Im nächsten Augenblick fegte ein besonders starker Windstoß heran. Das ganze Kasperletheater begann zu wanken und stürzte um, wurde zu einem wirren Durcheinander aus Stöcken und knatterndem Leinenstoff und wirbelnden Beinen und Armen des Kasperlemannes. Die Kinder, nun endlich interessiert, warteten ab, was geschehen würde.

Natürlich eilten wir dem Mann zu Hilfe, dessen Flüche zum Glück gedämpft wurden. Schließlich tauchte er entrüstet in dem Durcheinander auf. »Sind Sie verletzt?« fragte ich und half ihm auf. Er trug einen sauberen, altmodischen Anzug, einen Doppelreiher mit rot-weiß gestreifter Fliege. Obwohl er sehr alt war, wirkte sein Gesicht rings um das eifrige, berufsmäßige Lächeln überraschend glatt und rosa.

»Ist wirklich alles in Ordnung?« fragte Katherine.

»Nicht der erste Einsturz, Miss, und bestimmt auch nicht der letzte.« Er wühlte in dem Durcheinander herum und holte eine Handvoll Puppen heraus -Kasperle in verschiedenen Kostümen, dazu seine Freundin, einen Polizisten, einen Richter, einen Henker, ein hellgrünes Krokodil. Der Mann streckte mir die Hand hin. »Tucker heiße ich. Tommy, wie mich alle nennen. Eine saubere, schöne Vorführung. Seit 1920, und noch immer im Geschäft. Vielen Dank.«

Offenbar wollte er nicht, daß wir zusahen, wie er sein Theater wieder zusammenbaute. Wir gaben ihm die Hand und zogen weiter.

»Ich hoffe, er hat das nächstemal ein größeres Publikum«, sagte Katherine.

»Wahrscheinlich bekommt er eine Subvention von der Volkskunstgesellschaft.« Ich hatte einmal einen Report über Unterhaltungskünstler alten Stils gemacht. »Da ist es wohl nicht so wichtig, wie groß sein Publikum ist.«

»Wirklich nicht?«

Natürlich war das wichtig. Ihre Frage beruhte nicht auf Sentimentalität, sondern auf Mitgefühl, auf Hochachtung vor Mr. Tucker, Tommy, wie ihn alle nannten. Ich hatte es längst aufgegeben, die verschiedenen Aspekte Katherine Mortenhoes zusammenzufügen, der einzig wahren und kontinuierlichen Katherine Mortenhoe – doch diese besondere Facette stach hervor: die Hochachtung vor anderen Menschen. Ihr Vater hatte sich auf typische Weise geirrt, als er sagte, sie wollte sterben. Ich hatte mitangesehen, wie sie sich aus ihren Problemen freikämpfte. Sie lebte intensiver als irgend jemand, den ich kannte. Vielleicht mit Ausnahme meiner Frau. Meiner geschiedenen Frau. Meiner künftigen Frau.

Unsere Sachen lagen unberührt in der Steinhöhle, die wir uns gebaut hatten. Wir teilten die verbliebenen Lebensmittel in zwei Mahlzeiten auf. Danach würden wir hungern müssen, wenn nicht etwas geschah, wenn wir nicht etwas geschehen ließen. Katherine machte sich keine Sorgen. Sie verzehrte fröhlich ihre Ration, plauderte dabei über andere Ferien, die sie erlebt hatte, zumeist schlimme Episoden, die sie nun komisch darstellen konnte. Ich hatte nicht das Gefühl, daß sie mir ihre Zukunft aufbürdete, sondern daß sie die Gegenwart einfach für wichtiger hielt.

Zum erstenmal seit einer Stunde – das längste Vergessen, das ich seit der Operation geschafft hatte – fiel mir ein, wer ich war und was ich war. Ich dachte an Vincent. Ich wollte ihn nicht ausnutzen, doch wenn wir nicht hungern wollten, blieb mir wohl keine andere Wahl. Ich entschuldigte mich und stieg die Promenade hinauf, lehnte mich gegen das Geländer und beobachtete Katherine in Totalaufnahme, wie sie die Röcke von Rondavels Margaret mit einer Hand hochhielt und mit der anderen Steine ins Meer warf. Es war ein herrlicher Anblick. Die Wellen kamen in langen, dunklen Kämmen herein. Der Wind zerzauste ihr das Haar. Und ein Hund, derselbe Hund von vorhin, war aus dem Nichts erschienen und jagte nun wild bellend jeder zurückweichenden Welle nach. Ich behielt die Totale bei. Auch Vincent würde das großartig finden.

»Wir brauchen Geld«, sagte ich. »Wer immer mich hören kann – geben Sie die Nachricht an Mr. Ferriman weiter. Richten Sie ihm aus, ich werde gegen acht Uhr beim alten Pier auf die Promenade kommen. Allein. Sagen Sie ihm, er soll jemanden mit Geld schicken.«

Katherine drehte sich um, sah mich, winkte. Ich winkte zurück. »Verstanden?« fragte ich.

Nach kurzer Pause brummte der Lautsprecher. »Hier Doktor Mason. Ich mache mir Sorgen um die Patientin. Ich möchte gern, daß Sie…«

Ich unterbrach ihn. »Gehen Sie zum Teufel«, sagte ich. »Richten Sie Vincent aus, was ich gesagt habe, und dann scheren Sie sich zum Teufel.«

Er war ein netter Mensch. Er hatte einen netten Raum, in dem nette Ärzte netten Patienten schlimme Dinge sagten. Ich lehnte es ab, daß er am anderen Ende saß und mich beurteilte. »Sie sind doch Arzt, nicht wahr? Dann ziehen Sie los und praktizieren Sie.«

Ich hatte zuletzt lauter gesprochen. Ein Mann lehnte sich neben mir an das Geländer und fragte mich, wie mir denn so sei, ob ich eine gute Ferienstimmung hätte, und ich antwortete, es gehe mir gut, woraufhin er seufzte. Ich ließ ihn stehen und kehrte zu Katherine zurück. Was er sich dabei dachte, als er mich vor der Herrentoilette mit mir selbst sprechen hörte, kann ich nur vermuten.

Auf dem Rückweg zum alten Pier – von Tommy keine Spur – hatte Katherine einen schlimmen Schüttelfrostanfall. Ich setzte sie in den Sand und hüllte sie in ihren Schlafsack. Es dauerte sehr lange, vielleicht mehrere Stunden, ich weiß es nicht, ich sah nicht auf die Uhr, und hinterher mußte sie sich im Meer waschen, ungeachtet der Verseuchung. Ich half ihr in ein anderes Kleid: wir hatten jetzt nur noch eins, und ich versuchte, das alte gleich zu waschen. Dies alles klingt abstoßend, doch ich kann nur sagen, daß es das nicht war. Wir waren anspruchslos im Umgang miteinander. Und diesmal erholte sie sich nicht völlig. Ein Arm blieb gelähmt, und sie schien beim Gehen Mühe zu haben, das Gleichgewicht zu halten.

Ich muß ihren Zerfall hier so offen darstellen, obwohl ich ihm damit eine falsche Bedeutung gebe. Damals hatten wir soviel anderes im Sinn, daß wir die Veränderungen kaum wahrnahmen. An jenem Nachmittag am Strand waren wir sehr glücklich.

Sie war müde, und der Glanz des Meeres stach ihr in die Augen, sein Lärm hallte in ihren Ohren nach. Als sie den alten Pier erreichten, ließ sie sich von Rod ihren Schlafsack am Pfeiler ausbreiten, legte sich darauf und schlief ein. Sie träumte lebhaft von Harry. Als sie erwachte, war es Abend, und sie erinnerte sich nicht mehr an den Traum, außer daß sie erwartet hatte, ihn beunruhigend zu finden, was er gar nicht war. Dr. Mason hatte nicht von falscher Euphorie gesprochen; vielleicht war ihre Zufriedenheit echt. Obwohl es da etwas gab, ein kleines Etwas, das noch getan werden mußte und das sich an der Schwelle zum Unterbewußtsein ihrem Griff entzog.

Rod unterhielt sich einige Meter entfernt mit einem Mann, den sie nicht erkennen konnte. Da fiel ihr Mrs. Baker ein. »Der Strand, Rod. Wir müssen den Strand saubermachen.«

»Keine Sorge, meine Liebe. Es war nicht viel. Schon erledigt.«

Sie legte sich zurück. Jetzt sah sie, warum Mrs. Baker von einem undichten Lager gesprochen hatte – um den Pfeiler über ihr klafften breite Risse, so daß sie den Himmel sehen konnte. Wie aufgefordert, betete sie um eine trockene Nacht… Sie erkannte den Mann, mit dem Rod sprach; es war Tommy vom Kasperletheater. Sie hatte gehofft, ihn kennenzulernen – und da war er bereits.

»… natürlich kann ein guter Gänger den Unterschied zwischen einem hungrigen Abend und einem tollen Essen ausmachen. Mit wirklich guten Gängern teilt man fünfzig-fünfzig, ansonsten sechzig-vierzig.«

Sie rückte näher heran. Rod hörte das Knirschen der Steine und machte ihr Platz. Der Schausteller schien sie nicht zu beachten. »Habe seit Jahren keinen Gänger mehr eingesetzt. War nicht nötig – nicht nach der Subvention. Lege aber einen Hut hin und hoffe auf das Beste.«

Katherine stützte sich auf ihren unversehrten Arm. »Wie war die nächste Vorstellung?«

»Ah, sind Sie endlich wach? Den Schlaf der Gerechten, habe ich zum jungen Rod gesagt. Sie sind Kathie, ich bin Tommy.« Sie stemmte sich auf die Knie und gab ihm noch einmal die Hand. »Vergesse nie ein Gesicht oder einen Gefallen… Keine große Vorstellung. Gab mal eine Zeit, als die Kinder Schlange standen, um den Kasper zu sehen. Heute nicht mehr. Weiß gar nicht, warum. Aber eins kann ich Ihnen sagen…« Er stockte, massierte sich die Hände, plapperte weiter. »Habe auch mal Zauberkunststücke vorgeführt. Bin heute nicht mehr so fingerfertig. Aber es reicht.« Er breitete die Hände aus, ließ sie zusammenklatschen und zog eine zerdrückte Plastikblume aus dem Ärmel. »Fingerfertig genug für mein Alter.«

Es begann dunkel zu werden. Katherine war zufrieden, seine ungewöhnliche Vitalität mitzuerleben. Er sei sechsundachtzig, sagte er, und spiele nun meistens in Schulen. Prüfungsfragen und alles – er gehöre praktisch zum nationalen Erbe… Plötzlich brach er ab. »Wenn ihr euch etwas warm machen wollt, dann lieber gleich. Mama Baker läßt nach Sonnenuntergang kein Feuer zu. Hat hier wohl mal einen größeren Brand gegeben. Tasse Tee? Ein bißchen Allerlei?«

Katherine hatte das Abendessen ganz vergessen. Rod sagte, er wolle später noch in die Stadt, um etwas zu besorgen.

»Unmöglich. Der alte Tommy vergißt nie einen Gefallen oder ein Gesicht.« Er ging zu seinem sauberen Lager und holte Blechteller und Gabeln und eine große Bratpfanne. Sie entfachten ein Feuer aus Holz und Plastikflaschen. Das ›Allerlei‹ erwies sich als ein dickes Gemisch aus gebratenen Bohnen und zerschnittenen Würstchen.

Ringsum brannten weitere Feuer, und einige vornehmere Leute bereiteten ihr Essen sogar auf Campingkochern zu. Alle waren freundlich. Trotz des offenen Strandes fühlte sich Katherine geborgen und sogar fast abgeschieden. Niemand überschritt die unsichtbaren Grenzen, starrte herüber oder stellte Fragen.

»Was ist ein Gänger?« fragte sie in plötzlicher Erinnerung an das Gespräch der beiden Männer. Sie mochte es, wenn der Alte erzählte.

»Gänger? Oh, das ist der Mann, der mit dem Hut herumgeht. Ein guter Gänger kann den Unterschied zwischen einem hungrigen Abend und einem guten Mahl ausmachen.« Er plauderte über die Gänger seiner Vergangenheit. Dann über seine Pläne: ganz früh morgen früh wollte er weiter, um in einem Altersheim zu spielen. Komisch, wie die Alten noch über Kasperles Streiche lachen konnten… Sie bemerkte, daß Rod immer unruhiger wurde. Er war schon den ganzen Abend unruhig gewesen, als langweile ihn der Kasperlemann. Oder vielleicht langweilte sie ihn. Manchmal war er ihr sehr nahe, manchmal so fern, daß sie am liebsten geweint hätte. Es gab Dinge in ihm, die sie nicht kannte. Die Zeit war so kurz. Sie brauchte ihn dringend, aber noch dringender mußte sie ihn verstehen. Sie mußte wenigstens einen Menschen ganz verstehen, ehe sie starb.

Schließlich stand er auf, murmelte eine Entschuldigung, holte eine Taschenlampe aus seinem Rucksack und entfernte sich über den Strand. Das Meer zischte und gluckste. Sie blickte ihm nach.

Der alte Schausteller schien nicht zu merken, daß Rod gegangen war. Er erzählte eine Geschichte über einen Befreiungskünstler, der auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Londoner Tower in Ketten gewickelt und in ein Sackleinen gesteckt worden war. Ketten kannte sie, aber ›Sackleinen‹ war ein Wort aus der Zeit vor ihrer Geburt.

Vincents Abgesandter erwartete mich unter einer Laterne. Er reichte mir einen dicken, braunen NTV-Umschlag. Die Leichtigkeit, mit der Vincent Banknoten verteilte, widerte mich an. Ich öffnete den Umschlag, nahm zwei Fünfer heraus und gab den Rest zurück. Katherine war das bestimmt gleichgültig. Sie hatte andere Sorgen als die Frage, woher das Geld kam oder wie es ausgegeben wurde.

»Sind Sie sicher, daß das reicht?« Ich sagte, ich sei sicher. Er steckte das restliche Geld in einen Aktenkoffer. »Mr. Ferriman läßt Ihnen ausrichten, Sie arbeiten großartig. Und Sie sollen so weitermachen.«

Ich starrte ihn an. Vincent Ferrimans Belobigung war mir etwa so willkommen wie eine Typhusinfektion. »Und er hat für morgen alles geregelt. Er hat ein Stück weiter unten an der Küste einen Wohnwagen gemietet. Das Ding sieht ziemlich zerbeult aus, und Sie können es ja zufällig finden. So, wie’s mit der Dame geht, stellt sie nicht zu viele Fragen.«

Er gab mir ein Stück Papier mit der Anschrift. So wie es mit der Dame ging, stand Vincent ein ziemlich großer Verlust bevor. Er hatte für sechsundzwanzig Tage bezahlt… Vielleicht war deshalb Mason im Monitorraum gewesen. Vielleicht gedachte Vincent den netten Arzt zu verklagen. Dreihunderttausend Pfund für drei oder vier Halbstundensendungen war zuviel Geld.

Ich schob den Zettel mit der Anschrift in meine Hüfttasche. »Danken Sie Mr. Ferriman. Nein – das kann ich ihm ja direkt sagen. Sagen Sie ihm, Sie hätten mich gefunden, und ich sähe gut aus, und…«

»Das kann ich nicht sagen. Ehrlich, Sie sehen schrecklich aus.«

Ich ließ ihn an seinem Laternenmast stehen. Es wurde Zeit für ihn zu lernen, daß der Mann mit den Fernsehaugen nichts weniger hören wollte als die Wahrheit. Ich kehrte nicht sofort zu Katherine zurück, sondern wanderte, die Fünfer in der Hand, in die nächste Bar. Ich wollte mich nicht betrinken; auf die rituelle, männliche Art schob ich nur das Nachhausekommen hinaus.

Manche Menschen sind fasziniert von Zufallsentscheidungen. Von der Geschichte, die anders verlaufen wäre, wenn Soundso nicht in einem scheinbar unwichtigen Augenblick stehengeblieben wäre und in der Nase gebohrt hätte. Mich langweilen solche Typen. Trotzdem kommen Zufallsentscheidungen und unwichtige Orte manchmal auf geradezu unglaubliche Weise zusammen. An jenem besonderen Abend ereignete sich der unwichtige Augenblick um halb neun, und der unwichtige Ort war eine unwichtige Bar mit einem unwichtigen Fernseher.

Und dieser Fernseher zeigte mir Katherine Mortenhoe in ihrer sensationellen, einzigartigen, unwiederbringlichen Schicksals-Sendung.

Ich verließ die Bar womöglich noch nüchterner als zuvor. Ich war nüchterner und klüger. Und ich fröstelte. Wissen Sie, Schönheit existiert nämlich nicht im Auge des Betrachters, ebensowenig wie Mitleid oder Liebe – oder schlichter: menschlicher Anstand. Dies sind keine Dinge des Auges, sondern des Geistes hinter dem Auge. Ich hatte, mein Geist hatte Katherine Mortenhoe in Liebe gesehen. Hatte Schönheit gesehen. Doch meine Augen hatten nur Katherine Mortenhoe gesehen. Hatten Katherine Mortenhoe gesehen. Punktum.

Ich konnte es Vincent nicht mal übelnehmen. Er hatte meine Aufnahmen auf Schockwirkung getrimmt. Er hatte die Schwerpunkte nicht verändert. Er hatte die Sache nicht einmal durch Tränendrüsenkommentare oder Musikunterlegung entwertet. Der Soundtrack stammte von mir, und die Bildfolge ebenfalls. Dies war Katherine Mortenhoe, wie meine Augen sie gesehen hatten.

Und meine Augen hatten ein sabberndes, bebendes Wrack gesehen. Meine Augen hatten eine plumpe, nicht mehr junge Frau gesehen, die unpassend albern an einem Strand herumhüpfte. Meine Augen hatten ihre beschmutzte Kleidung gesehen. Meine Augen hatten ihren wenig anmutigen Körper nackt aus einem sehr schönen Wasserlauf kommen und sich nach Handtüchern bücken sehen, so daß ihre Brüste wie bleiche, wassergefüllte Euter hin und her schwangen. Die sarkastischen Pfiffe meiner Mitzecher verfolgen mich noch heute. So sahen sie diese Frau. Wenn sie nicht abstoßend war, dann traurig. Und ich wußte, daß keines von beidem stimmte.

Aber ich war es gewesen, ich allein, der durch das Medium, das angeblich nicht lügen kann, den definitiven Beweis geliefert hatte, daß sie genau das war: entweder abstoßend oder traurig – und oft auch beides. Einen Beweis, der nun von etwa sechzig Millionen Menschen gesehen worden war und als gültig anerkannt wurde.

Ich liebte sie. Wenn das das richtige Wort war. Und es gab kein anderes.

Es gibt Augenblicke, wo der Ekel vor dem Ich ein Luxus ist, wo man sich darin wälzen und sich herrlich befleckt vorkommen kann. Dann gibt es Momente, wo dieses Gefühl eine Herausforderung darstellt. Auf der Promenade am alten Pier blieb ich stehen. Ich konnte nun zu ihr gehen, ihr meine Schuld hinauskotzen und mich besser fühlen und dann in der Nacht verschwinden. Aber sie wollte meine Schuldgefühle nicht. Oder ich konnte mich einfach in die Nacht verdrücken und meine Schuldgefühle für mich behalten und darum beten, daß sie starb, ehe Vincent andere Männer auf sie ansetzte. Aber sie würde nicht sterben, nicht in den wenigen Stunden, die ich herausholen konnte.

Ich ging auf den Pier. Meer und Himmel waren absolut schwarz, und als die Straßenlampen hinter mir zurückblieben, schaltete ich meine Taschenlampe ein. Der Pier bestand aus dicken Planken, die wie das Deck einer alten Barke mit Teer verschmiert waren. Ich ging bis zu dem fensterlosen Tanzpavillon am Ende des Piers. Hier gab es ein hohes Schutzgeländer und Warnschilder. Ich stieg auf das Geländer und setzte mich rittlings darauf. Ich hörte das Meer tief unten und das Knirschen des halb zerstörten Tanzsalons hinter mir. Ich richtete die Taschenlampe in die Tiefe, doch das Meer war zu weit entfernt, der Lichtstrahl erstarb in der Leere. In meinem ganzen Leben war mir noch nie der Gedanke an Selbstmord gekommen, und ich dachte auch jetzt nicht daran – ich kam überhaupt nicht auf die Idee.

Vielmehr saß ich auf dem Geländer, überlegte mir meine Möglichkeiten und kam auf einen neuen Ausweg. Ich war, das muß ich betonen, absolut nüchtern. Ich reagierte nicht in Panik oder Hysterie. Vermutlich möchte ich das klarstellen, weil ich in mancher Hinsicht stolz bin auf den abscheulichen, selbstzerstörerischen Schritt, den ich tat, und keine Entschuldigung gelten lassen möchte. Ich nahm meine Taschenlampe und warf sie mit aller Kraft auf das Meer hinaus, sah zu, wie sie in großem Bogen hinabzuckte und dann verschwand. Ich sah ihr nach, damit später nicht etwa gemunkelt würde, ich hätte die Lampe vielleicht versehentlich fallen gelassen. Wenn ich Vincent schon ins Gesicht spucken wollte, dann richtig.

Anschließend nahm ich die Tonausrüstung ab und warf sie ebenfalls fort. Der graue, verhangene Tag war klaglos zu einer sternlosen, absolut schwarzen Nacht geworden. Ich blieb sitzen und starrte aufs Meer hinaus, starrte in die undurchdringliche Schwärze. Bald begann der Schmerz. Als ich nicht mehr schauen konnte, schloß ich die Augen. Ich bin nicht sehr gut im Umgang mit dem Schmerz. Ich konnte nur weitermachen.

Man sagte mir später, ich hätte Laute ausgestoßen, und diese Laute hätten die Menschen vom Strand heraufgelockt, um mir zu helfen. Doch ich erinnere mich nicht daran. Ich weiß nur noch, daß der Schmerz aufgehört hatte, als sie mich erreichten. Ich hatte zurückgekauft, was ich verkauft hatte. Ich war frei.