlich, als hätten sie sich gerade geprügelt – und offenbar war es genau das, was sie in Hochstimmung versetzte. Obwohl Victoria sich sonst immer freute, Jiacinto zu sehen, fühlte sie sich plötzlich ähnlich erschöpft wie Juan. Auch der seufzte, als er die Unordnung, die sie gerade beseitigt hatten, erneut über ihn hereinbrechen wähnte.

»Was habt ihr da zu bereden?«, höhnte Rebeca, die offenbar Juans letzten Satz vernommen hatte. »Ach, lass dir gesagt sein, Victoria – Juan ist einer, der sich gerne bemitleiden lässt. Der uns allen immer vorheult, warum das Leben kein Spaß ist, vor allem für ihn nicht, und der ständig die absurdesten Gründe aufzählt, warum er nicht glücklich werden kann.«

Victoria bemerkte, wie Juan Anstalten machte, zu widersprechen, aber stattdessen schwieg er und sank auf einen Stuhl. Rebeca kicherte, setzte sich schnell auf seinen Schoß und machte ihren Spott wett, indem sie ihn auf beide Wangen küsste, bis sie rot glühten.

Victoria sah das nicht zum ersten Mal, aber noch nie hatte sie dieser Anblick so befremdet wie heute. Die vielen Stimmen, die nun wirr durcheinandergingen und deren Lallen verriet, dass die meisten Anwesenden betrunken waren, setzten ihr zu. Sie wollte fliehen, aber wohin? Nach Hause zu gehen war ebenso wenig verheißungsvoll wie hierzubleiben. Schließlich schlich sie unauffällig in das zweite Zimmer, in dem, wie sie wusste, Rebeca schlief. Es war so unordentlich wie das andere. Auf dem Boden lagen Kleidungsstücke, der Rauch von Zigaretten vermengte sich mit dem durchdringenden Geruch von Parfüms, die Rebeca manchmal trug. Sie ließ sich auf dem Bett nieder, zog die Knie an ihr Gesicht und fühlte sich unendlich verloren. Hoffentlich bemerkte Rebeca ihr Verschwinden und gesellte sich zu ihr, so dass sie allein mit ihr reden und ihr das Herz ausschütten konnte. Doch fast eine Stunde verging, da sie allein blieb. Ein jeder schien vergessen zu haben, dass sie hier war – bis sich plötzlich die Tür öffnete. Und es war nicht Rebeca, die im Rahmen stehen blieb, sondern … Jiacinto.

Wie die anderen musste er getrunken haben, denn seine Augen waren leicht gerötet und seine Schritte wankend, als er auf das Bett zutrat.

»Warum versteckst du dich denn hier, Mädchen?«

Victoria blieb starr sitzen, aber insgeheim versetzte es ihr einen freudigen Stich, dass er gekommen war – und sie zum ersten Mal seit Ewigkeiten wieder mit ihm allein war.

»Wir diskutieren gerade über Moral, ob es sie gibt, sie nur eine Illusion ist oder der Versuch, die Menschen für dumm zu verkaufen. Letzteres glaube ich. Du als Feministin siehst es vielleicht anders, und du hast einen scharfen Verstand.«

Es war das Freundlichste, was er je zu ihr gesagt hatte, doch zu ihrem Erstaunen reagierte sie nicht mit überschwenglicher Freude … sondern mit Ärger. Sie wusste weder, woher er rührte, noch, wem er galt – vielleicht Aurelia, die ihre Herkunft verleugnete, vielleicht Rebeca, die sich im Grunde nicht darum scherte, wie es ihr ging, vielleicht Juan, weil er so selbstmitleidig war. Oder gar Jiacinto, der sie über Wochen missachtet hatte und nun so selbstverständlich mit ihr sprach, weil er eben gerade Lust dazu hatte.

Ungewohnt scharf gab sie zurück: »Von Moral halte ich nicht viel. Aber ich denke doch, dass, will man etwas erreichen und die Welt verändern, an etwas glauben muss. Es reicht nicht, gegen alles zu sein wie ihr Anarchisten. Man muss auch wissen, wofür man kämpft – so wie wir Feministinnen es tun.«

Er grinste. Entweder entging ihm der scharfe Tonfall, oder er fand gerade diesen lustig. »Sag ich ja, du bist ein kluges Mädchen. Das gefällt mir.«

Kurz erwartete sie, er würde sich abwenden und wieder nach draußen gehen, doch stattdessen kam er näher und setzte sich zu ihr auf das schmuddelige Bett. Ein scharfer Geruch stieg ihr in die Nase, nach Schweiß, Dreck und etwas anderem, was sie nicht benennen konnte und was dennoch ein Kribbeln in ihrem Magen auslöste. Trotzdem rückte sie von ihm ab. »Ich gefalle dir aber nicht gut genug, dass du mich noch einmal küsst«, brach es aus ihr heraus, ebenso trotzig wie verletzt.

Sein Grinsen verstärkte sich. »Soll ich etwa?«, fragte er. Er neigte sich spielerisch vor, überbrückte den Abstand zwischen ihnen und wollte ihr neckend durch die Haare fahren. Doch sie hob rüde die Hand, ballte sie zur Faust und stieß ihn zurück. »Du musst dich nicht gnädig dazu … herablassen.«

Als hätte ihn ihr Schlag schmerzhaft getroffen, ließ er sich zurück aufs Bett fallen. Erst lachte er, dann starrte er stumm zur Decke. Sie war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob er wirklich ihre Nähe gesucht oder einfach zu viel getrunken hatte und eine Weile liegen wollte.

»Ach, Victoria …«, begann er, »kluge, steife Victoria … immer brav angezogen, immer pünktlich bei der Arbeit, immer schön frisiert … Wie sollte ich mich zu dir herablassen können, wenn du in Wahrheit doch so weit über mir stehst? Du wiederum kannst in der Gosse spielen, sooft du willst, du wirst niemals nach der Gosse riechen.«

»So wie du?«

»Ich bin nun mal ein Straßenköter … darin geübt, zu überleben, zu kläffen und mit anderen Hunden zu balgen.«

Wieder grinste er, doch seine Augen blickten ernst, fast traurig. Obwohl er nicht viel mit ihm gemein hatte, erinnerte er sie plötzlich an Juan. Da war etwas Resigniertes, Hoffnungsloses, Abgestumpftes, das sie noch nie an ihm wahrgenommen hatte.

»Warum kann ich nicht auch ein Straßenköter sein?«, fragte sie.

Er sah sie nachdenklich an. »Vielleicht, weil du zwar frech genug bist, auch mutig und stark. Aber nicht kaputt genug.«

Sie wusste nicht, was genau er damit meinte. »Wenn etwas auf dieser Welt nicht sonderlich schwer ist, ist es, kaputtzugehen.«

»Gewiss«, erwiderte er, »und dennoch bleibst du eine, die nach Glück sucht. Und nach Liebe. Und die überdies weiß, was Liebe ist.«

»Du irrst dich, wenn du denkst, dass ich einen Mann suche, der mich heiratet!«

»Ach ja?«

»So einen brauche ich nicht und will ich nicht!«

»Was willst du dann?«

Sie war sich nicht sicher. »Ich will leben«, murmelte sie schließlich. »Ich will nicht allein sein. Ich will vergessen können. Den Tod meiner Eltern … Aurelia … einfach alles.«

Während sie sprach, hob sie unwillkürlich ihre Hände, zog sich die Spangen aus dem Haarknoten und schüttelte den Kopf, bis die Haare nach allen Seiten abstanden.

Jiacinto stützte sich auf seine Ellbogen auf und betrachtete sie halb nachdenklich, halb belustigt. »Immer noch kein Straßenköter …«

Da sprang sie zornig auf, zerrte ungestüm an ihrem Kleid und achtete nicht darauf, dass sie zwei Knöpfe abriss. Sie zog es aus und stand nur noch im dünnen Hemdchen vor ihm. Obwohl kühle Luft sie traf, wurde ihr plötzlich ganz heiß.

Er lachte auf. »Immer noch kein Straßenköter«, wiederholte er.

Kurz befürchtete sie, jemand würde in den Raum kommen, würde sie beobachten, wie sie nun auf das Bett zutrat, die Beine spreizte, sich auf ihn hockte. Aber dann dachte sie, dass dieser Anblick keiner war, den nicht jeder, der in der Wohnung der Carrizos ein und aus ging, schon hundertfach gesehen hatte.

»Und jetzt?«, fragte sie rauh, beugte ihr Gesicht zu seinem herab und küsste ihn. Sie schmeckte Zigarettenrauch und Wein und Schmutz. Der Ekel war so groß wie die Gier. Der Wunsch, ihn ewig festzuhalten und zu küssen, so groß wie der, zurückzuweichen und zu fliehen.

Er packte sie an den Schultern, schob sie ein wenig zurück und betrachtete sie. Erst sah sie neuerliche Belustigung in seinen Zügen aufblitzen, dann die gleiche Gier, die sie selbst schmeckte. Obwohl er betrunken war, wälzte er sie blitzschnell auf den Rücken und kam nun seinerseits auf ihr zu liegen.

»Immer noch kein Straßenköter«, sagte er zum dritten Mal.

»Na und?«, gab sie zurück. Sie fühlte, wie seine Gier wuchs, und wusste, dass sie gewonnen hatte – wenn auch nicht, was genau. »Gerade darum begehrst du mich doch.«

Weder bejahte er es, noch stritt er es ab, beugte sich vielmehr seinerseits vor und küsste sie. Er tat es hastig, als bliebe ihm nicht viel Zeit. Alles, was folgte, ging unglaublich schnell, so dass sich später das Gefühl festsetzte, es hätte nur Sekunden gewährt. Er zog ihr Leibchen hoch, strich mit seinen schwieligen Händen über ihren Körper, zerrte schließlich an seiner Hose. Sein schmutziges Hemd ließ er an. Er befühlte ihre Brüste, und dass ihre Haut so weich war, schien ihm zu gefallen. Auf jeden Fall lächelte er. Sie hingegen fühlte nichts. Ihr Körper, eben noch so heiß und zitternd, war wie tot. Er führte sein Geschlecht an ihre Schenkel, grub sich in ihren Körper, und instinktiv hielt sie den Atem an, um sich gegen den Schmerz zu wappnen. Doch auch den fühlte sie nicht.

In ihrem Kopf kreiste der Gedanke, dass sie bekam, was sie wollte, aber dieser Kopf schien nicht zu ihrem Körper zu gehören.

Einige hektische Stöße – und es war vorbei. Er zog sich aus ihr heraus, ergoss sich stöhnend auf ihrem Bauch. Kurz, ganz kurz ahnte sie die Wärme, aber dann erkaltete sein Samen und mit ihm ihre Seele.

Er lag noch immer auf ihr, aber sein Körper war ihr so fremd wie ihrer. Als er sich von ihr wälzte, machte sie keine Anstalten, sich aufzurichten und sich abzuwischen – seinen Samen auf ihrem Bauch und ihr jungfräuliches Blut zwischen ihren Schenkeln.

Sie wusste nicht, ob er dieses überhaupt bemerkt hatte.

Er lag nun wieder auf dem Rücken, starrte zur Decke und begann zu reden, wahrscheinlich über Politik und den Sozialismus und den Anarchismus und warum die Liberalen unrecht hatten, über das Paktieren der Parteien, über die unterschiedlichen Koalitionen, die allesamt das Land nicht weiterbrachten, über die schrecklichen Arbeitsbedingungen.

Seine Worte erreichten sie nicht. Sie lag ganz still da, musste plötzlich an Aurelia denken, und die Wut und Verbitterung, die sie vorhin bei ihrem Anblick überkommen hatten, blieben aus. Sie fragte sich nur, was sie fühlte, wenn Tiago sie liebte, ob er wilder oder zärtlicher als Jiacinto war, ob steifer oder lustvoller, ob vorsichtiger oder gieriger.

Sie würde sie nicht fragen können. Ihre Wege hatten sich getrennt, vielleicht für immer, auf jeden Fall für lange Zeit.

Im Schatten des Feuerbaums: Roman
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