26. Kapitel

Die Ausflüge in die Wüste, die Victoria mit Jacob auf Maultieren machte, führten immer weiter von der Mine fort und dauerten zunehmend länger. Anfangs hatte sie noch die Furcht begleitet, dass sie sich wieder verirren würde, so wie an dem Tag, da sie den Verletzten gefunden hatte. Doch mit der Zeit konnte sie sich sehr gut orientieren. Auf den ersten Blick sah in der Wüste alles gleich aus, aber wer mit wachem Blick durch diese Einöde schritt, konnte bald den einen knorrigen Tamarindenbaum vom anderen unterscheiden oder anhand des Standes von Sonne, Wolken und der fernen Vulkanspitzen die Himmelsrichtungen festlegen und seinen Weg bestimmen. Je weiter sie sich fortwagte, desto größer war auch der Lohn – Landschaften, die nur ein seelenloser Mensch als unwirtlich benennen konnte, die für sie jedoch einen ganz besonderen, einzigartigen Zauber atmeten. Sie kamen an Seen vorbei, in denen Flamingos nach kleinen Krebsen fischten, an Geysiren, die schwefelhaltiges Wasser spuckten, an Kakteen, die leuchtende Blüten hervortrieben. Manchmal begegneten sie auch Menschen – Atacameños, Händlern und Minenarbeitern, einmal auch einem Mann, der verbissen den Wüstensand durchwühlte.

»Was tun Sie denn da?«, fragte Victoria überrascht, und nach längerem Zögern gab der Mann zu, dass sich im Sand immer noch spanische Münzen und Juwelen der Inkas finden ließen, die hier jahrhundertelang vergraben lagen.

Dann wandte er sich wieder dem Graben zu – und während Victoria weitergehen wollte, blieb Jacob stehen und starrte fasziniert auf den Mann.

»Er tut letztlich das Gleiche wie ich«, murmelte er, »er gräbt nach einem Schatz, ich nach meinen Erinnerungen.«

Er ließ ungesagt, dass ihrer beider Ausbeute nicht sonderlich groß war, und obwohl Victoria zunächst die üblichen tröstenden Worte auf den Lippen hatte, fragte sie dann mit aller Offenheit: »Falls du dich nie wieder erinnern kannst – wie wirst du dann weiterleben?«

Er zuckte die Schultern. In den ersten Wochen hatte er stets so verzweifelt gewirkt, nun schien er etwas abgeklärter – und zugleich verschlossener. »Wenn man nicht weiß, woher man kommt, woher soll man dann wissen, was man kann und was man sein soll?«

»Nun, vielleicht musst du einfach so viel wie möglich ausprobieren.«

»Ich weiß, dass ich Englisch spreche, und ich kann mich wohl oder übel auf einem Maultier halten«, murmelte er. Sein Lächeln war spöttisch, aber es erreichte seine Augen nicht. »Kochen kann ich allerdings nicht. Als ich es gestern Abend versuchte, hat mich Teodora gleich vom Herd verjagt.«

»Mich verjagt sie auch – das hat mit Kochkünsten nichts zu tun«, erwiderte Victoria. Seit Jacob nicht mehr bewusstlos war, war Dora wieder deutlich feindseliger. Clara dagegen setzte sich manchmal am Abend zu ihr und Salvador auf die Bank und schien die Nähe zu genießen.

Wortlos ritten sie weiter und ließen den Schatzsucher hinter sich. Wenig später kamen sie an einem kleinen Dorf vorbei, das einst von den Spaniern errichtet worden war und später von den Indios bewohnt wurde. Viele dieser Dörfer waren verwaist, weil ihre Bewohner sich entweder in die Hochebenen zurückgezogen hatten oder in den Minen oder Paprikaplantagen an der Küste arbeiteten. Auch hier herrschte zunächst Totenstille, aber dann sahen sie ein paar Kinder im Schatten der Hauswände hocken, die sie aus großen, dunklen Augen musterten. Vor ihnen sprangen ein paar junge Lamas herum, alle mit Wollkordeln an den Ohren. Sie hielten die Maultiere an und stiegen ab.

»Die Wollkordeln sind ein Zeichen für Pachamama, die Erdenmutter«, erklärte Victoria, die sich angewohnt hatte, zu allem und jedem etwas zu sagen und so vielleicht Jacobs Erinnerungen zu beleben. »Sie ist die große Erdenmutter und soll die Lamas gut über den Winter bringen.«

»Woher weißt du das?«

»Ich bin mir nicht sicher, ich habe es wohl irgendwo aufgeschnappt. Salvador und ich behandeln manchmal auch Indios, und es ist hilfreich, wenn man so viel wie möglich über die Menschen weiß, mit denen man zu tun hat.«

»Nur über mich«, seufzte Jacob, »weiß du so gut wie gar nichts. Und ich wiederum weiß so gut wie gar nichts von dir. Schließlich reden wir fast immer nur über mich – ich habe dir kaum Fragen gestellt.«

»Das ist vielleicht auch ganz gut so«, gab sie zurück. Insgeheim war sie tatsächlich froh, dass Jacob so wenig über sie wusste, denn sie genoss es, sich an seiner Seite wie ein neuer Mensch zu fühlen, dessen Vergangenheit keine Bedeutung hatte. In seiner Gegenwart zählte nur der Kampf um seine Erinnerungen – nicht die Lasten des eigenen Lebens.

»Nun, ich weiß nicht viel über dich, aber ich weiß, dass du stark bist, fürsorglich, stur … und dass ich ohne dich tot wäre.«

Während er sprach, war er stehen geblieben, und plötzlich nahm er ihre Hand und drückte sie. Es war eine etwas verlegene Geste, und er wich ihrem Blick dabei aus, doch wie sie dastanden, betrachtete sie ihn ihrerseits genauer. Bis jetzt hatte sie seine Miene nur studiert, um zu prüfen, wie es ihm ging und ob ihm Sonne und überstandene Verletzung nicht zu sehr zusetzten. Und natürlich hatte sie all die widerstreitenden Gefühle gelesen, mit denen er zu kämpfen hatte – Zorn und Ohnmacht, Hilflosigkeit und Verzweiflung. In diesem Augenblick aber vermeinte sie, zum ersten Mal den Menschen zu sehen, der er gewesen war – und auch dieser Mensch, sehr fein, nahezu aristokratisch, musste die Traurigkeit gekannt haben, die ihn jetzt so oft überkam, auch wenn ihre Ursache eine andere gewesen war. Sie erahnte eine Sehnsucht an ihm – viel älter als die, wieder zu wissen, wer er war.

Abrupt ließ er ihre Hand los, wandte sich ab und trat in den Schatten eines Tamarugobaums. Schwer stützte er sich gegen das vermeintlich tote Holz, dessen Wurzeln so tief in die Erde reichten. Victoria folgte ihm. Die kleinen, harten Blätter des Baums, die man als Viehfutter nutzte, stachen ihr ins Gesicht.

Sie wusste nichts zu sagen – und auch er brachte kein Wort hervor, und da erst ging ihr auf, dass sie mit ihm noch nie geschwiegen hatte so wie an den Abenden mit Salvador. Er hatte immer um Erinnerungen gerungen – sie versucht, diese anzuspornen, aber Stille zwischen ihnen war ihr ganz und gar fremd, war auch keine Wohltat wie in Salvadors Gegenwart, sondern schürte eine gewisse Anspannung.

Er musste es als ähnlich unangenehm empfinden wie sie, denn plötzlich begann er, gehetzt zu sprechen: »Ich weiß von dir, dass du vieles kannst. Du lernst sehr schnell und merkst dir vieles, nicht wahr? Sonst hättest du mir nicht vom Salpeterabbau erzählen können, obwohl du damit nichts zu tun hast. Gewiss bist du eine hervorragende Krankenschwester, und …«, er zögerte kurz, ehe es aus ihm herausbrach, »… und in deiner Gegenwart fühle ich mich noch mehr als Nichtsnutz, fühle ich mich noch … nackter.«

»Sag so etwas nicht! Nur weil du es nicht mehr weißt, heißt es nicht, dass du nichts kannst.«

»Aber das, was ich kann, erscheint mir so … bedeutungslos. Ich habe es dir noch gar nicht gesagt, aber seit einiger Zeit schwirren mir ständig irgendwelche Zahlen im Kopf herum. Ich glaube, ich kann ganz gut rechnen.«

»Dann tu es doch einfach! Rechne!«

Er schüttelte den Kopf. »Aber diese Zahlen interessieren mich nicht! Ich möchte nicht rechnen können, ich möchte wissen, ob ich eine Frau gehabt habe, ob ich Vater bin.«

Wieder ergriff er plötzlich ihre Hand, diesmal nicht, um sie zu drücken, sondern um zart darüber zu streicheln. Sie erstarrte, aber entzog sich ihm nicht, auch dann nicht, als er die andere Hand hob, sie zu ihrem Gesicht führte und ihre Wangen berührte.

»Fühlt es sich für dich vertraut an, eine Frau zu anzufassen?«, stieß sie heiser hervor. Ihr wurde kalt und heiß zugleich.

Er nahm seine Hand nicht zurück, streifte ihre Schläfen, ihre Nasenspitze, fuhr über ihre Lippen. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht.«

Victoria schluckte schwer. »Aber ich weiß es«, murmelte sie, »ich spüre es. Dass du ungemein zärtlich sein kannst. Dass du irgendwann so zärtlich zu einer Frau gewesen bist. Dass du sie … geliebt haben musst.«

Er zog seine Hand zurück, aber sie erlaubte ihm nicht, aus dem Schatten des Baums zu treten. Sie packte nun ihrerseits seine Hand, beugte sich darüber und küsste sie. Seine Haut war rauh und warm. »Und fühlt sich das für dich ebenfalls vertraut an?«, fragte sie leise.

Als sie den Kopf hob, starrte er sie an. Sie glaubte in seinen Augen etwas aufblitzen zu sehen, vielleicht eine Erinnerung, vielleicht einfach nur ein starkes Gefühl, das ihn übermannte. Sie ließ seine Hand nicht los, zog sie an ihre Brüste, zwang ihn dazu, sie zu befühlen. Sie sah, wie er erzitterte, und erschauderte selbst. Jiacinto war bis jetzt der Einzige gewesen, der sie hier berührt hatte, nicht annähernd so zärtlich, sondern nachlässig, spöttisch, als wäre ihr Körper nur ein Spielzeug. Aber Jacob wusste nichts von Jiacinto – und deswegen verblasste alsbald jede Erinnerung daran, so als hätte einer, der sein Gedächtnis verlor, die Macht, auch bei ihr alles Vergangene auszumerzen. Kurz war es bedeutungslos. Kurz gab es nur sie beide auf der Welt, ohne Gestern, ohne Morgen.

Seine Hand glitt von der einen Brust zur anderen, dann etwas tiefer, streichelte ihren Bauch. Plötzlich ließ er sie wieder los, jedoch nur, um ihren Nacken zu umfassen, sie an sich zu ziehen und sie zu küssen.

Nie war sie so geküsst worden, so sanft, so vorsichtig, so zärtlich. Jiacintos Küsse waren stets grob ausgefallen, nicht weil er ihr weh tun wollte, sondern weil er den Anschein gab, dass ihm – außer seinen politischen Überzeugungen – nichts wichtig genug war, um sonderlich viel Aufmerksamkeit darauf zu verschwenden, ob an seine Sauberkeit, seine Kleidung, seine Haare – und eben auch an Gesten der Zuneigung. Gehetzt und nachlässig, kamen sie bei ihm nie an erster Stelle, waren lediglich Unterbrechungen.

Jacob und sie aber hatten alle Zeit der Welt, sich vorsichtig zu erforschen. Nichts Wildes, nichts Drängendes, nichts Brutales lag darin, als ihre Lippen erst eine Weile aufeinanderlagen, sich dann öffneten, sich ihre Zungen fanden, sich dem Geschmack des anderen hingaben.

Erst wurde Victoria ganz steif, dann hatte sie das Gefühl, zu zerschmelzen. Die Grenzen zwischen ihrem und seinem Körper schienen aufgeweicht; bedeutungslos wurde, dass er nicht wusste, wer er war. Sie wollte es nicht wissen, wollte noch weniger wissen, wer sie selber war oder sein konnte, wollte nur küssen und halten und umarmen und lieben und begehren.

Sie hob die Hände, um auch seinen Nacken zu umschließen, doch kaum berührte sie die heiße Haut, spürte sie, wie er erstarrte. Abrupt lösten sich seine Lippen von ihren; er riss sich von ihr los, ließ seine Hände sinken. Seine Züge, eben noch so hingebungsvoll, verdunkelten sich. Er fuhr sich mit der Hand an den Mund, als gelte es, mühsam zu begreifen, was er da getan hatte und warum.

»Jacob …«, flüsterte sie.

Entsetzen stand in seinem Gesicht geschrieben, altvertraute Verzweiflung – und plötzlich Erkennen.

»Eine Frau!«, stieß er aus. »Es gab eine Frau in meinem Leben … Ich weiß es, zwar nicht, wie sie heißt, nicht, wie sie aussieht, aber dass ich sie liebe … unendlich liebe …«

Er wandte sich abrupt ab und stürmte auf die Maultiere zu.

»Jacob …«

»Ich muss sie suchen!«

»Aber wenn du doch nicht weißt, wer sie ist!«

»Ich muss sie suchen!«, wiederholte er, und diesmal schrie er.

Auch sie trat nun aus dem Schatten des Tamarugobaums. Ihre Blicke trafen sich, und während ihrer voller Schmerz und Sehnsucht war, war der seine leer. Er sah sie an, aber zugleich durch sie hindurch. Die Nähe, die Vertrautheit, die sie vor wenigen Augenblicken erlebt hatten, hatte er nicht ihr geschenkt, nur dieser fremden Frau. Sie war nichts weiter als ein Ersatz für ihn – und würde es immer bleiben, selbst wenn er jene andere nie wiederfand.

Die Erkenntnis, dass sie mehr für ihn empfand als er für sie, traf sie härter als erwartet. Auch wenn er nicht wusste, wer er war – er hatte eine Vergangenheit. Und auch wenn sie sich eingeredet hatte, sie könnte es an seiner Seite abschütteln, wiederholte sich ihr Schicksal.

Am Ende bin ich allein …

»Ich muss sie suchen«, stammelte er nunmehr ganz leise, »auch wenn ich nicht weiß, wo ich damit anfangen soll …«

Sie ritten schweigend heim, warfen sich nur dann und wann vorsichtige Blicke zu. Sie spürte seinen Schmerz, und vielleicht spürte er ihren, doch dieser Schmerz einte sie nicht, sondern vertiefte die Kluft, die sich plötzlich zwischen ihnen aufgetan hatte.


Bis zum Abend konnte Victoria die Fassung wahren und sich vorgaukeln, dass Jacobs Zurückweisung ihr nichts ausmachte. Doch als sie bei Einbruch der Dunkelheit wie immer neben Salvador auf der Bank Platz nahm, konnte sie nicht länger vor ihren Gefühlen davonlaufen. Sie war getroffen und tief gekränkt, wenn sie auch nicht genau wusste, warum. Eigentlich kannte sie Jacob zu wenig, um sich in ihn zu verlieben wie einst in Jiacinto – mit all den Unsicherheiten, Ängsten, Sehnsüchten und der Verzweiflung. Gewiss, sie war von Jacob fasziniert und fühlte sich von ihm angezogen – allerdings nicht von dem, was er war, sondern von dem Geheimnis, das ihn umgab. Und überdies war es verständlich, dass er sie – wie auch jede andere Frau – zurückweisen würde, solange er keine Erinnerungen hatte.

Dennoch: Sie hatte das Gefühl, einen schmerzhaften Schlag erhalten zu haben, und wusste plötzlich, dass sie nicht wieder aufhören könnte zu weinen, wenn sie erst einmal damit anfing. Noch gelang es ihr, die Tränen zu unterdrücken, aber der Kampf gegen sie machte alles noch schlimmer. Ihre Kehle wurde schmerzhaft eng.

Salvador rauchte zunächst seelenruhig weiter, als würde er ihren inneren Aufruhr nicht bemerken, doch irgendwann legte er plötzlich seinen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. Victoria war verwirrt. Sie hatte gedacht, dass ein Mann wie er, weder sonderlich herzlich noch charmant, den Umgang mit Frauen nicht geübt war, dass jede Berührung darum steif und vorsichtig ausfallen würde. Doch sein Arm ruhte so selbstverständlich auf ihren Schultern, dass sie unwillkürlich ihren Kopf darauf sinken ließ. Es war beruhigend, so zu verharren und zu fühlen, dass sie sich ihm nicht lang und breit erklären musste, sondern dass er zu ahnen schien, was geschehen war.

»Es ist lächerlich, deswegen zu leiden«, murmelte sie, »ich weiß nicht einmal, wer er ist.«

Verstohlen wischte sie sich eine Träne ab.

»Man fühlt, was man fühlt. Und meistens gibt es einen guten Grund dafür. Was soll daran lächerlich sein?«, gab er zurück.

»Aber ich weiß doch nicht einmal, was ich fühle!«, brach es aus Victoria heraus. »Gewiss, Jacob ist mehr geworden als nur mein Patient, und dennoch … dennoch …« Sie rang nach Worten, fand jedoch keine.

»In jedem Fall fühlst du dich ihm nahe.«

Victoria atmete tief durch. »Es hat nicht nur mit ihm zu tun«, gestand sie sich ein, »sondern auch damit, dass ich immer nur die … Zweite bin. Er weiß nicht, wer sie ist – aber er liebt eine andere Frau. Mich hingegen kann er gar nicht lieben, obwohl ich doch so viel für ihn getan habe. Ich habe ihm das Leben gerettet, ich habe ihn wochenlang gepflegt, ich habe …« Sie brach ab. »Nun gut«, schränkte sie ein, »dies ist mein Beruf … meine Pflicht als Krankenschwester … aber … aber … ich habe auch für Jiacinto alles getan, obwohl das nicht meine Pflicht gewesen ist. Ich habe den Carrizos mein ganzes Geld gegeben, ich habe versucht, ihn zu beeindrucken, ich habe alles, was er sagte, als Wahrheit hingenommen, und am Ende …«

Sie schluckte trocken. Plötzlich war es ihr unangenehm, dass sie sich so hatte gehenlassen. Salvador wusste nicht einmal, wer die Carrizos waren, wie sollte er ihre wirren Worte verstehen? Sie wollte von ihm abrücken, doch er hielt sie fest.

»Ich verstehe nicht viel von der Liebe«, murmelte er zwischen zwei Zügen an seiner Pfeife. »Aber ich denke mir, dass du verdient hast, für das geliebt zu werden, was du bist, und nicht für das, was du tust.«

Victoria schüttelte unwirsch den Kopf. »Wer bin ich denn?«, rief sie. »Die meisten Männer sehen mich an und denken, dass es Frauen gibt, die schöner sind und weicher und lieblicher und freundlicher. Ich hingegen bin zu spröde, zu streng, zu hart und …«

»Ach was«, fiel er ihr ins Wort. »Du bist wie die Wüste – und diese Wüste ist auf den ersten Blick karg und abweisend und gewiss kein Ort für die Verweichlichten. Aber niemand kann behaupten, dass die Wüste langweilig wäre oder ob der Kargheit ohne Farben: Gewiss, zunächst mag man kaum mehr sehen als die grauen und ockerfarbenen Hügel, doch in der Ferne schimmern schneebedeckte Vulkane, und inmitten der Berge warten tiefblaue Lagunen, grüne Oasen und Salzseen, die im Abendlicht in sämtlichen Pastelltönen funkeln. Wenn im Oktober und November manchmal Regen fällt, ist die Wüstenlandschaft übersät von Blumen. Und auch wenn die Blumen wieder vertrocknen – dort, wo der Küstennebel kondensiert, gedeihen dunkelgrüne Farne, Olivillo- und Arrayánbäume. Man muss sie nur zu finden wissen, man muss aufmerksam für die Kleinigkeiten werden. Weißt du, in der Wüste werden die Sinne sensibel. In der lauten, schönen, bunten Welt sieht man so vieles nicht, wird man so blind. Hier aber ist ein rot-gelber Schmetterling, der wie aus dem Nichts geflattert kommt, bereits ein Wunder. Und ja, du bist wie die Wüste.«

Als er geendigt hatte, zog er wieder an der Pfeife. Der süßliche Geruch wurde plötzlich übermächtig, schien jede Pore ihres Körpers zu durchdringen, und Victoria war sicher, dass sie ihn nie wieder von Salvador und diesem Abend trennen könnte. Sie hatte gebannt gelauscht – zutiefst bewegt davon, dass Salvador überhaupt so viele Worte machte, dass sie so poetisch klangen und dass jedes einzelne dazu diente, ihr die alte Selbstsicherheit wiederzugeben.

Die Tränen ließen nach, stattdessen wollte sie den Mund öffnen, um ihm für den Zuspruch zu danken. Doch ehe sie etwas sagen konnte, zog er seinen Arm von ihren Schultern, erhob sich abrupt und hinkte in die Hütte, ohne ihr eine gute Nacht zu wünschen.


Aurelia stockte der Atem. Hector war stehen geblieben, blickte forschend nach rechts und links. Er musste sie entdeckt haben … war sich allerdings noch nicht sicher, wer da dieser Schatten in der Dunkelheit war.

»Wer ist das?«, rief er streng.

Aurelia überlegte hektisch, wo sie sich verstecken konnte. Es war zu weit, um den Schutz der Häuser zu erreichen, und auch bis zum Stall konnte sie nicht laufen, ohne von ihm gesehen zu werden. Es gab weder einen Busch noch einen Baum, um sich dahinter zu verstecken. Wenn er noch einen Schritt weiter auf sie zumachte, würde er sie erkennen – wenn sie einfach vor ihm davonlief, würde er zwar ihr Gesicht nicht sehen, aber sie hören und ihr folgen.

Angst und Panik drohten ihr die Kehle zuzuschnüren. Sie wollte schon die Schulter straffen, ihm entgegentreten, um wenigstens letzte Würde zu bewahren, als plötzlich eine Stimme ertönte.

»Ich bin es! Ich bin es nur!«

Nicht weit von ihr entfernt trat Marisol aus dem Dunkeln des Hofs. Offenbar war sie ihr dorthin gefolgt und gab nun vor, diejenige gewesen zu sein, die Hector gehört hatte.

»Was hast du hier zu suchen?«, schrie er sie an.

Marisol trat an Aurelia vorbei und ging, während sie seine Frage beantwortete, immer weiter von ihr fort, so dass Hector ihr notgedrungen folgen musste und nicht bemerkte, dass sich noch eine zweite Gestalt in der Dunkelheit verbarg.

»Es … es fällt mir schwer, es zu sagen«, stammelte Marisol hilflos, »aber ich muss es einfach tun. Mein Bruder … mein Bruder hat sich aus dem Staub gemacht. Und zwar mit zwei Pferden, die er aus dem Stall gestohlen hat. Ich sollte ihn eigentlich nicht verraten, er ist doch mein Verwandter, aber zugleich denke ich mir: Die Treue zu meinem Patron ist wichtiger. Also sage ich es Ihnen. Richtung Westen ist er geritten, vor nicht einmal einer Stunde.«

Marisols Stimme ging in ein heftiges Schluchzen über. Noch lauter als dieses war Hectors Fluchen.

Aurelia blickte sich um. Wohin sollte sie nun gehen? Gewiss würde Hector all seine Männer zusammenrufen, man würde die Jagd auf den Pferdedieb aufnehmen, und gewiss würde man sie hier entdecken, wenn sie nicht …

Ihr Herz schien auszusetzen, als sich plötzlich eine schwielige Hand auf ihren Mund legte.

»Keinen Mucks.«

Vor Schrecken hätte sie ohnehin nicht schreien können. Doch instinktiv begann sie, sich zu winden und wild um sich zu strampeln. Der Griff blieb fest.

»Ich bin es doch nur!«, erklärte eine fremde Stimme. »Luis … komm mit!«

Die Hand löste sich von ihrem Mund, und Aurelia atmete tief aus. Während Marisol weiterhin auf Hector einredete und ihn dadurch ablenkte, er schließlich nach seinen Männern und Hunden rief, zog Luis sie in die andere Richtung. Schon nach wenigen Schritten hatte Aurelia die Orientierung verloren. Sie wusste nicht, ob die Mauern, an denen sie entlangliefen, noch zum Haupthaus, den Wirtschaftsgebäuden oder dem Stall gehörten. Sie fühlte nur, dass der Boden immer feuchter wurde. Spitz stachen ihr die Halme eines abgeernteten Feldes in die Fußsohle, dann erreichten sie eine weichere Wiese, die kniehoch stand, so dass ihr Rock nach kürzester Zeit durchnässt war. Geradewegs ging es auf eine dunkle Wand zu – kein weiteres Gebäude, wie sie zunächst dachte, sondern der Wald. Aurelia konnte nichts erkennen und fürchtete, gegen einen der Bäume zu laufen, doch anders als sie fand Luis mühelos den Weg und zog sie einfach mit sich. Nunmehr waren es Moos und Geäst, auf das sie stiegen, feucht und schlammig auch das. Mehrmals blieb sie bis zum Rist stecken, mehrmals musste sie alle Kraft zusammennehmen, um den Fuß aus dem Dreck zu ziehen.

Blätter klatschten ihr ins Gesicht, und ihre Haare waren bald so nass wie die Kleidung. Die Hustenanfälle kehrten wieder, auch wenn sie sie zu unterdrücken versuchte. Irgendwann, als der Hals so schmerzte, dass sie glaubte, keinen Atemzug mehr machen zu können, erreichten sie eine Lichtung. Mondlicht schien fahl auf zwei schwarze Pferde.

»Schnell!«, befahl Luis. »Dank Marisol werden sie uns in der anderen Richtung suchen.«

Aurelia hatte keine Zeit, um sich vor den Pferden zu fürchten. Mit Luis’ Hilfe schwang sie sich im Herrensitz auf den Sattel, und als das Pferd lostrabte, war es ein vertrautes Gefühl, obwohl sie seit Jahren nicht mehr geritten war. Kurz war da keine Furcht vor der Dunkelheit, kurz waren da keine Schmerzen in Kehle und Brust. Wie das junge Mädchen fühlte sie sich vielmehr, das mit Maril durch die patagonische Steppe geritten war. Der heftige Wind hatte ihr stets ins Gesicht geblasen, ihre Kleidung gebläht, sie dem Trug hingegeben, sie würde fliegen.

Sie musste ihren Kopf tief ducken, damit keine Äste ihr Gesicht trafen, und mit aller Macht die Mähne umklammern, um den Halt nicht zu verlieren – und dennoch fühlte sie sich frei wie damals, ungebunden, überzeugt, dass der bloße Wille, etwas zu schaffen, ausreichte, um es tatsächlich zu kriegen.

Dieser Wille wurde alsbald geschmälert. Sie verließen eben den Wald, als ein heftiger Regenschauer auf sie niederging. Wie Nadelstiche fühlten sich die Tropfen an, und nach kürzester Zeit schien sich anstelle der Kleidung eine Schicht aus Eis über ihren Körper zu legen. Ihr wurde so kalt, dass sie nicht einmal mehr zitterte, und die Schmerzen im Hals wurden so unerträglich, als hätte sie zerborstenes Glas geschluckt.

»Ich kann nicht mehr«, jammerte sie, »ich kann einfach nicht mehr.«

Aber Luis gönnte ihnen keine Pause. »Wenn wir jetzt halten, werden sie uns einholen«, rief er ihr durch den rauschenden Regen und pfeifenden Wind zu. »Wir müssen mindestens bis zum Morgengrauen weiterreiten, ehe wir eine Rast einlegen können.«

Aurelia hob den Blick zum Himmel. Die Regentropfen, die auf sie klatschten, schienen schwarz wie Pech zu sein. Sie konnte nicht glauben, dass jemals wieder die Sonne aufgehen würde. Und dass sie jemals wieder würde atmen können, ohne daran fast zu ersticken.


Als sie am übernächsten Tag in Santiago ankamen, glühte Aurelias Kopf heiß vor Fieber. Ihr vom Regen durchnässtes Kleid war zwar getrocknet, allerdings brach ihr immer wieder der Schweiß aus, der danach kalt am Körper klebte. Sie fror nicht mehr und zitterte dennoch wie Espenlaub. Das Sonnenlicht tat ihr in den Augen weh – ein nichtiges Leid verglichen zu den Schmerzen in der Brust. Wenn sie einatmete, ertönte ein rasselndes Geräusch, wenn sie ausatmete, hustete sie meist und spuckte gelblichen Schleim. Sämtliche Glieder taten weh, und wenn sie sich auch anfangs eingeredet hatte, dass dies die Folge der kräftezehrenden Flucht auf dem Pferderücken war, konnte sie sich nun nicht länger täuschen: Sie war krank, sehr krank. Sie brauchte ein Bett, einen Arzt, Medizin.

Erstmals seit Stunden, da sie immer nur auf den Pferderücken gestarrt hatte, blickte sie sich um. Ihr Tier war dem von Luis nachgetrabt, und der hatte die breite Hauptstraße genommen, die mitten ins Zentrum der Stadt führte. Sie erschien ihr völlig fremd, als hätte sie hier nie gelebt. In einem riesigen, dunstverhangenen Moloch war sie gelandet, voller Stimmen, die ihr die Ohren zu zerreißen schienen, voller Gerüche, die ihre Lungen verpesteten. Eine Straße schien der anderen zu gleichen – und keine war vertraut. Händler priesen die Waren, die sie in Körben mit sich trugen; die feineren Geschäfte wurden eben geöffnet. Tauben und Spatzen flogen an ihrem Kopf vorbei.

Die Kirche … zumindest die Kirche dort vorne kam ihr bekannt vor. Hier war sie einmal gewesen, auch wenn sie nicht mehr wusste, ob mit Tiago oder Alicia. Sicher war sie sich nur, dass die Espinozas in der Nähe lebten, und obwohl sie eigentlich geplant hatte, zuerst zu Valentina und Pepe zu flüchten, dachte sie nun, dass das vielleicht sein Gutes hatte. Doktor Espinoza würde William womöglich sogleich davon berichten, wenn sie in seinem Haus auftauchte – aber trotz allem war er Arzt und würde ihr helfen, und noch bedrohlicher als William waren diese Hustenanfälle.

Zwei Straßen von den Espinozas entfernt hielt sie das Pferd an und rutschte seitlich vom Rücken. Ihr war, als würde der Boden unter ihren Füßen nachgeben – ehe sie begriff, dass es nicht der Boden war, der zitterte, sondern ihre Knie und diese kaum ihr Gewicht tragen konnten. Sie klammerte sich am Pferd fest, während Funken vor ihren Augen explodierten. Ewigkeiten schienen zu vergehen, bis sich das Bild klärte und sie blinzelnd zu Luis hochschauen konnte.

»Wenn du willst, kannst du das Pferd haben, ich brauche es nicht mehr.«

Noch während sie es sagte, ging ihr auf, dass das vielleicht ein Fehler war – desgleichen, wie sich nun bei Luis zu bedanken und von ihm zu verabschieden.

Was sollte sie tun, wenn die Espinozas sie vor die Tür setzten?

Doch als Luis, ihr Pferd am Zügel führend, davonritt, hielt sie ihn nicht auf. Ihr Kopf schien wie in dicke Baumwolle gepackt zu sein. Sie war nicht fähig, weiter als bis zum nächsten Schritt zu denken.

Und Andrés, so redete sie sich ohne Unterlass ein, Andrés war immerhin Tiagos Freund. Er würde sich ihrer annehmen. Er würde sie nicht im Stich lassen.

Die letzte Wegstrecke zu den Espinozas zurückzulegen und die wenigen Stufen zur Haustür hochzugehen fühlte sich an, als würde sie einen Berg beschreiten. Als sie endlich ihr Ziel erreicht hatte, lehnte sie sich eine Weile erschöpft an die Tür und hustete erbärmlich, ehe sie endlich die Kraft fand, um zu klopfen.

Ein Hausmädchen machte ihr auf – Aurelia kannte es aus der Zeit, als sie hier gelebt hatte. Sie selbst schien dem Mädchen dagegen völlig fremd zu sein, so verwirrt und auch leicht angewidert, wie es sie anschaute. Kein Wunder – ihr Kleid war dreckig und voller Flicken, die Haare zerzaust, das Gesicht bleich und ausgezehrt.

»Andrés … ich muss Andrés sprechen …«

Die Miene des Mädchens blieb angewidert, doch immerhin trat es zurück, um Aurelia einzulassen.

»Der junge Doktor ist oben im Labor. Aber ich soll niemanden zu ihm lassen.«

»Mich schon«, brachte Aurelia unter Husten hervor. »Ich bin Aurelia Hoffmann.«

Das Mädchen riss verwundert die Augen auf. Misstrauen regte sich in ihr, aber sie schritt nicht ein, als Aurelia sich daranmachte, die Treppe zum ersten Stock hochzusteigen. Wieder fühlte es sich an, als müsste sie über steinigen Weg einen Gipfel erklimmen.

Wenigstens musste sie nicht Ramiro gegenübertreten. Wäre er hier, so war sie sich sicher, hätte das Hausmädchen ihm bereits Bescheid gegeben. So aber blieb dieses steif an der Haustür stehen, während sich Aurelia Stufe für Stufe hochkämpfte, immer wieder stehen blieb, hustete, nach Luft schnappte.

Im ersten Stock waren alle Vorhänge zugezogen, und diese Finsternis war wohltuend. Die Schmerzen in den Augen ließen nach, und kurz glaubte sie, befreiter atmen zu können. Am finstersten von allen Räumen war das Labor. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wo es sich befand. Sie klopfte an der Tür und trat ein, als niemand ihr antwortete. Anfangs hielt sie den Raum für leer: Zumindest saß niemand hinter dem Tisch, auf dem ein merkwürdiges Gebilde stand, das man Mikroskop nannte. Allerdings fiel das graue Licht nicht bis in den letzten Winkel – vielleicht verbarg sich Andrés dort.

Ein scharfer Geruch lag in der Luft. Nach einem Desinfektionsmittel, das sie einst manchmal an Victoria gerochen hatte, wenn sie aus dem Krankenhaus kam. Und nach … Branntwein.

»Andrés?«

Nur den Namen auszusprechen löste einen neuen Hustenanfall aus. Als die krächzenden, gequälten Laute verstummt waren, hörte sie ein Stöhnen, das nicht aus ihrer Brust kam. Sie trat in den Raum, fühlte, wie die Augen sich an das trübe Licht gewöhnten, und nahm dort hinten in der Ecke eine gekrümmte Gestalt wahr.

»Andrés … was ist passiert?« Sein Anblick entsetzte sie so sehr, das sie für einen Moment nicht an die eigenen Schmerzen dachte. Er hockte dort wie ein Kind, das sich vor etwas fürchtet: den Kopf ganz dicht an die Knie gezogen. Als er unendlich langsam das Gesicht hob, sah sie, dass es aufgeschwemmt und schweißnass war, die Augen rot unterlaufen, die Ringe darunter fast schwarz.

»Es wird nicht besser«, lallte er, »es wird einfach nicht besser …«

Nicht weit von ihm entfernt stand eine Lampe. Sie machte sie an und stieß dabei gegen einige Flaschen, die über den Boden rollten. Drei waren es insgesamt – er musste erst heute Morgen den Inhalt von allen getrunken haben. Der Gestank setzte ihr zu, aber noch mehr der Schwindel, der sie packte. Ob sie wollte oder nicht – sie konnte gar nicht anders, als sich neben ihm auf den Boden sinken zu lassen.

»Was wird nicht besser?«, stieß sie unter Husten hervor.

Als er zu sprechen begann, dachte sie noch, dass er die Trauer um Tiago meinte. Doch mit jedem Wort, das er stotterte, wurde seine Rede wirrer.

»Das Problem ist, dass wir an unserem Elend immer anderen Menschen die Schuld geben. Das ist ein Fehler. Mein Vater zum Beispiel hat mich nie geliebt – und ich habe stets gedacht, dass es daran liegt, weil meine Mutter bei meiner Geburt gestorben ist. Aber heute denke ich mir: Wenn er sie wirklich geliebt hätte, hätte er öfter von ihr gesprochen, hätte mehr Bilder von ihr aufbewahrt, ihre Kleidung und ihren Schmuck. Das hat er nicht – weil er sie nicht geliebt hat, zumindest nicht, als sie noch lebte. Er brauchte ihren Tod nur als Ausrede, weil er mit mir nichts anfangen konnte und es ihm eine Last war, allein ein kleines Kind großzuziehen. Wir nutzen alle Ausreden, um nicht glücklich sein zu müssen …«

Seine Worte gingen in ein Rauschen über. In ihrem Mund schmeckte es plötzlich metallisch. Gaukelte ihr der Branntweingestank das nur vor, oder hustete sie inzwischen etwa Blut?

»Andrés, ich brauche deine Hilfe …«

Er schien sie gar nicht zu hören. »Mein Leben lang habe ich Tiago glühend beneidet … Ihn zu beobachten war, als würde ich mir einen spitzen Dorn immer tiefer in die Haut treiben. Irgendwann habe ich geglaubt, es wäre alles leichter, wenn es ihn nicht mehr gibt und ich mich nicht mehr an ihm messen muss. Aber nun, da er tot ist, ist mir alles vergällt. Es gibt nichts, was mir noch Freude macht.«

»Andrés … bitte … Ich musste fliehen … Ich bin krank … sehr krank!« Sie fragte sich, wie lange sie noch die Kraft hatte, aufrecht neben ihm zu sitzen.

»Wir sind alle krank«, erwiderte er lallend, »wir sind krank vor Gier, immer noch mehr zu wollen. Mein Vater will zur Oberschicht gehören, und die, die bereits dazugehören wie William, wollen noch mehr Geld, und die, die genug Geld haben, wollen mehr Glück. Du wiederum hast all das gehabt, Geld und Ansehen und Glück. Aber deinen Frieden hast du dennoch nicht gefunden.«

Sie wollte etwas sagen, konnte jedoch nicht. Warum sah er nicht, in welchem erbarmungswürdigen Zustand sie sich befand? Warum half er ihr nicht, sondern blieb einfach starr neben ihr hocken?

Sein Blick war irgendwie … kalt. Und zugleich voll jener Gier, die er mit seinen Worten eben erst beschworen hatte.

Plötzlich fröstelte sie trotz des Fiebers – und ihre Sinne, eben noch so träge, wurden hellwach. Andrés ist gefährlich, schoss es ihr durch den Kopf.

Die Bedrohung, die von ihm ausging, war größer als die ihrer Krankheit. Sie schluckte schwer, wollte sich erheben, schaffte es aber nicht. Ohnmächtig musste sie hinnehmen, dass er näher an sie heranrückte.

»Ich bin anders«, sagte er. »Wenn ich bekommen hätte, was ich gewollt hätte, hätte ich nicht noch mehr verlangt. Ich wäre damit zufrieden gewesen, wirklich zufrieden. Mir hätte es genügt, wenn ich als Pathologe hätte arbeiten können und gewusst hätte, dass zu Hause eine Frau, wie du es bist, auf mich wartet … und eine Schar glücklicher Kinder.«

Unvermittelt hob er seine Hand. Sie sah, dass diese zitterte, und dachte erst, er wollte ihr über das Gesicht streicheln. Stattdessen senkten sich seine Finger auf ihre Brust und drückten sie. Sie schrie auf – vor Schmerz, Scham und Entsetzen, und der Schrei brannte wie Feuer in ihrer Kehle.

»Ich bin krank …«, stammelte sie unter Husten, »… siehst du es denn nicht? Ich bin krank! Du musst mir helfen!«

»Aber ich habe keine Frau wie dich bekommen«, fuhr er ungerührt fort. »Du hast mich gar nicht beachtet, schon damals nicht, bei unserer ersten Begegnung im Hafen von Valparaíso. Du hattest nur Augen für Tiago.« Plötzlich kicherte er auf. »Aber Tiago ist tot!«, rief er. »Er ist im Wüstensand verrottet! Nichts mehr ist von ihm da!«

Während er sprach, knetete er weiterhin ihre Brust und rückte noch näher. Sie versteifte sich, wollte zurückweichen, doch da hatte er sie mit der freien Hand schon an den Haaren gepackt, rollte sie auf den Rücken und wälzte sich auf sie.

»Andrés!«, schrie sie auf. Ihr Kopf drohte zu zerplatzen.

»Du brauchst also Hilfe! Aber wenn du Hilfe willst, liebste Aurelia, dann musst du etwas dafür tun. Im Leben ist nichts umsonst, für alles hat man einen Preis zu bezahlen, auch du. Es gibt zwar wenig, womit du zahlen kannst, aber so krank kannst du gar nicht sein, dass dein Körper nicht noch etwas Wert hätte.«

Sie hatte das Gefühl, unter seinem schweren Leib zu ersticken. Unerträglich wie der Schmerz war die Furcht, ohnmächtig zu werden. Sie war sich sicher, dass ihn das nicht abhalten würde, sich an ihr zu vergehen. Aufstöhnend nahm sie alle Kraft zusammen, versuchte, ihre Hände gegen seine Brust zu stemmen, aber er bewegte sich keinen Millimeter. Sie musste weg, weg von hier! Aber sie konnte es nicht!

Sein Gesicht senkte sich auf ihres. Als er sie küssen wollte, stieg ihr heiß sein Branntweinatem in die Nase. Statt zu husten, musste sie würgen. Verzweifelt drehte sie ihr Gesicht zur Seite und sah auf diese Weise, dass nicht weit von ihr etwas Dunkles am Boden lag. Sie tastete mit den Händen danach, fühlte, dass es eine der leeren Branntweinflaschen war.

Ihre Hände waren schweißnass. Als sie die Flasche umklammerte, befürchtete sie, sie würde ihr entgleiten. Doch die Verzweiflung gab ihr Kraft – genug Kraft, die Flasche zu erheben und damit auf Andrés’ Kopf einzuschlagen.

Wäre er nicht betrunken gewesen, hätte sie keine Chance gegen ihn gehabt. So aber gab ihm der Schlag den Rest. Ein Ächzen ertönte, dann sackte er von ihr. Noch lag sein rechtes Bein schwer auf ihrem, aber sie schob es mit Mühe weg. Er atmete noch, rührte sich jedoch nicht.

Als sie sich erhob, schien sich das Zimmer zu drehen. Immerhin konnte sie Schritt vor Schritt setzen. An der Wand entlang tastete sie sich zur Tür und von dort bis zur Treppe. Schon der Weg hinauf war mühsam gewesen – der nach unten kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Jede Stufe, die sie nahm, wurde von der Angst begleitet, zu stolpern, in die Tiefe zu fallen und sich das Genick zu brechen. Aber irgendwie kam sie doch heil nach unten.

Vom Hausmädchen war nichts zu sehen, und so musste sie selbst die schwere Tür öffnen. Als sie endlich im Freien stand, waren alle ihre Kräfte verbraucht.

Valentina … sie musste zu Valentina und Pepe Veliz … die Buchhandlung … sie war ihre einzige Rettung …

Sie erreichte die Straße, ging dort einige schleppende Schritte und bog dann in den Weg nach rechts ab. Immer wieder verharrte sie, stützte sich an eine Hauswand, hustete und rang um Atem. Die Kraft, den Kopf zu heben, sich zu vergewissern, dass sie den richtigen Weg nahm, hatte sie nicht, aber irgendwie konnte sie sich aufrecht halten und weitergehen. Rund um sie tobte das Leben, doch sie vernahm die Stimmen und Geräusche wie hinter einem Schleier. Als sie endlich die Straße erreichte, wo die Familie Veliz lebte, wurde der Schleier immer dunkler und schwerer. Obwohl das Ziel so nah war, gaben ihre Sinne, die bislang wacker gegen eine Ohnmacht gekämpft hatten, nacheinander auf. Erst hörte sie nichts mehr, dann wurde es schwarz vor ihren Augen. Sie wollte sich einmal mehr an eine Hauswand stützen, griff jedoch ins Leere und fiel krachend zu Boden.

Ich habe es doch so weit geschafft, dachte sie, während ihr Kopf auf dem Pflaster aufschlug, es sind nur noch ein paar Schritte … ein paar Schritte zu viel …

»Tiago …«, seufzte sie, »… ach, Tiago …«

Sie hoffte, dass sie ihn wiedersehen würde, wenn sie hier und heute starb. Doch als sie endgültig das Bewusstsein verlor, erwartete sie nicht der geliebte Mann, sondern nur das Nichts.

Im Schatten des Feuerbaums: Roman
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