9. Kapitel
Als Aurelia zu sich kam, wusste sie nicht, wo sie war. Ihr Leben war vage wie ein Traum; all die Jahre ihrer Jugend auf der Estancia schmolzen zu wenigen Stunden. Übermächtig wurde einzig die Erinnerung an ihre Kindheit, der sie kaum entwachsen schien.
Ein Schuss war gefallen … jetzt … und damals auch. Ihre Mutter Rita hatte ihren Vater Esteban erschossen, sie sah es deutlich vor sich, eine gerechte, notwendige Tat zwar, nachdem dieser sie entführt und gefangen gehalten hatte, aber trotzdem ein Mord. Sie war so erleichtert gewesen, den unheimlichen Mann reglos zu Boden sacken zu sehen – aber da war auch unendlich viel Grauen gewesen, als sich eine Blutlache um ihn ausbreitete.
Aurelia wand sich zitternd, spürte einen stechenden Schmerz – und hörte plötzlich eine Stimme durch das Grau dringen, in dem sie gefangen war. Nicht die Stimme ihrer Mutter, nicht die von Esteban … sondern ganz überraschend Tiagos Stimme.
»Aurelia … Aurelia, bist du wach? Geht es dir gut? Ach, ich habe mir solche Sorgen gemacht! Als ich sah, wie du reglos auf dem Boden gelegen hast – da dachte ich schon …« Er brach ab. »Aber die Ärzte meinten, dass dich die Kugel nur gestreift hat«, erklärte er nach einer Weile mit zitternder Stimme. »Du hast etwas Blut verloren, aber du musstest nicht operiert werden.«
Aurelia blinzelte, öffnete die Augen. Aus dem Grau erstanden die Konturen seines Gesichts, seines geliebten Gesichts. Sie ahnte, dass sie in einem Krankenhaus war und Tiago sie dorthin gebracht haben musste, und konnte sich auch wieder an das erinnern, was passiert war.
Victoria … als Letztes hatte sie doch Victoria gesehen …
Als sie sich mühsam aufrichtete, explodierte in ihrem Kopf ein glühender Schmerz.
»Nicht! Streng dich nicht an!«
»Was ist mit Victoria? Und wieso … wieso bist du hier?«
Die erste Frage konnte er nicht beantworten, aber er berichtete stammelnd, dass er zufällig Andrés getroffen und dieser ihm erzählt hatte, wie sie trotz der gewaltsamen Ausschreitungen in Richtung der Población gelaufen war. Er hatte sich nicht davon abhalten lassen, ihr sofort zu folgen. »Wie leichtsinnig du warst, Aurelia!«, schloss er. »Du musst mehr auf dich achtgeben, du darfst dich nicht in solche Gefahren begeben. Es war so schrecklich, wie du auf dem Boden gelegen hast, voller Blut und …«
Er brach ab. In seinen Augen glitzerten Tränen.
Sie schloss kurz die Augen, sah blitzartig Bilder von den Ausschreitungen – und sah noch mehr als das. Sie sah auch Andrés’ Gesicht, wie er mit ihr gemeinsam vor dem Haus der Familie Brown y Alvarados gestanden hatte …
»Dein Vater«, presste sie heiser hervor; ihre Lippen waren so trocken und klebten aufeinander, »dein Vater ist einer der reichsten und mächtigsten Männer Chiles …«
»Pst! Reg dich nicht auf! Nicht jetzt!«
Sie schwieg, aber versuchte wieder, sich aufzusetzen, und diesmal war der Schmerz nicht ganz so heftig. »Warum bist du hier bei mir?«, fragte sie wieder. »Es ist nicht richtig, wir haben doch keine Zukunft … ich bin bloß die Tochter eines patagonischen Schafzüchters und einer …«
Und einer Mapuche, wollte sie sagen, hielt jedoch inne.
»Was redest du da nur?«, rief Tiago. »Ich war immer anders als meine Familie. Ich habe mich nie den Befehlen meines Vaters gefügt. Ich lasse mir von ihm nicht vorschreiben, mit wem ich meine Zeit verbringe.«
»Aber die Escuela … du bist dort kein Professor … du bist nur …«
Er senkte seinen Blick.
»Ich bin nur Student«, bekannte er verlegen, »und es tut mir leid, das ich dich darüber im Unklaren gelassen habe. Aber ich wollte nicht, dass du mich nur als Sohn reicher Eltern siehst, dass du mich mit dieser Achtung, aber zugleich dieser Scheu ansiehst wie alle, die um meine Herkunft wissen. Wie groß das Vermögen meines Vaters auch ist – es darf nicht bestimmen, wer ich bin. Ich bin Maler … versuche zumindest, einer zu sein. Und … und ich liebe dich, Aurelia.«
In ihrem Kopf rauschte es. Sie fühlte keinen Schmerz mehr, keine Erschöpfung, keine Angst.
»Tiago …«, stammelte sie.
»Gewiss, es war eine Lüge, dass ich dir vorgemacht habe, ich sei kein Student, sondern einer der Professoren. Aber ich sah keine andere Möglichkeit, um Zeit mit dir zu verbringen, um dich besser kennenzulernen, und irgendwann war es zu spät, dir die Wahrheit anzuvertrauen. Ich dachte, du würdest mich für meine Lüge verachten – und außerdem … außerdem tat es so gut, einmal alles zu vergessen, alles hinter mir lassen zu können. Du sahst den Maler in mir, nichts sonst – und ich will ja auch Maler sein, nichts sonst! Bitte! Ich wollte dich nicht verspotten, mich über dich lustig machen oder dich in die Irre führen – im Gegenteil! Ich wollte einfach … jemand anderer sein. Und ein wenig bin ich dieser andere ja auch, es war nicht alles Lüge.« Er sprach immer erregter und schneller. »Ich schäme mich so, das glaubst du mir doch, oder? Und auch … auch …« Erstmals geriet sein Redefluss ins Stocken. »Und auch, dass ich dich liebe«, brachte er endlich hervor.
Je länger er sprach, desto heißer war ihr geworden. Die Benommenheit wich von ihr.
Ich liebe dich doch auch, wollte sie sagen. Ganz gleich, wer du bist, ganz gleich, dass du mir die Wahrheit verschwiegen hast – ich liebe dich von ganzem Herzen!
Sie kam nicht dazu. Als sie den Mund öffnete, beugte er sich unwillkürlich vor und küsste sie. Es begann zärtlich und sanft, lange ruhten ihre Lippen aufeinander, ohne sich zu bewegen. Doch dann wurde sein Mund fordernder. Sie spürte seine Zunge, kitzelnd, neckend, spürte einen heißen Schauder, der ihr über den Rücken rann und alle unliebsamen Erinnerungen vertrieb. Er hob seine Hände, streichelte über ihre Haare, ihre Schläfen, ihre Wangen, und sie tat es ihm gleich, während sie der forschenden Zunge ihren Mund weit öffnete. Vorsichtig tasteten sie sich aneinander an, fanden rasch zu einem gemeinsamen Rhythmus des Kosens und Neckens und Schmeckens.
Viel zu schnell war es vorbei. Sie wollte eben seinen Nacken umfassen und ihn enger an sich ziehen, als er sich von ihr löste und sie sanft zurück auf das Kissen drückte.
»Das … das wird dir zu viel …«, stieß er aus, atemlos und mit gerötetem Gesicht.
Ihre Hand tastete nach ihren Lippen, die nicht länger trocken waren. Eben noch hatte sie sich glücklich wie nie gefühlt, jetzt überkam sie tiefe Traurigkeit.
»Dass du mich liebst – das ändert nichts daran, dass du reich bist … und ich arm.«
Etwas Gehetztes trat in Tiagos Züge, auch etwas Schuldbewusstes. »Ich bin reich, das stimmt. Aber es hat keine Bedeutung für mich. Ich … ich brauche kein Geld, um glücklich zu sein. Ich habe mich bei uns daheim nie wohl gefühlt. Unser Haus ist groß und prächtig, aber es ist zugleich so dunkel. Ich habe mich immer danach gesehnt, den Räumen zu entfliehen, den Himmel zu sehen, die Bäume und die Berge. Ich habe mich nach Schönheit gesehnt. Und du bist das Schönste, das Lebendigste, dem ich je begegnet bin. Niemand wird von mir erzwingen können, dass ich dich aufgebe, niemand!«
»Aber …«
Er nahm ihre Hände, drückte sie fest und sprach so schnell weiter, dass er sich fast verhaspelte. »Ich verspreche dir, ich werde keine Geheimnisse mehr haben – nicht vor dir und auch nicht vor meinen Eltern. Ich werde ihnen sagen, dass ich dich liebe.«
»Aber …«
Ehe sie einen Einwand hervorbringen konnte, öffnete sich die Tür. Ein weiß gekleideter Mann trat herein, nickte Tiago zu und stellte sich als Doktor Ramiro Espinoza vor.
Verwirrt sah Aurelia ihn an. Den Namen hatte sie in den letzten Wochen häufig gehört. Er war offenbar Andrés’ Vater – und zugleich der Arzt, über den sich Victoria so oft ärgerte.
Victoria … wo war sie nur? Hatte sie sich in Sicherheit bringen können?
Tiago ließ ihre Hände los und sprang auf. »Doktor Espinoza, wie gut, dass Sie da sind! Sie wird doch wieder ganz gesund?« Er wandte sich an Aurelia. »Andrés’ Vater arbeitet eigentlich nicht hier, aber ich habe ihn hierhergebeten. Wir sind im Hospital San Vicente …«
Aurelia schwirrte der Kopf. Zu viele Gedanken kreisten darin, um sie alle fassen zu können. Andrés’ Vater, den Victoria hasste … Andrés, der ihr von Tiagos Herkunft erzählt hatte … der ihr prophezeit hatte, sie würde keine Zukunft mit Tiago haben … der meinte, dass sie beide viel besser zusammenpassen würden.
Sollte sie Tiago berichten, was er alles zu ihr gesagt hatte? Aber würde das die Freunde nicht auf ewig entzweien? Hatte sie vielleicht etwas falsch verstanden?
Eine Sache verstand sie ganz richtig – dass sie für Tiago viel mehr war als ein Zeitvertreib. Dass er zu ihr stand, dass er sie liebte, dass er seinen Eltern von ihr erzählen wollte …
Doktor Espinoza beugte sich über sie. Sein Lächeln war freundlich, sein Blick weich. Waren das seine wahren Gefühle – oder verstellte er sich, weil Tiago hier war?
Tiago … der Sohn der mächtigen Brown y Alvarados’ …
Erst drehten sich ihre Gedanken immer schneller, dann erlahmten sie. Ihr Kopf wurde schwer, ihre Lider auch. Ganz gleich, was geschehen war und noch geschehen würde – das Bedürfnis zu schlafen wurde übermächtig. Und ganz gleich, ob er sie belogen hatte oder nicht – sie fühlte sich sicher in Tiagos Gegenwart, Tiago … dessen Geschmack sie auf ihren Lippen trug …
Obwohl sie sich die zerzausten Haare gekämmt und zu einem Nackenknoten gebunden und ihr zerrissenes Kleid notdürftig geflickt hatte, fühlte sich Victoria schmutzig. Sie wusste, selbst ein Bad würde nichts daran ändern, denn das würde die Erinnerung an die vielen Hände, die sie gepackt hatten, nicht vertreiben können. An Jiacinto hatte sie immer fasziniert, dass er keinen Wert auf sein Erscheinungsbild legte, seine langen Haare verfilzten, seine Hemden stets voller Flecken waren – doch als jene ähnlich dreckigen Männer sie mit sich gezerrt hatten, hatte sie sich einfach nur erniedrigt gefühlt. Die schwitzenden Leiber hatten in ihr tiefsten Ekel verursacht. Bis zum Schluss hatte sie sich gegen ihre Griffe gewehrt, hatte gebissen, gekratzt, schließlich einem gegen das Schienbein getreten. Als sich eine Flut an Flüchen und Beschimpfungen über sie ergossen hatte, war sie sich sicher gewesen: Jetzt hatte sie sich Feinde gemacht. Jetzt würde man sie – wie angedroht – ins Gefängnis werfen.
Doch am Ende hatte man sie losgelassen – wohl, weil von anderen Unruhestiftern größere Gefahr drohte als von einem sechzehnjährigen Mädchen und man einem von diesen nachrannte, anstatt sie länger festzuhalten. Die Erleichterung darüber währte nicht lange. Sie fühlte keine Dankbarkeit, endlich frei zu sein, sondern blanke Wut. Wenn sie jetzt eine Pistole in der Hand gehalten hätte, hätte sie nicht gezögert, zu schießen – und auch ohne Pistole hätte sie gerne um sich geschlagen, gedroschen und gebissen, wie Jiacinto es getan hatte. Aber als sie sich umsah, stellte sie fest, dass sich niemand mehr schlug, sondern die Menschen aus der Población flohen, und die Einsicht, die in ihr hochstieg, fiel ernüchternd aus: Sie hatte keines ihrer Ziele erreicht. Sie war nur schmutzig geworden.
Sie schüttelte sich, und erst, als dieser Rausch von Ekel und Hass und Ohnmacht verflog, erinnerte sie sich an Aurelia.
Mein Gott, was war passiert? Dieser Schuss … wie schlimm hatte er sie getroffen?
Hektisch blickte sie sich um. Fast jeder hatte Blessuren abbekommen – blutüberströmt am Boden lag keiner. Dennoch überlief sie plötzlich ein Zittern, und ihr Blick wurde von einem Schleier aus Tränen verzerrt. Sie konnte kaum mehr etwas sehen, lediglich, dass jemand auf sie zugelaufen kam und dieser Jemand Pepe war.
»Aurelia!«, schrie sie panisch. »Hast du Aurelia gesehen?«
Sein Gesicht schien schmerzverzerrt wie immer, doch diesmal wirkte er hilflos, nicht bockig. Er schwitzte ähnlich stark wie die Männer, die sie festgehalten hatten, doch vor ihm ekelte sie sich nicht. Sie ergriff beide seiner Hände. »Nun, sag schon …«
Pepe atmete keuchend.
»Sie … sie wurde verletzt. Sie haben sie ins Krankenhaus San Vicente gebracht … Meine Mutter ist bei ihr … und dieser Tiago. Er hat Mutter auch davon benachrichtigen lassen, was passiert ist, und diese hat mich wiederum hierhergeschickt, um dich zu suchen.«
Während er sich vor Widerwillen schüttelte, stiegen widersprüchliche Gefühle in ihr hoch – kalte Angst um das Leben der Freundin, aber auch Zorn, weil Tiago sich früher als sie selbst um Aurelia hatte kümmern können.
»Lass uns dort hingehen! Beeilen wir uns!«, forderte sie Pepe auf.
Als sie wenig später ankamen, waren die Gänge des Hospitals überfüllt. Sie sah wenig ernsthaft Verletzte, aber viele offene Platzwunden. In jedem anderen Augenblick wäre das Bedürfnis übermächtig geworden, zu helfen, aber heute war sie einfach nur müde. Ihre Brust schmerzte, jeder Schritt tat weh. Die Erschöpfung verflog erst, als sie Valentina sah. In deren Gesicht stand zwar gleicher Widerwille wie in Pepes – vielleicht vor der Gewalt an sich, vielleicht vor der Tatsache, dass diese Gewalt einmal mehr die Ärmsten getroffen hatte, vielleicht einfach nur, weil sie hierherkommen hatte müssen –, aber zumindest war da kein Entsetzen, keine Trauer.
»Valentina! Was ist mit Aurelia?«
Valentina atmete ähnlich schwer wie ihr Sohn. »Sie lebt«, stellte sie fest, »es geht ihr gut … aber mir nicht mehr lange, wenn ich hierbleiben muss. Die Luft ist ja zum Schneiden dick, und all diese Verletzten!« Sie wedelte ungehalten mit ihren Händen. »Komm, Pepe! Und du am besten auch, Victoria! Aurelia ist nur leicht verletzt worden, und jetzt ist Tiago bei ihr.«
Victoria schüttelte den Kopf, sie konnte unmöglich gehen, ohne selbst Aurelia gesehen zu haben! Wie immer überließ Valentina die Entscheidung ihr, bedrängte sie nicht länger und war alsbald, auf Pepe gestützt, aus dem Gang verschwunden. Victoria, eben noch so entschlossen, wurde unsicher. Ja, sie wollte Aurelia sehen – aber sie konnte gerne darauf verzichten, Tiago vorgestellt zu werden. Obwohl er mit der Demonstration und der Schießerei nichts zu tun hatte, zürnte sie ihm dennoch – auch wenn sie nicht recht wusste, weshalb.
Während sie noch mit sich rang, öffnete sich die Tür zu einem der Krankenzimmer, und heraus kam einer, mit dem sie hier am allerwenigsten gerechnet hatte: Doktor Ramiro Espinoza.
Victoria riss die Augen auf.
»Sie hier?«, entfuhr es ihr. Was trieb er bloß im Hospital San Vicente?
Kurz sah es so aus, als würde er sie einfach ignorieren, dann murmelte er widerstrebend: »Sie sind mit Aurelia Hoffmann verwandt, nicht wahr? Tiago hat mich gebeten, nach ihr zu sehen. Ich bin ein Freund der Familie.«
Sein letzter Satz klang nicht widerwillig, sondern stolz.
Victoria runzelte die Stirn. »Welcher Familie?«
Er antwortete nicht darauf, sondern beugte sich unwillkürlich zu ihr und zischte sie an: »Ich habe Sie durchschaut, Niña Hoffmann. Sie sind ein Störenfried, Sie haben an dieser Demonstration teilgenommen. Sie haben keinen Respekt vor Autoritäten, und Sie geben sich mit verbrecherischen Subjekten ab. So eine Krankenschwester kann ich in meinem Krankenhaus nicht brauchen.«
Victoria straffte ihre Schultern. So erschöpft und ausgelaugt konnte sie gar nicht sein, dass sie einem Doktor Espinoza nicht zu trotzen vermochte.
»Weisen Sie mir doch nach, dass auch ich bei dieser Demonstration war! Oder dass mir bei meiner Arbeit im Krankenhaus je ein Fehler unterlaufen wäre!«
Er musterte sie abschätzig. Kurz kam sein Gesicht ihrem noch näher, dann wich er zurück.
»Eine gute Krankenschwester zeichnet sich durch ihre Tugenden und Sittlichkeit aus … vergessen Sie das nie! Denn wenn Sie es vergessen sollten, und sei es nur für einen ganz kurzen Augenblick, dann kriegen Sie es mit mir zu tun! Sie haben recht, ich kann Ihnen kein Fehlverhalten nachweisen. Aber ich habe Geduld … viel Geduld. Irgendwann werden Sie nicht so ungeschoren davonkommen wie heute.«
Seine Stimme hatte einen drohenden Unterton angenommen. Nachdem er geendet hatte, schnaubte er verächtlich, ehe er sie ohne weiteres Wort stehen ließ. Victoria ballte unwillkürlich ihre Hände zu Fäusten und murmelte einen erstickten Fluch.
Als sie sich umdrehte, sah sie einen Mann, der am Fenster lehnte und sie eindringlich musterte. Sofort fiel ihr seine Ähnlichkeit mit Ramiro Espinoza auf, nur dass dieser Mann nicht dessen starre Haltung hatte, sondern etwas gebückt dastand, die mausgrauen Haare dichter wuchsen, die Haut jedoch teigiger wirkte. Seine Augen waren ähnlich verächtlich auf sie gerichtet wie eben noch die von Doktor Espinoza. In Victoria regte sich kalte Wut.
»Was glotzen Sie mich so an?«, rief sie.
Er lächelte schmal, blieb aber ans Fenster gelehnt stehen.
»Heute schützt Sie Ihre Verwandtschaft zu Aurelia. Allein deswegen wird mein Vater Sie nicht aus seinem Krankenhaus werfen. Aber glauben Sie mir: Bald schon wird Aurelia in Tiagos Leben keine Rolle mehr spielen. Seine Familie wird das nicht zulassen.«
Victoria runzelte die Stirn. »All das Gerede um Tiagos Familie … was soll das?«
Der Fremde lachte auf. »Sie wissen nicht, wer Tiago ist?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Tiago heißt mit Nachnamen Brown y Alvarados«, erklärte der Mann.
Victoria erbleichte. Fassungslos starrte sie den Fremden an. Der deutete ihr Schweigen falsch und dachte wohl, dass Victoria sich darüber freute.
Er löste sich vom Fenster und trat ähnlich drohend wie sein Vater auf sie zu. »Aber glauben Sie nicht, dass Ihre kleine Freundin ihn am Ende bekommt!«, raunte er.
Mit diesen Worten ließ er sie einfach stehen. Nun war es Victoria, die sich gegen die Wand lehnte.
Brown y Alvarados …
Aurelia musste den Verstand verloren haben, sich mit Tiago abzugeben!
Ihre Verwirrung wich neuerlich aufflammendem Zorn, ihr Zorn alsbald wieder Erschöpfung. Schließlich verließ sie das Krankenhaus, ohne nach Aurelia zu schauen.
Nach seiner Begegnung mit Victoria Hoffmann ging Andrés eine Weile im Krankenhausflur auf und ab. Ihr gegenüber hatte er es sich nicht anmerken lassen – aber insgeheim fühlte er sich zerrissen. Er machte sich ernsthafte Sorgen um Aurelia, er hatte wahrlich nicht gewollt, dass diesem hübschen, zarten Mädchen etwas zustieß! Zugleich konnte er die tiefe Befriedigung nicht unterdrücken, dass sie nun die Wahrheit über Tiago wusste. Ganz gleich, worüber die beiden hinter der geschlossenen Tür des Krankenzimmers tuschelten – unmöglich konnten sie weitermachen wie bisher!
»Was machst du hier?«, hörte er plötzlich die Stimme seines Vaters fragen. »Du solltest bei Tiago sein.«
Er hatte ihn nicht kommen gehört, fühlte sich ertappt, und als er herumfuhr, war er kurz nicht Herr seiner Züge. Wie er es hasste, wenn sein Vater das zu ihm sagte!
Du solltest bei Tiago sein …
Diesen Satz hatte er oft gehört, nach seinem Geschmack viel zu oft, schon als er noch ein ganz kleines Kind war. Damals hatte ihn sein Vater immer wieder ins Haus der Familie Brown y Alvarados mitgenommen. Er war so stolz, Williams und Alicias Hausarzt zu sein – und er hatte es als glückliche Fügung angesehen, dass sein Sohn im selben Alter war wie Tiago und die beiden sich anfreundeten.
»Also, was stehst du hier herum?«
Bitterkeit stieg in Andrés auf. Am liebsten hätte er den Vater angeschrien. Ich habe doch nur darum Wert für dich, weil ich deine Beziehung zu einer Familie der Oberschicht festige! Weil du dir davon erhoffst, dass dein großer Lebenstraum verwirklicht wird!
Aber natürlich blieben diese Worte ungesagt. Wie immer.
»Tiago hat sich in diese Aurelia verliebt«, murmelte er stattdessen, »aber er kann sie unmöglich heiraten!«
Ramiro Espinoza nickte sofort. »Das glaube ich auch«, erklärte er.
Andrés fühlte Genugtuung, wenn er an das Leid dachte, das Tiago ertragen würde müssen – und zugleich fand er es befremdlich, wie bereitwillig sich sein Vater seinem Urteil anschloss: Er kämpfte doch selbst sein Leben lang für den gesellschaftlichen Aufstieg – letztlich müsste er es gutheißen, wenn es einem anderen gelang und selbst die Tochter von patagonischen Schafzüchtern Teil der Oberschicht werden könnte. Umso mehr würde es ihm als Arzt zustehen!
Aber letztlich, dachte er, war Ramiro Espinoza genauso ein Snob wie William Brown, mit dem Unterschied, dass William Brown auf die Mittelklasse herabblickte und Ramiro Espinoza, der trotz seiner Doktorwürde nur zu dieser Mittelschicht gehörte, auf die Unterschicht.
»Wie auch immer«, sagte sein Vater eben, »Tiago wird das selbst herausfinden, dieser liebestolle Narr. Und du musst ihm dabei zur Seite stehen und ihn trösten.«
Andrés nickte, aber insgeheim packte ihn die Angst. Was, wenn Aurelia ihn bei Tiago angeschwärzt hatte, ihm anvertraut hatte, dass er ihr nicht nur die Wahrheit über seine Herkunft erzählt hatte, sondern sich auch an sie herangemacht hatte? Und was noch schlimmer war: Was, wenn sein Vater es erfuhr?
»Aurelia ist mit Victoria Hoffmann verwandt, nicht wahr?«, fragte er, um von dem Thema abzulenken. »Das ist doch die aufsässige Krankenschwester, von der du schon so oft erzählt hast!«
»Vor allem ist sie eine Deutsche!«, rief Espinoza.
Er spie das Wort förmlich aus, und als Andrés die gleiche Verbitterung an ihm fühlte, wie er sie eben noch selbst geschmeckt hatte, freute er sich diebisch. Auf so viele Dinge seines Lebens hatte er keinen Einfluss, konnte sich nicht frei für etwas entscheiden, sondern wurde von seinem Vater dazu gedrängt: ob es darum ging, um Tiagos Freundschaft zu buhlen, Medizin zu studieren oder hinterher eine bestimmte Fachdisziplin zu wählen. Wäre es nach Andrés selbst gegangen, so hätte er am liebsten am Pathologischen Institut der Universidad de Chile, das der bedeutende Mediziner Max Westenhöfer erst ein Jahr zuvor gegründet hatte, gearbeitet – stattdessen verlangte Ramiro, er sollte wie er Allgemeinmediziner werden und künftig seine Aufgaben als Hausarzt der Brown y Alvarados’ übernehmen.
Nun gut, Andrés fügte sich, wie er sich stets gefügt hatte – aber es bereitete ihm Befriedigung, wenn auch sein Vater nicht bekam, was er wollte, und nicht immer frei über sein Leben entscheiden konnte. Seine medizinische Karriere war schon das eine oder andere Mal ins Stocken geraten, weil nicht er, sondern einer der deutschen Ärzte den entsprechenden Posten bekommen hatte – ein Umstand, der in ihm tiefen Hass auf alles Deutsche gezüchtet hatte, ausgenommen Schwester Adela, die mit ihrer Willfährigkeit ihre Herkunft vergessen machte. Und nicht nur, dass ihm mancher Deutsche einen einflussreichen Posten weggeschnappt hatte – obendrein musste er zusehen, wie der Deutsche Verein in Santiago die Gründung eines eigenen Krankenhauses vorantrieb. So eines zu leiten war wiederum Ramiro Espinozas großer Lebenstraum, denn dann müsste er sich dank eines solchen Amtes nicht länger mit schwitzenden, stinkenden, blutenden Leibern abgeben, sondern würde eher den Rang eines Unternehmers einnehmen und als solcher in der Achtung von William Brown y Alvarados steigen.
»Nun, dafür, dass sie mit Deutschen verwandt ist, kann sie nichts«, wandte Andrés ein – weniger, um Aurelia zu beschützen, als den Vater zu provozieren.
»Es gibt so viele Dinge, für die wir nichts können. Und dennoch müssen wir sie ertragen!«, brach es wie erwartet aus Ramiro hervor, und prompt erging er sich in tausendfach gehörter Leier: dass er sein Leben lang hart gearbeitet hatte. Dass ihm nichts fehlte – weder Diplomatie noch Intelligenz noch Anpassungsfähigkeit, nur Geld. Oh, wenn er ein wenig Geld hätte, wenn William sich endlich darauf einließe, eine Stiftung zur Gründung eines eigenen Krankenhauses zu unterstützen – was könnte er nicht daraus machen! Aber William ziere sich – was wiederum bedeute, dass die Hoffnungen auf die nachfolgende Generation zu richten waren, Guillermo und Tiago. Und um sie zu werben sei wiederum Andrés’ Pflicht.
Andrés wandte sich ab. So groß sein Spaß war, den Stachel in das Fleisch seines Vaters zu treiben – so schnell war er der Nörgelei überdrüssig. Er konnte es nicht mehr hören!
Diese Besessenheit vom eigenen Krankenhaus und dem damit verbundenen gesellschaftlichen Aufstieg war ihm selber fremd. Warum konnte sich sein Vater nicht mit dem begnügen, was er erreicht hatte? Und warum wollten alle mehr, als ihnen zustand … sein Vater Mitglied der Oberschicht zu sein, und Tiago Aurelia? Ramiro konnte sich doch in seiner Würde als Chefarzt sonnen und Tiago alle hochgeborenen Frauen der Stadt haben … Aurelia dagegen würde an seiner Seite glücklicher werden und er wiederum, wenn er in der Pathologie arbeiten konnte. Nein, er brauchte kein eigenes Krankenhaus, auch wenn sein Vater ganz selbstverständlich davon ausging, dass er diesen Traum teilte und vorantrieb.
Andrés nutzte dessen kurze Pause, um sich unauffällig aus dem Staub zu machen, kam jedoch keinen Schritt weit.
»Wohin willst du hin?«, fuhr Espinoza ihn an. »Ich sagte doch eben, du solltest jetzt an Tiagos Seite sein.«
»Der will doch sicherlich mit Aurelia allein sein. Soll ich sie bei trauter Zweisamkeit stören?«
»Sei nicht so dumm!«
Andrés zuckte zusammen. Auch diesen Satz hatte er oft gehört. Sei nicht dumm … Stell dich nicht so an … Ich habe dich nach dem Tod deiner Mutter allein durchgebracht, das muss sich lohnen …
»So dumm kann ich gar nicht sein, sonst hätte ich das Medizinstudium nicht geschafft«, erwiderte Andrés störrisch.
»Natürlich sollst du sie nicht stören«, erklärte Ramiro. »Aber wenn die beiden auf die Idee kommen, Romeo und Julia zu spielen, musst du dich als verständnisvoller Vertrauter anbieten, verstehst du? Wenn diese Narren wirklich glauben, sie könnten ihre Liebe ertrotzen, wird ihnen alsbald ein scharfer Wind ins Gesicht wehen. Tiago wird dir nie vergessen, wenn du tröstend an seiner Seite stehst, selbst dann, wenn er Aurelia längst aufgeben muss.«
Andrés unterdrückte ein Seufzen.
»Nun mach schon! Zeig dein Bedauern über den schrecklichen Unfall! Wünsche Aurelia das Beste und erkläre Tiago, dass du stets für ihn da bist!«
Immerhin – der Unfall war vielleicht sein Glück. Vielleicht war Aurelias Geist nach der Schussverletzung zu umnebelt, um sich noch an alles zu erinnern, was an diesem Tag passiert war.
Andrés nickte ergeben.
»Ach ja«, hielt Espinoza ihn auf. »Vielleicht können wir die Sache auch ein wenig beschleunigen … Versuch doch, Tiago den Floh ins Ohr zu setzen, dass er Aurelia baldmöglichst seinen Eltern vorstellt. So wie ich diesen Träumer einschätze, wird er es mit fliegenden Fahnen tun – und viel eher deines Trostes bedürfen als erwartet.«
Ramiro Espinoza grinste, und plötzlich tat Andrés es ihm gleich. Ganz egal, was zwischen Vater und Sohn stand – Frustration, Verbitterung und falsche Erwartungen –, in dieser Sache waren sie geeint. Es gab keine Zukunft für Tiago und Aurelia.
Ramiro gönnte Aurelia nicht, womöglich zu erreichen, was ihm selbst verwehrt blieb: den gesellschaftlichen Aufstieg.
Und Andrés gönnte Tiago nicht, die schöne, liebenswerte, freundliche Aurelia zu bekommen. Er wollte sie selbst. Für sich ganz alleine.