6. Kapitel

Das Viertel, in das Rebeca Victoria führte, versprach zwar nicht so ein Elend wie der Barrio Misericordia, aber die Straßen waren schmutzig, die Kinder, die vor den Häusern lungerten, auch, und zwischen ihnen stakten Hühner und Schweine und hinterließen noch mehr Dreck. Vor den Fenstern waren Wäscheleinen gespannt, und was daran hing, hatte wenig Ähnlichkeit mit Victorias dunklem Kleid, das zwar einfach, aber frei von Flicken war: nichts als Lumpen, allesamt so oft getragen, dass sie in Fetzen hingen. Rebeca störte sich offenbar nicht daran. Auf Reinlichkeit schien sie grundsätzlich nicht sonderlich viel Wert zu legen, wie Victoria erkannte, als sie die kleine Mietwohnung der Carrizos – so hießen die Geschwister mit Nachnamen – im ersten Stock betraten.

So dicht hing der Dunst von Zigarren und Zigaretten, dass ihre Augen tränten, und sie unterdrückte ein Husten. Durchdringend wie der Rauch war der Geruch nach Wein und Whisky, und prompt stolperte sie über eine der leeren Flaschen, die vor ihre Füße gerollt war. Sie bückte sich, um sie aufzuheben, und stellte fest, dass der ganze Boden davon übersät war. Keiner von den vielen Menschen, die sich in der Wohnung aufhielten, achtete darauf. Sie lungerten auf durchgesessenen Möbelstücken herum, von denen keins zum anderen passte, lasen, rauchten und tranken oder waren in hitzige Debatten verstrickt.

Begierig hielt Victoria nach Jiacinto Ausschau, aber sie entdeckte nur Juan – der angehende Jurist, der als Einziger ein wenig skeptisch auf das Chaos starrte.

Er erkannte Victoria gewiss nicht wieder, schien aber daran gewöhnt, dass ständig Fremde kamen und gingen, und nickte ihr darum zu.

»Hier!«, sagte Rebeca und drückte ihr ein Glas in die Hand. Seine Ränder waren schmutzig, aber der Rotwein darin roch verführerisch nach Zimt und Orangenschale.

»Jetzt muss ich mich aber umziehen«, verkündete Rebeca. Victoria erwartete, dass sie sich zu diesem Zweck in einen anderen Raum zurückziehen würde, doch sie hatte keine Scheu, vor allen erst aus ihrem Kleid und dann in eine Hose zu schlüpfen. Es war eine Pluderhose, und obwohl diese so weit geschnitten war, dass man sie aus der Ferne für einen Rock hätte halten können, war Victoria zutiefst fasziniert, zum ersten Mal eine Frau in Hosen zu sehen. Nachdem Rebeca sich mehrere Ketten aus Glasperlen umgehängt hatte, steckte sie eine Zigarette in einen Halter aus Bernstein, ließ sich von einem der vielen Gäste Feuer geben und begann zu rauchen.

Victoria konnte sie nur fassungslos bestaunen. Sie hatte auch von Frauen gehört, die nicht nur Hosen trugen und mit übereinandergeschlagenen Beinen saßen, sondern obendrein rauchten, aber es mit eigenen Augen zu sehen war befremdend und berauschend zugleich.

»Warum trägst du dein Haar so kurz?«, fragte sie.

»Das solltest du auch machen«, lachte Rebeca und blies ihr den Rauch ins Gesicht. »Vor einigen Jahren haben die ersten Frauenrechtlerinnen in Europa damit angefangen.«

Victoria tastete instinktiv nach ihrem Haarknoten. »Wenn ich sie so schneiden würde, würden sie mir ja doch nur ständig ins Gesicht fallen.«

»Jetzt sei nicht so entsetzlich vernünftig.« Zwischen zwei neuerlichen Zügen an der Zigarette nahm Rebeca einen großen Schluck Wein und trat dann auf ihren Bruder zu. »Und du, Juan, du auch nicht.«

Juan hatte sich auf einen der dunklen, tiefen Sofastühle gesetzt. Verglichen mit den Lumpen der anderen war er mit seiner Hose und Jacke aus gestreiftem Cordsamtstoff nahezu elegant gekleidet. »Was soll ich nicht sein?«, fragte er abwesend.

»Vernünftig!«, schrie Rebeca und deutete mit verdrehten Augen auf das Buch in seinem Schoß, in dem er gerade geblättert hatte. »Du kannst noch so viel lernen – am Ende bleibst du wie unser Vater ein kleiner Jurist, auf den die großen treten.«

Er zuckte ein wenig hilflos die Schultern und wandte sich erneut seinem Buch zu, aber Rebeca ließ sich das nicht bieten, sondern setzte sich einfach auf seinen Schoß, nahm ihm das Buch aus der Hand und klappte es zu.

»Du hast doch gesehen, wen ich mitgebracht habe. Sie könnte zu dir passen, sie ist nämlich genauso steif, klug, strebsam wie du …«

Victoria fühlte sich von den Worten bloßgestellt, straffte den Rücken und überlegte fieberhaft, was sie entgegnen könnte. Doch ehe sie etwas sagen oder Juan das Buch zurückfordern konnte, ertönte vom zweiten Raum eine Stimme: »Hast du die Medikamente dabei?«

Victoria hatte die Tür nicht wahrgenommen, die jetzt laut krachend geöffnet wurde. Jiacinto blieb an den Rahmen gelehnt stehen, ließ seinen Blick kurz über die Gäste streifen und verharrte bei Victoria. Der Drang, die Augen zu senken, wurde übermächtig, aber sie verkniff ihn sich und musterte ihn ebenso ungeniert wie er sie. Obwohl sie ihn damals auf den Gleisen nur kurz gesehen hatte, hätte sie ihn unter Tausenden wiedererkannt – nicht an seinem Haar, das, zu einem strähnigen, verfilzten Schwanz gebunden, über den Rücken fiel, nicht an dem ungepflegten Bart, nicht an der grauen, fleckigen Kleidung, nicht einmal an diesen dunklen, blitzenden Augen. Aber etwas lag in seiner Haltung, was sie bei keinem anderen in diesem Maße gesehen hatte, etwas, das sie elektrisierte und an ein Raubtier denken ließ, gefährlich und unberechenbar und stets bereit, zum Sprung anzusetzen. Überdies hatte er etwas Maßloses an sich, etwas Zügelloses, was sie nicht besaß und nie besessen hatte.

Rebeca erhob sich von Juans Schoß. »Nicht ich habe die Medikamente, sondern sie.«

Jiacinto musterte Victoria aufs Neue. »Und wer ist sie?«

Etwas betroffen hörte Victoria zu, wie Rebeca vom Vorfall während der Zugfahrt berichtete. Sie war enttäuscht, dass er sie nicht wiedererkannt hatte, nun mit gerunzelter Stirn den Worten der Schwester lauschte und erst nach einer Weile nickte – das einzige Zeichen, dass er sich am Ende doch noch vage erinnerte. Sonderlich beeindruckt war er von diesen Erinnerungen wohl nicht. Er trat auf Rebeca zu, nahm einen Zug von ihrer Zigarette, und als Victoria ihm übereifrig die Phiolen reichte, nahm er sie zwar an sich, sah sie jedoch kein weiteres Mal an und dankte ihr auch nicht.

Juan erhob sich währenddessen vom Sofa. »Seit wann verteilst du eigentlich kostenlose Medikamente an die Huren?«, fragte er seinen Bruder. »Von den Anarchisten hört man viel – nur nicht, dass sie große Wohltäter der Armen seien.«

»In jedem Fall kämpfen wir für die freie Liebe«, hielt Jiacinto dagegen. »Und wie kann die Liebe frei sein, wenn man stets Angst haben muss, zu verrecken?«

Gelächter ertönte. »Vielleicht will Jiacinto das Salvarsan gar nicht an die Huren verteilen«, schaltete sich ein fremder Mann ein, »vielleicht braucht er es stattdessen selbst. Kein Wunder bei den vielen Frauen, mit denen er sein Lager teilt.«

»Zumindest habe ich noch nie für die Liebe zahlen müssen. Das überlasse ich Juan.«

Wütend ging Juan auf ihn los, beide Hände zu Fäusten geballt und bereit, auf den Bruder einzuschlagen. Rasch trat Rebeca dazwischen, legte beschwichtigend ihre Hand auf Juans Brust und drückte ihn wieder aufs Sofa, um sich flugs auf seinen Schoß zu setzen. Auch wenn Juan sich fügte, so schrie er Jiacinto doch an: »Hör auf, solche Lügen über mich zu erzählen! Ich würde nie die Notsituation von Frauen ausnutzen! Mein Leben lang war ich bei keiner Hure!«

Rebeca zwinkerte Victoria zu. »Die beiden sind anstrengend, nicht wahr? Meine Brüder müssen sich immer streiten. Juan glaubt an den Sozialismus. Und Jiacinto an gar nichts.«

Jiacinto lachte auf, widersprach aber trotzdem: »Das ist nicht wahr. Auch Anarchisten haben ihren Glauben. Wir glauben an uns selbst, an das Menschengeschlecht und seine Weiterentwicklung, wir glauben an den Gott der Zukunft … und, wie gesagt, an die freie Liebe.«

»Aber ihr glaubt nicht an den Staat«, grummelte Juan. »Ihr seid überzeugt, dass sich die Regierung ohnehin nie reformieren lässt, weswegen ihr nichts anderes tut, als zu protestieren, Unruhe zu stiften und Wahlen zu boykottieren. Nur – wenn man sich dem Staat verweigert, wie will man ihn je verändern?«

»Er wird sich ohnehin nie verändern«, meinte Jiacinto lapidar. »Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer, die Regierung ist skrupellos und geldgierig.«

Juan schüttelte den Kopf. »Nur weil man gegen den Kapitalismus ist, muss man nicht auch gegen jede Form der Institution sein.«

»Ach, genug davon. Was hat je eine Regierung gegen soziale Missstände getan?«

»Sieh dir die Lage in Argentinien an. Dort geht’s gerechter zu, weil es mehr Gesetze gibt, die das Leben bestimmen. Gesetze, die du nicht willst. Was mich fragen lässt, ob du vielleicht gar kein Anarchist, sondern ein Liberaler bist. Die wollen doch auch, dass sich der Staat so weit wie möglich aus allen Belangen zurückzieht.«

Nun war es Jiacinto, der wütend die Fäuste ballte. »Ganz sicher bin ich kein Liberaler! Habe ich mich nicht einst auf der Straße geprügelt – nämlich für das Recht auf den freien Sonntag, das diese Ausbeuter verhindern wollten?«

»Mit Prügeleien erreicht man für gewöhnlich gar nichts. Man muss sich zusammenschließen, in Form von Gewerkschaften und Organisationen, lokal wie überregional. Man muss vernünftig planen und das Machbare im Auge behalten. Und manchmal muss man verhandeln, statt lediglich zuzuschlagen.«

»Gott, wie langweilig!«, zischte Jiacinto.

»Außerdem muss man sich die Menschen zu Verbündeten machen, mit denen man nicht viel gemein hat. Die Kirche zum Beispiel …«

»Hör mir doch auf mit den Pfaffen!«

»Nicht alle, die eine Soutane tragen, sind schlecht. Es gibt auch Priester, die sich auf die Seite der Armen schlagen.«

»Hör mir doch auf!«, wiederholte Jiacinto. Er beugte sich über Rebeca, um einen neuerlichen Zug von ihrer Zigarette zu nehmen, und blies Rauchkringel in die Luft. Während des ganzen Streitgesprächs hatte Victoria ihren Blick nicht von ihm lassen können, auch wenn vieles, was er sagte, sie zum Widerspruch reizte. Bis jetzt hatte sie nicht gewagt, sich einzuschalten, doch in die Pause, die jäh entstanden war, hörte sie sich plötzlich sagen: »Juan José Julio Elizalde.«

Jiacinto fuhr ruckartig hoch. »Bitte?«

Victoria reckte ihr Kinn. »Juan José Julio Elizalde, besser bekannt als Papst Julio, war einer jener Priester, der sich unermüdlich in den Dienst der Armen stellte. Am Ende hat er sogar mit der Amtskirche gebrochen.«

Jiacinto grinste und trat dann langsam auf sie zu, bis er so dicht vor ihr stand, dass sie die Hitze seines Körpers spüren konnte: »Mit der Amtskirche brachen aber auch manche junge, geldgierige Männer der Oberschicht – das allein ist noch kein Verdienst.«

»Aber das bedeutet, dass man aus dem, was ein Mensch ist, noch keine Rückschlüsse darauf ziehen darf, was er tut und denkt. Ob einer reich, ein Priester oder Anarchist ist – das allein macht ihn noch zu keinem guten oder schlechten Menschen.«

Jiacinto legte den Kopf schief.

»Meine Rede!«, rief Juan dazwischen. »Es geht nicht darum, wer die schönsten Reden schwingt, sondern am meisten erreicht! Um etwas zu erreichen, braucht man wiederum Geld. Und dieses Geld verdienen im Augenblick Rebeca und ich. Du tust nichts weiter, als ab und an die Faust zu erheben.«

Jiacinto achtete nicht auf ihn. Er beugte sein Gesicht zu Victorias herab, hob plötzlich die Hand und streichelte ihr über die Wange. Die Berührung brannte wie Feuer.

»Hast du Geld, Mädchen? Ganz egal, ob ererbt oder selbstverdient – was würdest du für eine gute Sache geben?«

Victoria war sich sicher, dass seine Finger ein schwarzes, schwärendes Loch auf der Wange schlagen würden, dennoch zuckte sie nicht zurück. »Für eine gute Sache gebe ich alles, was notwendig ist. Tatkraft und Leidenschaft und natürlich auch Geld.«

Jiacinto ließ seine Hand sinken und lachte auf. »Du siehst zwar aus wie eine alte Matrone, aber irgendwie gefällst du mir.«

Erneut wollte er die Hand heben und sie berühren, doch plötzlich – Victoria hatte sie nicht kommen sehen – trat Rebeca dazwischen, ergriff seine Hand und zog ihn mit sich, um ihn neben Juan aufs Sofa zu drücken und sich nunmehr auf seinen Schoß zu setzen.

Victoria konnte den Blick nicht recht deuten, den sie ihr dabei zuwarf. Er wirkte herausfordernd, triumphierend und irgendwie trotzig. »Meine Brüder müssen immer streiten, aber wenn es darauf ankommt, dann gehen wir füreinander durchs Feuer.«

Juan war kaum merklich von den beiden abgerückt, aber als er Rebeca anblickte, sah Victoria tiefen Respekt und Liebe in seinen Augen. Die drei so vereint zu sehen versetzte ihr kurz einen schmerzhaften Stich. Sie hatte keine Geschwister, aber sich oft danach gesehnt – nach einem Kreis an Vertrauten, wo einer für den anderen einstand.

Jiacinto deutete auf das Glas mit dem Orangenwein, das sie vorhin abgestellt hatte: »Trink noch mehr, Mädchen, dann kommt ein wenig Farbe in dein blasses Gesicht!«

Victoria war verwirrt – gewiss, sie hatte die helle Haut ihrer deutschen Eltern und unterschied sich darum von den Chilenen. Aber warum sah er nicht, wie sie unter seiner Berührung errötet war?

Sie zuckte die Schultern und entschied, nicht länger darüber nachzudenken. Schwungvoll setzte sie das Weinglas an und nahm einen kräftigen Zug.


Die gemeinsamen Abendessen bei Valentina verliefen für gewöhnlich ruhig und gesittet. Manchmal führte Pepe seine misslaunigen Selbstgespräche, manchmal stellte Valentina Fragen. An diesem Abend kam sie jedoch erst gar nicht zum Reden. Kaum saßen die Mädchen am Tisch, sprudelten die Erlebnisse aus ihnen heraus. Wild gingen Worte und Themen durcheinander, Hygiene und Kunst, Kropfexstirpation und Ölmalerei, Anarchisten und Anisbonbons.

Letztere hatte Aurelia von Tiago zum Abschied geschenkt bekommen, und stolz hob sie die Tüte hoch, als sei dies ihr kostbarster Schatz. »Das habe ich von Tiago Alvarados bekommen. Er wird mich künftig auf der Escuela unterrichten!«

Trotz der Unruhe, die das Geplapper mit sich brachte, lächelte Valentina wohlwollend. Pepe dagegen rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her und fühlte sich von den Mädchen offenbar in seinem Recht beschnitten, laut über das Leid der Welt im Allgemeinen und sein persönliches Elend im Besonderen zu sinnieren.

»Ich wusste doch, du bist begabt!«, rief Victoria triumphierend – und ging das erste Mal auf etwas ein, was Aurelia und nicht sie selbst am heutigen Tag erlebt hatte. »Du wirst eine große Malerin werden; das haben nun auch die Professoren der Escuela eingesehen.«

Zwar war es nur ein Professor gewesen, aber das ließ Aurelia lieber unerwähnt – genauso wie das unerquickliche Treffen mit Señor Ponce. »Tiago ist so höflich … so wohlerzogen … so zuvorkommend. Er ist ein großer Maler, auch wenn er mir nicht erzählt hat, woran er arbeitet. Gewiss wollte er mich nicht bloßstellen, weil seine Bilder so viel besser als meine sind.«

Victoria rümpfte die Nase. »Warum sollen seine Bilder denn besser sein? Etwa weil er ein Mann ist? Pah! Warum sollen Männer von Natur mehr Talente haben als Frauen? Wir sind doch alle Menschen! So sieht das auch Rebeca … und Jiacinto ist der gleichen Meinung. Schwester Adela dagegen ist eines dieser frommen Schafe, das wohl noch nie einen eigenständigen Gedanken gefasst hat. Die Art, wie sie vor Doktor Espinoza buckelt, war einfach widerwärtig!«

Aurelia horchte auf, denn der Name kam ihr bekannt vor. Hieß nicht auch Andrés, Tiagos Freund, mit Nachnamen Espinoza, und hatte der nicht von seinem Vater gesprochen, der im Krankenhaus arbeitete? Doch in der Aufregung erschien ihr das nicht sonderlich bedeutsam. »Tiago hat sich so viel Zeit für mich genommen«, fuhr sie fort. »Wir haben den ganzen Nachmittag miteinander verbracht, und ich durfte ihm erzählen, mit welchen Farben ich arbeite.«

»Du durftest?«, fuhr Victoria wieder auf. »Das ist doch dein gutes Recht, von deiner Arbeit zu berichten, keine Gnade! Im Übrigen solltest du auf dich stolz sein, weil du auf der Schule aufgenommen wurdest. Was rühmst du ständig diesen … Tiago?«

»Er hat gewiss schon viele Ausstellungen gehabt. Er ist mit so viel Respekt behandelt worden, obwohl er kaum älter ist als ich.« Genau genommen war das übertrieben – schließlich hatte sie Tiago nur gemeinsam mit Señor Ponce gesehen, aber das wusste Victoria nicht. »Ich hoffe, er zeigt mir eines Tages seine Bilder«, seufzte Aurelia.

»Ich hoffe, er beschäftigt sich vor allem mit deinen!« Victorias Stimme wurde schrill. »Wer genau ist er überhaupt? Wie heißt er noch mal mit Nachnamen?«

»Alvarados«, sagte Aurelia stolz und betonte jede Silbe mit Bedacht.

Valentina beugte sich nachdenklich vor. »Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor, wenn ich auch nicht weiß, woher.«

Aurelia zuckte die Schultern.

»Und er ist einer der Professoren?«, fragte Victoria misstrauisch. »Obwohl er noch so jung ist?«

Aurelia geriet ins Zweifeln. Dass er ein Professor sei, hatte Tiago eigentlich nicht ausdrücklich gesagt. »In jedem Fall ist er ein großartiger Maler!«, rief sie überzeugt.

»Du hast doch eben gesagt, dass du seine Bilder noch nicht gesehen hast«, erwiderte Victoria schroff, »woher willst du also wissen, wie gut er ist? Womöglich gar besser als du?«

»Hätte er sonst auf der Escuela de Bellas Artes studiert?«

»Das tust du doch jetzt auch.« Victorias Blick wurde stechend, als Aurelia verlegen den ihren senkte. »Oder etwa nicht?«

»Eigentlich ist es lediglich so, dass Tiago mir ein paar Stunden geben will, und dann …«

»Wie?«, unterbrach Victoria sie wütend. »So sieht also dein Erfolg an der Escuela aus? Du hast einem Mann schöne Augen gemacht – und das war’s? Eine Frau sollte nie auf diese Weise ihre Ziele erreichen!«

Aurelia errötete, hob jedoch trotzig den Blick. »Das ist doch meine Sache, oder nicht?«

Victorias Kiefer mahlten, aber ehe sie noch etwas sagen konnte, beugte sich Valentina vor. »Nun streitet euch doch nicht!«, mahnte sie streng.

»Aber wenn sie …«, begannen beide Mädchen wie aus einem Mund, um der jeweils anderen die Schuld für die Auseinandersetzung zuzuweisen.

»Schluss jetzt!« Valentinas Stimme klang wie ein Peitschenknall, und ihr wohlwollendes Lächeln schwand aus dem Gesicht. »Genug geredet, jetzt wird gegessen.«

Sie rieb sich die Schläfen, als hätte sie Kopfschmerzen. Pepe dagegen sah erstmals gelöst aus. Offenbar befriedigte es ihn tief, dass dieses Mal andere den Tadel seiner Mutter abbekommen hatten – und nicht wie üblich er.

Die Mädchen fügten sich der strengen Stimme und begannen, brav ihre Suppe zu löffeln.

Im Schatten des Feuerbaums: Roman
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