MITTWOCH

Den größten Teil des nächsten Tages verbrachte ich damit, Ausschnitte früherer Schicksals-Sendungen zu sehen. Bisher hatte Vincent weder Katherine Mortenhoe noch ihren Mann verpflichten können, aber er glaubte das bald hinbiegen zu können. ›Hinbiegen‹ – das war ein Begriff, über den ich nicht weiter nachdenken wollte. Ich hatte es ohnehin nicht sonderlich eilig, mir die arme Mrs. Mortenhoe vorzuknöpfen. Da ich bei den bisherigen Sendungen nicht mitgewirkt hatte, gab es für mich noch viel nachzuholen, nicht nur im Hinblick auf die Arbeitstechnik. Man kann nicht einfach in eine beliebte Serie einsteigen, ohne zu wissen, was das Erfolgsrezept ausmacht. Jede Sendefolge hat eine besondere Atmosphäre, einen eigenen Stil – wie bei einem modischen, neuen Anzug, der, sobald man ihn trägt, unmerklich das eigene Verhalten verändert, woran man sich erst gewöhnen muß. Neue Ideen, die ich einbrachte – und ich hoffte, viele Einfälle zu haben –, mußten in die richtige Form gekleidet werden. Vincent teilte mir also einen Techniker mit einem Stapel Bänder zu und überließ mir den NTV-Vorführraum.

Acht schafslederne Sitze in luxuriöser Umgebung, automatisch verstellbar, daneben eine hübsche, rote Plastikkonsole mit individuellen Serviceeinrichtungen, einem simultanen Übersetzungsdienst in die vier Weltsprachen, Gedächtnisbanknotizen, einem interkontinentalen Telefon, Leitungen zum Informationszentrum und zur Datenbank, Kontrollen für die Klimaanlage und Zapfhähne für verschiedene heiße und kalte, süße und saure, alkoholische und nichtalkoholische Getränke. Als einziges fehlte vielleicht ein leises Vibrogerät, das einem bei pornographischen Filmen das Onanieren ersparte.

Ich verbrachte die meiste Zeit unbeeindruckt im Stehen und machte mir Notizen auf der Rückseite gebrauchter Umschläge.

Wenn ich heute an die zehnstündige Sitzung zurückdenke, fällt es mir schwer, meine Erinnerungen nicht durch die Brille späteren Verstehens zu sehen. Aber wenn ich mein damaliges Verhalten erklären, geschweige denn entschuldigen will, muß ich mir Mühe geben. Immerhin hatte ich vorher nur wenige Folgen der Schicksals-Serie gesehen: Ich arbeitete im Schichtdienst und hatte im Gegensatz zu einigen Kollegen nicht mein ganzes Leben dem Medium Fernsehen verschrieben. Ich kannte andere Möglichkeiten, mich mit der Welt auseinanderzusetzen, als durch eine 63-cm-Röhre. Das meiste Material war also neu für mich. Und in eine konzentrierte Vorführung von zehn Stunden zusammengedrängt, war es erschütternd.

Ich muß hier betonen, daß nicht alle Episoden von Todeskandidaten handelten und nicht alle Fälle mit dem Tod endeten. Zum Beispiel wurde ein Fall progressiven unheilbaren Wahnsinns gezeigt. In sechs qualvollen Folgen wurde die soziale Rehabilitation eines arm- und beinlosen Unfallopfers analysiert. Ich sah sogar eine Sendung, die in der überraschenden Gesundung einer Frau gipfelte, bei der die Ärzte von einer Zwangsabtreibung aus psychiatrischen Gründen abgeraten hatten. Die Kamera verweilte bei ihr, wartete auf den versprochenen Zusammenbruch, der jedoch nicht eintrat. Der Regisseur verschob den Akzent der Sendung auf das uralte ›Wunder der modernen Wissenschaft‹. Es war seltsam anrührend.

So verschieden die Folgen waren, hatten sie doch eines gemeinsam: Sie bemühten sich um absolute Wahrheit über den menschlichen Zustand.

Jede Episode war eine Halbstundensendung ohne Schluß, und die Folgen wurden oft täglich ausgestrahlt – besonders, wenn sich das Schicksal von Todeskandidaten seinem Ende zuneigte. Die Serie erkundete offen und ehrlich den geistigen und körperlichen Zustand sowohl der Kranken als auch der Familienmitglieder oder Pfleger, die die Betreffenden auf ihren qualvollen Reisen begleiteten. Sie war ein Denkmal menschlicher Ausdauer, des menschlichen Geistes in extremer Situation. Jede Sendung war ein denkwürdiges Erlebnis. Ich will damit nicht sagen, daß die Menschen in allen Episoden ausschließlich edel und mutig waren: es wurden Egoismus gezeigt und Erniedrigung, Feigheit, die kleinliche Geltungssucht von Nachbarn, die sich um die Aufmerksamkeit der Kamera bemühten, gierige Familienmitglieder, die sich um ihre Erbteile sorgten, auch der Haß von Krankenschwestern, die lange und unterbezahlt für anspruchsvolle, dumme, hoffnungslos unwürdige Menschen arbeiten mußten. Aber es handelte sich um echte Reaktionen, um wahre Reaktionen, um menschliche Reaktionen. Sie trafen ins Ziel. Sie hatten nichts Künstliches, diese normalen Reaktionen ganz normaler Leute. Unweigerlich erinnerten sie den Fernsehzuschauer an seine eigene, latente Kraft zum Guten oder Bösen, zum Mut oder zur Gemeinheit. Die Sendung bot eine klare Entscheidung, und mit dieser Entscheidung die Folgen – Elend oder Freude. Die Episoden, die in dichter Folge auf mich einprasselten, hatten eine niederschmetternde Wirkung.

Gegner dieser Art wahrheitsgemäßer Reportage behaupteten stets, eine ständige Konfrontation mit dem Schauspiel des Leids ließe die Empfindsamkeit abstumpfen. Bei der Schicksals-Serie ging es jedoch darum, daß das Leid progressiv dargestellt wurde. Sie konnte immer wieder Entsetzen und Mitleid auslösen, weil sie stets neue Pein auf Lager hatte. Und weil auch Zeit für die Tiefenstudien blieb, wurden die Betroffenen als Individuen gezeigt, nicht nur als Tagesschausymbole – der brennende Soldat, das hungernde Baby, das kopflose Bombenopfer. Es waren echte Menschen mit echten Schwiegermüttern und echten Mißgeschicken – wenn etwa das Abendessen unbeachtet auf dem Herd verschmorte. Und gerade solche Einzelheiten brachten Leben in die Sendung, bewahrten ihre Fähigkeit, die Menschen zu erschüttern.

Selbst heute noch erinnere ich mich an das angebrannte Abendessen, vom kühlen Auge der Kamera im Gegenschnitt beobachtet, während der Mann mit einem Anfall im Wohnzimmer lag, Urinflecken auf dem Kunststoffteppich, ein Stuhl zerbrochen, der Bruder am Telefon heftig fluchend, die Frau, die eigentlich die Kinder aus dem Zimmer bringen oder das Gas hätte abstellen sollen, mit einem rotledernen Schuh den Mann anstoßend, um zu sehen, ob er nun diesmal wirklich tot war. Und die Großaufnahme ihres Gesichts, als sie feststellte, daß er noch lebte, als sie erkennen mußte, daß sich die ganze Szene noch einmal wiederholen würde.

Das waren Augenblicke, auf die ein Reporter sein ganzes Leben warten mochte. Augenblicke, wie sie die Schicksals-Serie immer wieder hervorbrachte.

Und die Bewertungen zeigten, daß die NTV das unterbewußte Bedürfnis der Öffentlichkeit richtig einschätzte. Das Leben der Menschen war hohl, war zu einem glatten, schmerz- und todeslosen Werbetraum verschönt. Die Öffentlichkeit wollte daran erinnert werden – und hatte diese Erinnerung verdient –, daß ihr Leben nur eine Hälfte des Lebens war, die Hälfte, die ihr eine überdrehte Technologie gestattete.

Für mich würde es natürlich logistische Probleme geben. Daß ich meine eigene Kamera war, bot mir einen unschätzbaren Vorteil im Hinblick auf die Spontaneität, beschränkte mich jedoch in der Aufnahmetechnik, im Wechsel der Blickwinkel. Es bedeutete, daß ich jede Szene gewissermaßen vorher planen und im Ablauf schneiden und lenken mußte. Vincent würde mein Material natürlich noch bearbeiten, aber wenn ich nicht im richtigen Augenblick in die richtige Richtung schaute, war der Augenblick vertan. Und ich würde ganz allein arbeiten, ohne einen Assistenten, der mich am Ärmel zupfte. Es war die Aufgabe, auf die ich gewartet hatte. Ich wollte Katherine Mortenhoe groß herausstellen.

Ich verließ den Vorführraum in einem Zustand seelischer Übereinstimmung mit der ganzen Menschheit. Die Personen, die ich auf dem Korridor sah, die vertrauten, alten Fernsehleute, hatten eine neue Unmittelbarkeit gewonnen. Als mir einer auf die Schulter klopfte, hätte ich seine vergängliche Lebenskraft beweinen können.

»Roddie… Wo hast du denn gesteckt?«

»Ich war unterwegs.« Die Operation war noch ein gutgehütetes Geheimnis.

»Glückspilz. Ich dachte, ich hätte dich nur übersehen.«

»Vincent hat mir frei gegeben. Wegen guter Führung.«

»Und jetzt bist du wieder im Geschirr.« Er beugte sich zu mir herüber, widerlich desodoriert. »Wie ich höre, gibt’s eine neue Todeskandidatin. Und es heißt auch, du sollst sie bekommen.«

»Oh, erzählt man das?«

»Kluger Bursche. Aber du kannst dich heutzutage nicht so oft mit Vincent herumtreiben, ohne daß man zwei und zwei zusammenzählt. Er ist doch der König der Todeskandidaten. Oder wußtest du das nicht?«

»Er macht auch andere Sachen.«

»Überall im Haus wird von ihr geredet, laß dir das gesagt sein. Höchstens noch drei Wochen. Ein Prachtweib mit 90-65-90, arbeitet in einer Abtreibungsklinik. Höchstens noch drei Wochen hat sie. Dann ist Sense, unweigerlich.«

»Du weißt nicht zufällig auch, wie sie heißt?«

»O doch. Katie Mortenhoe. Den Namen vergißt man nicht so schnell. Keine Chance mehr. Angeblich war die Serie am Abrutschen und konnte nicht mal mehr einen Spastiker finden. Vincent muß die Brust schwellen bei dieser Sache.«

»Er wirkte heute morgen ganz zufrieden.«

»So ist’s richtig, Roddie. Alles hören, alles sehen, aber nichts sagen. Aber du bekommst unsere kleine Miss Mortenhoe, das kannst du mir glauben.«

Ich sah, wie er sich durch den Korridor und um eine Ecke wälzte. Seine kleine Miss Mortenhoe war einen Meter siebenundsiebzig groß, zweimal verheiratet, vierundvierzig Jahre alt, hatte ein Gesicht wie eine Politikerin und eine Figur, von der sie nicht viel hielt, so daß auch ihre Umwelt keine hohe Meinung davon hatte. Ich wußte ferner, daß sie weitaus mehr als er zu leiden imstande war. Imstande. Zu weitaus mehr imstande.

Mein Hochgefühl schwand. Vincent hatte den Namen Katie Mortenhoe so präzise durchsickern lassen, daß bereits überall im Haus davon geredet wurde – und morgen wahrscheinlich in der ganzen Stadt.

Ich glaube mich zu erinnern, daß ich an jenem Abend in ein Kino ging. Vielleicht auch in ein Kasino. In meiner Erinnerung verschwimmen all die Kinos und Kasinos. Fest steht jedenfalls, daß ich nicht nach Hause fuhr. Wenn man nicht schlief, was nützte dann ein Heim?

Katherine war früh aufgewacht an jenem Morgen. Ihren Schlaf hatte sie Dr. Mason zu verdanken, und auch beim Erwachen fühlte sie unwillkürlich seine Hand im Spiel. Es würde einen Morgen geben, da sie nicht mehr erwachte und auch nicht mehr schlief. Er hatte ihr das Leben zugemessen, vier Wochen, achtundzwanzig Tage, plus oder minus einen Tag. Er war nicht gerade großzügig gewesen. Nun also wohl noch siebenundzwanzig Tage, plus oder minus einen Tag.

Sie empfand Panik bei dem Gedanken an die verstreichenden Stunden. Sie richtete sich auf, schob hastig die Bettdecke weg.

Wozu?

Sie zog die Decke wieder hoch, legte sich zurück und betrachtete das Sonnenlicht des jungen Frühlings an der Decke. Würde die Sonne jetzt jeden Tag für sie scheinen? Sie erinnerte sich an die Sommerferien eines fernen Jahres, an einen Kinderspielplatz mit Paddelbooten, ein winziges Dorf für Meerschweinchen, Schaukeln für ihre Puppen, Sonnenschein – und an den Hubschrauberlandeplatz daneben mit den regelmäßigen Abflügen zurück in die Stadt. Sie war damals sechs oder sieben gewesen und hatte gerade eine neue Mami bekommen. Nach der ersten Woche hatte sie sich geweigert, auf den Spielplatz zu gehen, obwohl es keinen besseren gab. Ihr Vater hatte sie für ein seltsames Kind gehalten, da sie das Surren der regelmäßigen Abflüge nicht ertragen konnte.

Damals war es möglich, sogar ganz einfach gewesen, die Schwierigkeit aus der Welt zu räumen. Sie spielte in einem anderen Stadtteil.

Harry hatte den gleichen Vorschlag gemacht, er hatte vorgeschlagen, daß sie verreisen, daß sie in einem anderen Stadtteil spielen sollten. Aber kein Ort war weit genug. Sie antwortete ihm ja und nein und hörte ihm beim Pläneschmieden zu. Aber sie wußte, daß sie weiter bei Computabuch arbeiten würde, so lange sie konnte, und daß sie dann – in Selbstverteidigung, wenn nicht um Harrys willen – Selbstmord begehen würde. Organismen nutzten sich ab, versagten den Dienst. Es gab keinen Grund, sich aufzuregen.

Harry schlief weiter. Sie drehte sich im Bett herum und schloß die Augen: Es war nicht gerade förderlich, daß das Sonnenlicht unbeschreiblich schön war, es war ein sentimentaler, wenig hilfreicher Wahn. Schönheit war einer der einfachsten Freudenmechanismen des menschlichen Geistes. Schönheit, die einem das Herz brach, hatte etwas Krankhaftes. Gleich darauf stand sie auf und bereitete das Frühstück und unterdrückte dabei das Beben ihrer Hände, das neu war.

Wiederholter Schüttelfrost, hatte Dr. Mason gesagt, doch sie unterdrückte alles. Und nahm keine Tabletten gegen das Band, das sich um ihren Kopf legte und eigentlich kein richtiger Kopfschmerz war. Ihr Puls war normal, ihr Morgenbesuch auf der Toilette nicht besonders dramatisch. Es würde langsam angehen. Vor allen Dingen brauchte sie sich keine Sorgen mehr zu machen. Vier Jahre des Zuhörens und Beobachtens und Zweifelns waren vorbei, und die Erkenntnis ließ sie seltsam leicht ums Herz werden. Wenn es etwas gab, das sie haßte, dann Menschen, die nur von ihrem Gesundheitszustand sprachen.

Danach kam Harry in die Küche – er hatte ein Friedhofsgesicht aufgesetzt.

»Du hast nicht schlafen können«, sagte er.

»Im Gegenteil. Ich habe ausgezeichnet geschlafen.«

»Ich scheine einfach nicht wach bleiben zu können«, sagte er schuldbewußt. »Und jetzt habe ich dich auch das Frühstück machen lassen.«

»Um Himmels willen!«

Er seufzte, schlich schüchtern zum Tisch und setzte sich. Sie stand hinter ihm. »Was ist los? Ist jemand gestorben?«

Plötzlich brach er in Tränen aus. Es gab Grenzen. Das brauchte sie nicht mitzumachen.

»Der Kaffee ist in der Kanne«, sagte sie, schnappte sich ihre Handtasche und ging.

Harry weinte eine Zeitlang. Dann betrachtete er sein Gesicht im Badezimmerspiegel, rief das Lizenzbüro an und sagte dem Anrufbeantworter, daß er heute nicht zur Arbeit kommen würde, weil seine Frau krank sei. Die Reiseprospekte, deretwegen er gestern abend auf der Heimfahrt einen Umweg gemacht hatte, nachdem ihm von Vincent so mitfühlend die Neuigkeit eröffnet worden war, lagen auf dem Telefontischchen. Er nahm sie und zerriß sie systematisch in kleine, farbige Vierecke, die er in den Müllverbrenner warf. In die Küche zurückgekehrt, begann er erneut zu weinen.

Katherine war heute noch früher als sonst unterwegs. Es war so still, daß sie ihre Schritte hörte. Ihre Hochstimmung gewann wieder die Oberhand. Ein großer Straßensauger fuhr auf dem Rückweg zum Depot vorbei, und sie überlegte, wie sauber es doch wäre, wenn sie sich einfach davor hinlegte (sobald der Fahrer mal fortschaute) und auf ewig in der Maschine verschwinden würde.

Ohne nachzudenken, bog sie wie üblich auf die Rampe der Straßenbrücke ein. Die Fahrbahnen unter ihr waren in beiden Richtungen leer, also lief sie zurück und kletterte aus reinem Übermut über den Trennzaun und überquerte die eigentliche Straße. Am Mittelstreifen hielt sie inne: Von hier wirkten die vertrauten Häuser fremd und aufregend, die Sonne schimmerte besonders hell auf Sandflächen, die von keinem menschlichen Fuß betreten wurden. Ein einsamer Laster heulte herbei, und sie klammerte sich an die Leitplanke und lachte, als das Gebilde an ihr vorbeiwischte, unvorstellbar laut, und mit Dopplereffekt in eine andere Entfernung verschwand. Sie kletterte über die Leitplanke und überquerte die verbleibenden Fahrspuren auf den Zehenspitzen, wie eine Katze.

Sie war noch so früh dran, daß sie beschloß, den ganzen Weg zu Computabuch zu Fuß zurückzulegen. Das würde ihr guttun. Und um fünf Uhr früh wurde niemand überfallen: Gangster und Sexualverbrecher waren jetzt bestimmt zu Hause und zählten ihre Beute oder schrieben ihre Abenteuer für die Zeitungen nieder. Doch sie schaute kurz beim Bezirkspostamt vorbei, um zu sehen, ob sie Post hatte. Drei Briefe lagen im Fach, zwei für Harry und einer für sie.

Ihr Umschlag trug das diskrete NTV-Symbol auf der Rückseite.

Sorgsam legte sie Harrys Briefe wieder in das Fach, damit er sie später auf dem Weg zur Arbeit abholen konnte, und steckte ihren Umschlag entschlossen in einen Schlitz, der für den Versand von Luftpostbriefen gedacht war. Sie wollte das Schreiben nicht sehen. Sie wollte nichts damit zu tun haben. Dann verbrachte sie die nächste halbe Stunde damit, den Brief zurückzufordern, und beschwatzte den Mann am Sortierschalter, daß sie den Umschlag versehentlich eingesteckt hätte. Er ließ sich ihre Personalkarte zeigen, untersuchte ihren Führerschein, ihren Computabuch-Paß, ihren Blutgruppenaufkleber, ihre Travelator-Saisonkarte, ihre Fußgängererlaubnis, ihre Versicherungskarte, ihre Währungskarte, ihre Diners-Karte, ihre Wählerkarte, ihre Strafkarte und ihr Postfachzertifikat und verkündete dann, er müsse seinen Vorgesetzten fragen, der erst um neun Uhr käme. Sie schrie ihn also an, begann die Arme zu schwenken und belegte ihn mit unflätigen Namen, bis er ihr schließlich den Brief gab, weil er es nicht gern sah, wenn sich eine Dameaufregte.

Sie nahm den Brief mit nach oben, hinaus in die Sonne. Der Umschlag sah dort weniger gefährlich aus, als würde er im Freien nicht so schnell explodieren. Die Bürgersteige füllten sich allmählich. Wieder überkam sie Schüttelfrost, und sie setzte sich in einen kleinen Park mit Grabsteinen und Narzissen, den Brief im Schoß, während sie den Anfall niederkämpfte. Dann öffnete sie den Umschlag.

Meine liebe Katherine!

Ich beginne mit dieser Anrede, weil ich nach meinem langen Gespräch mit Ihrem Mann heute nachmittag das Gefühl habe, daß wir bereits alte Freunde sind. Vielleicht wäre alte Feinde eine bessere Bezeichnung, denn ich erfahre von Harry, daß wir beide vermutlich bei einer Reihe von Punkten nicht einer Meinung sein werden.

Zweifellos hat er Ihnen meinen Vorschlag unterbreitet, und ich kann mir vorstellen, daß Ihre erste Reaktion wie bei den meisten Betroffenen von Widerwillen und vielleicht sogar völliger Ablehnung bestimmt war. Ich weiß jedoch, daß solche Reaktionen das Ergebnis unzureichender Informationen sind, die zu einem Fehlverständnis führen.

Es ist natürlich unmöglich, meine Einstellung in diesem Brief mit allen Details darzulegen. Ich kann Ihnen nur versichern, daß andere Menschen keine gefühllose Person in mir gesehen haben und daß ich mich überhaupt nur in dem ernsten Glauben an den tiefgreifenden menschlichen Wert dessen an Sie wende, was wir beide zusammen erschaffen können. Es ist vielleicht auch möglich, daß Ihnen meine Erfahrung bei Ihren derzeitigen Problemen hilft.

Einmal rein praktisch gesehen, könnten Sie unsere Organisation zum Beispiel vor allen skrupellosen, kommerziellen Einflüssen schützen, denen Sie in den kommenden Wochen ausgesetzt wären. Es wäre unsinnig, in diesem Zusammenhang nicht auch die erheblichen finanziellen Vorteile für Ihre Familie zu erwähnen, sollten Sie sich wenigstens zu einer begrenzten Teilnahme entschließen.

Das Gesetz schützt natürlich Ihr Recht als Bürgerin auf ein Privatleben; wir bei der NTV gehen noch weiter, haben wir doch großen Respekt vor Ihrer Privatsphäre als einzigartiges menschliches Wesen. Ich stehe Ihnen jederzeit zur Beantwortung Ihrer Fragen zur Verfügung und würde mich freuen, möglichst bald einmal mit Ihnen zu sprechen – auch wenn es kein gemeinsames Fundament geben sollte, auf dem wir uns als intelligente Menschen begegnen könnten.

Hochachtungsvoll,
Vincent Ferriman

Sie hatte einen gierigen, aufdringlichen Brief erhofft, den sie sofort hassen konnte. Nach diesem Schreiben blieb ihr nur der Haß auf Vincent Ferrimans diskretprofessionelle Glätte.

Nicht, daß sie den Brief beantworten wollte: Es gab nichts, was sie sich zu sagen hätten – so intelligent sie auch waren. Wenn sie sterben mußte – was ihr in diesem Augenblick unglaublich vorkam, da selbst die Grabsteine zwischen den Narzissen ihr bestätigten, daß nur andere Leute starben und nicht sie –, wenn sie also schon sterben mußte, dann wollte sie das allein tun.

Sie fürchtete sich nicht vor Vincent Ferrimans Argumenten, seinen Begründungen, denn sie wußte, daß sie darüber erhaben war. Wenn sie ihn kennenlernte oder mit ihm sprach, würde ihr Körper rebellieren, nicht ihr Geist. Und ihr Körper würde dafür sorgen, daß sie ihm vor die Füße kotzte.

Sie faltete seinen Brief wieder zusammen und verstaute ihn sorgsam in ihrer Handtasche. Dann saß sie da zwischen den lärmenden Spatzen, die Knie zusammengepreßt, und bekämpfte die Niedergeschlagenheit, die der Brief ausgelöst hatte. Organismen nutzten sich ab, versagten den Dienst. Es gab keinen Grund, sich aufzuregen. Ihr fiel ein, daß sie losgegangen war, ohne richtig gefrühstückt zu haben, erinnerte sich an den Grund – und schämte sich.

Dann begriff sie das Gefühl der Niedergeschlagenheit. Nicht Vincent Ferrimans Brief war der Grund – sondern Hunger und Scham, und beides ließ sich beheben. Sie war ohnehin viel zu früh dran. Langsam stand sie auf und suchte sich ein Café mit Telefonzelle. Dort konnte sie essen und mit Harry Frieden schließen.

»Kate? Wo bist du?«

»Alles in Ordnung, Harry?«

»Natürlich.«

»Ich habe mich nicht sehr nett verhalten.«

»Du konntest eben nicht anders.«

»Aber natürlich.«

»Es ist keine sehr nette Situation.«

»Harry – es tut mir leid.«

»Was hätte ich denn tun sollen – herumtanzen?«

Auf das Plastikgehäuse des Telefons waren allerlei Nummern und obszöne Bemerkungen gekritzelt. Sie begann das Interesse an Harry zu verlieren.

»Wenn du Chinese wärst, hättest du das tun können.«

»Wenn ich nur gewußt hätte, was du wolltest…«

»Sie ziehen sich weiß an und tanzen durch die Straßen. Früher jedenfalls, vor langer Zeit, im Jahr der vier blauen Drachen.«

»Wovon redest du eigentlich, Kate?«

»Von chinesischen Begräbnissen.«

»Wenn ich nur wüßte, was du willst. Kate, wo bist du? Ich will dich abholen.«

»Laß das lieber.«

»Ich komme.«

»Dann verspätest du dich zur Arbeit.«

»Ich habe schon Bescheid gegeben, daß ich nicht komme.«

»Warum denn das, um alles auf der Welt?« Er wollte nicht antworten, und sie begann ihn zu drängen. »Warum gehst du nicht zur Arbeit?«

»Im Amt wird man mich verstehen, auch wenn du mich nicht verstehst.«

»Ich verstehe dich durchaus. Durchaus.«

»Wenn ich nur wüßte, was du möchtest, Kate.«

»Ich möchte mit jemand anders verheiratet sein, Harry. In den letzten siebenundzwanzig Tagen meines Lebens möchte ich mit jemand anders verheiratet sein.«

Ihr gefiel das Telefon; am Telefon hatte sie die Macht, Gespräche zu beenden, wenn sie wollte. Sie legte auf und kehrte langsam zu ihrem Tisch und ihrem Ei auf Toast zurück. Hunger und Scham, das war es gewesen, und beides ließ sich beheben. Mit Ei und Toast kurierte sie den Hunger und mit Zorn die Scham.

Er machte sich natürlich Sorgen um die Zukunft, um seine Zukunft. Zum zweitenmal ein Neuer Lediger, dazu zwei Jahre älter als sie – war er jemals jung gewesen wie sie? – und nicht reich, mit einer Aura der Schäbigkeit behaftet, die jetzt nur noch die herrschsüchtigsten Abgetakelten anziehen würde… Sie selbst war vielleicht auch herrschsüchtig, aber keine Abgetakelte… Sie mußte eingestehen, daß seine Aussichten ganz und gar nicht rosig waren. Aber wenigstens war seine Zukunft voller Leben.

Eine herrschsüchtige Abgetakelte? Niemals. Wenn sie einen Mann wollte, konnte sie jederzeit einen haben. Sie beendete ihre Mahlzeit… Nein, so durfte sie das nicht sehen; da sprach die kleine Bürokratin, die dralle, lebensfrohe Regierungsbeamtin, die über tausend Büroklammern gebot. Wenn sie einen Mann wollte – ohne Bezahlung –, würde sie sich anstrengen müssen. Und sie brauchte ihre Energie für andere Dinge.

Für andere Dinge?

Für ihr Buch, zum Beispiel.

Während ihr die Stunden durch die Finger rannen.

Abrupt verließ sie das Café und nahm die nächste Schnellbahn zu Computabuch. Jetzt kam es auf die Prioritäten an, und realistisch gesehen blieb ihr verflixt wenig Zeit, ihr Buch zu schreiben. Die Schüttelfröste würden häufiger auftreten, gefolgt von wiederkehrenden Lähmungen, gefolgt vom Verlust der Bewegungskoordination, gefolgt von Schweißausbrüchen, Doppelsichtigkeit, Versagen anderer Körperfunktionen, Halluzinationen; ein zunehmender Zusammenbruch, der unregelmäßigen Herzschlag, Anoxämie, völlige Lähmung bewirkte… Es war eine eindrucksvolle Liste, eine Litanei voller Rhythmus, eine Poesie, die sogar einen gewissen eigenen Glanz besaß. Und sie wußte, sie brauchte das. Dennoch blieb ihr wenig Zeit, einen Roman zu schreiben.

Vielleicht konnte sie Barbara umprogrammieren, konnte neue Kriterien entwerfen, neue Quer-Assoziationen, neue Wortspeicher-Verbindungen. Das war eine Aufgabe, die sie wahrscheinlich noch erfüllen konnte, wenn ihr die normale Schreibfähigkeit erst verlorengegangen war, bis hin zu den versagenden Körperfunktionen, zur Doppelsichtigkeit, sogar bis hin zu den Muskelspasmen. Wenn sie sich dann nicht schon umgebracht hatte.

Sie arbeitete den ganzen Tag intensiv an den grundlegenden Parametern, kanalisierte ihren Zorn, genoß die Umwerfung von Barbaras heiligsten Prinzipien. Peter lief unterdessen hin und her und leitete die Abteilung, ohne Fragen zu stellen. Einmal blieb er unter der Tür stehen, sah sie an und fand dann, daß dies das mindeste sei, was er für sie tun konnte. Sie würde ihm ihre Sorgen nicht anvertrauen, sondern sie einfach durchstehen. Sie hatten lange zusammengearbeitet, fast drei Jahre… Er fand keinen Trost in diesem neuen Beweis dafür, daß nicht nur Homos einsam waren.

Auch nach drei Uhr blieb er im Büro, wolle er sie doch nicht allein Barbaras mechanischer Konversation überlassen. Er räumte seinen Schreibtisch auf und begann dann wieder von vorn. Er notierte sich Eröffnungen für das Banalitätstestprogramm, von dem Kate gestern gesprochen hatte. Vielleicht freute sie sich, vielleicht lehnte sie aber auch seine Einmischung ab. Jetzt jedenfalls war sie mit etwas anderem beschäftigt, mit ihrem Zorn, der wie ein gefährlicher Dunst ungeklärt in der Luft ihres Büros hing.

Gegen vier Uhr kam ein Anruf von draußen durch, und er schaltete sich ein. Die Anruferin sagte, sie sei Journalistin. Peter war froh, daß er sich eingeschaltet hatte.

»Mrs. Mortenhoe ist nicht da«, sagte er.

»Seltsam… Ich habe sie zu Hause angerufen, und dort ist sie auch nicht.« Die Journalistin schien sich zu freuen. »Vielleicht können Sie mir etwas über Mrs. Mortenhoes Pläne sagen.«

»Pläne?«

Die Frage war entschuldbar, doch er stellte sie. Er war neugierig geworden.

»Ihre Pläne für die nächsten vier Wochen. Wie lange sie bei Computabuch bleiben will. Wo und mit wem sie die Schlußphase verbringen möchte.«

Auf dumme Fragen bekommt man dumme Antworten. Er fiel der Journalistin ins Wort, sagte: »Ich glaube, Sie haben falsch gewählt«, und ließ danach den Hörer neben dem Apparat liegen, damit sie nicht noch einmal anrief.

Lange Zeit starrte er auf die Hörmuschel, aus der die Stimme gedrungen war. Schließlich stand er auf und ging mit weichen Knien zu Katie-Mos Bürotür.

»Katie-Mo, da war ein Anruf für Sie.« Er wollte sie sehen. »Eine Journalistin.«

»Was wollte sie?«

»Ich habe ihr gesagt, Sie wären nicht da.«

»Sie sind ein Schatz. Wahrscheinlich irgendeine Frauenzeitung, die über einen neuen Aspekt des Liebesromans schreiben will.«

»Etwas in der Art.«

Sie hob den Blick von ihrer Arbeit. Er hatte das Gefühl, sein unverzeihliches Wissen müsse ihm auf der Stirn geschrieben stehen.

»Warum gehen Sie nicht nach Hause?« fragte sie lächelnd. »Es ist schon längst Feierabend.«

»Ja, ich glaube, ich gehe jetzt.« Er fühlte sich zu ihr hingezogen und zugleich von ihr abgestoßen. »Wenn es sonst nichts gibt?«

»Sie kennen mich doch, Pete. Immer die eifrige Wühlmaus.«

Er nickte und verließ das Büro. Er verstand ihren Zorn besser als sie selbst. Er fragte nicht, was sie da so geschäftig machte, er stellte überhaupt keine Fragen. Irgendwie hatte er heute schon genug Antworten erhalten.

Katherine wartete einige Minuten, ging dann in sein Büro hinüber, um sich zu vergewissern, daß er fort war, kehrte in ihr Zimmer zurück und rief Dr. Mason im Medizinalzentrum an. Als sie ihren Namen nannte, wurde sie sofort verbunden.

»Katherine. Ich bin bei einem Patienten. Kann ich zurückrufen?«

»Nein. Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich Sie wegen Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht verklagen werde.«

»Bitte, Katherine. Ich kann jetzt nicht reden.«

»Ein Brief der NTV, und jetzt ein Anruf von der Zeitung. Wer gibt Ihnen das Recht, meine privaten Angelegenheiten überall zu verbreiten?«

»Sie sehen das nicht richtig.«

»Bestimmt kommt auch bald ein Kondolenztelegramm vom Premierminister.«

»So einfach ist die Sache nicht.«

»Sie kommt mir aber sehr einfach vor.«

»Es haben so viele Leute damit zu tun, Katherine, Krankenpfleger, EDV-Operatoren, Neurograph-Bedienungen. Es gibt viele Stellen, wo so etwas durchsickern kann.«

»Nein, die Information kam von Ihnen, Doktor. Das hört man Ihrer Stimme an.«

»Sie sind aufgeregt, meine Liebe. Ich möchte Sie gleich wieder anrufen.«

»Ich brauche die NTV nicht, um Geld für meine Familie zu verdienen. Ich habe Sie. Und wenn Sie mich anrufen, zeige ich Sie auch noch wegen Belästigung an.«

»Das ist ein guter Abgang, Katherine. Aber…«

Sie ließ sich ihr Schlußwort nicht verderben. Und hatte Spaß bei dem Gedanken an sein Unbehagen, das verlegene Achselzucken, mit dem er sich seinem Patienten zuwenden würde, das Lächeln, das professionelle Lächeln, das sie so gut kannte und mit dem er die unterbrochene Konsultation schnell wieder zurechtrücken würde. Er war falsch, der falscheste von allen. Sie lachte laut auf, ein unangenehmer Laut in dem stillen Büro, und wählte dann energisch die Nummer, die auf Vincent Ferrimans Briefbogen stand.

»Mrs. Mortenhoe. Katherine. Wie nett von Ihnen, daß Sie anrufen.«

»Ganz und gar nicht nett von mir. Ich wollte nur wissen, was Ihnen Dr. Mason über mich erzählt hat.«

»Dr. Mason? Wollen Sie etwa behaupten, daß Ihr eigener Arzt…«

»Wenn nicht er, wer dann?«

»Das würde ich Ihnen gern sagen, Mrs. Mortenhoe. Aber natürlich müssen wir unsere Informationsquellen schützen, und…«

»Dr. Mason hat es zugegeben.«

»Ich bin sicher, daß das nicht zutrifft. Mit solchen Fällen haben viele Leute zu tun, Mrs. Mortenhoe. Krankenpfleger, EDV-Operatoren, Neurograph-Bedienungen. Es gibt viele Stellen, wo etwas durchsickern kann.«

»So viele Stellen.«

»Wie bitte?«

»Den Spruch habe ich doch schon mal gehört, Mr. Ferriman.«

»Offenbar ist Ihnen jemand auf die Nerven gefallen. Wenn Sie wollen, Katherine, kann die NTV Sie schützen und…«

»Sie werden feststellen, lieber Vincent, daß ich durchaus in der Lage bin, mich selbst zu schützen.«

Und sie beendete das Gespräch. Aber es war ein billiger Triumph. Die Worte klangen trotz ihres allesverzehrenden Zorns unpassend, klangen wie billiges Hintertreppengeschimpfe, was sie ja auch waren.

Sie kam sich bedrängt vor und suchte wieder Trost in ihrem Buch, suchte die Würde, mit der es die bitteren Wahrheiten der menschlichen Natur offenbaren würde. Nein, die neutralen Wahrheiten, die chemischen Wahrheiten der menschlichen Natur. Das Bedürfnis, den Außenseiter zu verfolgen, gehörte zu diesen Wahrheiten, ein Trieb, der vor hundert Millionen Jahren zur Stabilisierung einer unsicheren Spezies entwickelt worden war. Gier war eine andere solche Wahrheit, die viel später auftrat – als Ergebnis von Machtstrukturen, die sich auf materiellen Besitz gründeten. Der Betrug war auch so eine Wahrheit, eine Sophisterei, die…

In diesem Augenblick läutete das Haustelefon – die Empfangsdame, die ihr einen Besucher ankündigte, genau gesagt sogar vier Besucher. Reporter von Zeitungen. Die Empfangsdame war sehr aufgeregt. Katherine sagte, sie wolle keinen der Herren sehen und die Empfangsdame solle nachdrücklich auf das Gesetz über die Privatsphäre hinweisen. Jeder Quadratmeter hinter dem Foyer des Computa-Gebäudes sei Privatbereich. Die Empfangsdame, nun noch aufgeregter, sagte, sie würde sich Mühe geben.

Fünf Minuten später erschien ein Mann an ihrer Tür, ohne anzuklopfen.

»Mrs. Mortenhoe?«

»Ich glaube, sie ist schon nach Hause gegangen. Ihr Büro ist nebenan. Warum versuchen Sie’s nicht mal dort?«

»Ich will’s Ihnen lieber gleich sagen, Mrs. Mortenhoe. Ich habe mir unten das Büroverzeichnis angesehen. Außerdem habe ich dies hier aus den Datenbank-Fotoakten.«

Er reichte ihr den Printout eines Fotos, das ihr durchaus ähnlich sah. Sie wich davor zurück.

»Die Akten sind nur für den offiziellen Gebrauch«, sagte sie.

»Man kann sich heutzutage auf niemand mehr verlassen.« Er ließ sein Feuerzeug aufschnappen und das Papier zu einem grauen Aschehäufchen verbrennen, das sich schnell in der stillen, sonnigen Luft des Büros verflüchtigte. »Ihr Wort gegen das meine, Mrs. Mortenhoe.« Er setzte sich ihr gegenüber an den Tisch und zog ein kleines Tonbandgerät aus der Tasche. »Ganz offen«, sagte er. »Wie’s im Gesetz steht.«

»Außer, daß Sie gegen das Gesetz über die Privatsphäre verstoßen, da Sie sich unbefugt in einem Privatbereich aufhalten.«

»Nicht unbefugt, Mrs. Mortenhoe. Ihr Pressemann weiß über meinen Besuch Bescheid.«

»Haben Sie ihm gesagt, warum Sie mit mir sprechen wollten?«

»Ich glaube nicht, daß er danach gefragt hat. Wahrscheinlich nahm er an, ich sei an den Ursprüngen des Liebesromans interessiert.«

Endlich hatte sie einen würdigen Gegner, einen Zielpunkt für ihren Zorn. Sie lächelte ihn an und wartete. Sie kannte das Gesetz.

»Könnten wir bitte mit dem Geplänkel aufhören? Ich heiße Mathiesson und bin von der Morning News.« Er zeigte ihr seinen Presseausweis und den Besucherpaß, den er vom Pressebeauftragten Computabuchs erhalten hatte.

»Ich habe Ihnen nichts zu sagen, Mr. Mathiesson.«

»Dann streiten Sie also nicht ab, daß die Nachricht über Ihren Gesundheitszustand ein großer Schock für Sie gewesen ist?«

Sie kannte das Gesetz. »Ich habe Ihnen nichts zu sagen.«

»Und Sie streiten nicht ab, daß Ihr Mann einen letzten, tollen Traumurlaub für Sie beide plant?«

»Ich habe nichts zu sagen.«

»Und Sie streiten nicht ab, daß man Ihnen siebenhunderttausend Pfund für einen Exklusivvertrag mit der NTV geboten hat?«

So viel? Ging es wirklich um so viel? »Ich habe nichts zu sagen.«

»Mrs. Mortenhoe – was ist das für ein Gefühl, zu wissen, daß man stirbt?«

Sie kannte das Gesetz. »Ich – habe nichts zu sagen.«

»Streiten Sie ab, daß Ihr Mann sich vor der tragischen Nachricht mit dem Gedanken getragen hat, die bevorstehende Erneuerung vielleicht nicht vorzunehmen?«

»Hat er Ihnen das gesagt?« O Gott!

»Ihr Mann steht Ihnen sehr nahe, Mrs. Mortenhoe?«

»Ich brauche hier nicht zu sitzen und mir Ihre Fragen anzuhören.« Und sie kannte das Gesetz.

»Natürlich nicht. Sie können jederzeit gehen.«

Ein ebenbürtiger Gegner. Sie dachte an die Männer unten, die Männer, die nicht die Klugheit besessen hatten, sich an den Pressebeauftragten zu wenden, ehe er nach Hause ging. Draußen auf der Straße war sie öffentlicher Besitz. Harry hatte dem Kerl so etwas bestimmt nicht erzählt. Es stimmte ja nicht einmal.

»Ich möchte eine formelle Leiderklärung abgeben«, sagte sie.

»Dazu brauchen Sie zwei Zeugen.«

»Die bekomme ich schon.«

»Ein Mädchen sitzt unten am Empfang. Alle anderen sind nach Hause gegangen. Und von mir können Sie kaum erwarten…«

»Ich frage mich, was Sie mit solchen Methoden zu gewinnen hoffen, Mr. Mathiesson.«

»Sie reden mit mir, Mrs. Mortenhoe. Und wie jeder andere gute Journalist hoffe ich auf die Wahrheit.«

Sie gab ihm durch ihr Schweigen zu verstehen, was sie davon hielt. Er öffnete die Augen ein wenig weiter, als sei er ihrer Meinung.

»Die NTV hat vielleicht das Geld, Mrs. Mortenhoe, aber sind Sie sicher, daß Ihnen die Methoden dieser Leute gefallen? Wie man hört, können Sie nicht mal aufs Klo gehen, ohne daß ein Magnetophon Ihre Pupse aufzeichnet. Wenn Sie bei uns unterschreiben, garantieren wir Ihnen eine gewisse Abgeschiedenheit, die Gegenwart von höchstens einem Reporter für maximal vierzehn von vierundzwanzig Stunden.«

»Ihre Arbeitszeit ist lang.«

Er zuckte die Achseln. »Das schuldet man der Öffentlichkeit, Mrs. Mortenhoe. Sie hungert nach Schmerz. Ein ernster psychischer Mangel – das wissen Sie so gut wie ich.«

Sie lächelte, rief beim Empfang an und ließ sich ein Taxi zur Laderampe am Hinterausgang schicken. Dort gab es keine Reporter – Privatbereich.

Er beugte sich über sie, drückte ihren Finger weiter auf den Knopf. »Hier Mathiesson«, sagte er. »Rufen Sie gleich zwei Taxis.«

Wieder lächelte sie ihn an. Sie genoß die Szene, genoß ihren Haß, genoß die Gewißheit, daß sie diesen Mann beschämen würde.

»Ich fahre jetzt nach Hause«, sagte sie.

»Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich hinterherfahre?«

»Dagegen gibt es kein Gesetz.«

»Aber wenn ich Sie nur anfasse, werden Sie mich anzeigen?«

»Richtig.« Sie nahm ihre Handtasche und einige Blätter mit Notizen. »Meine Schmerzen sind allein meine Angelegenheit, Mr. Mathiesson. Ich gedenke sie nicht zu verkaufen – weder an Sie noch an irgend jemand anders.«

»Offenbar haben Sie nicht an die Leute von der Werbung gedacht.« Er nahm sein Tonbandgerät zur Hand und folgte ihr in den Korridor. »Ein hartnäckiger Haufen. Fast so hartnäckig wie wir.«

Sie standen nebeneinander vor den Fahrstühlen.

»Sie kommen mir nicht ins Haus«, sagte sie.

»Wie unklug, Mrs. Mortenhoe. Wenn die Jungs mich in Ihrer Begleitung ankommen sehen, wissen sie, daß ich ein Vorrecht habe.«

Ein Fahrstuhl kam, und sie stiegen ein. Sie drückte den Knopf für das Erdgeschoß, schob sich dann im letzten Augenblick wieder ins Freie, als die Tür zuging. Es gab eine Hausmeistertür, die sie benutzen konnte – sollte das Taxi doch warten. Aber Mr. Mathiesson war zu schnell und stoppte den Lift mit dem Alarmknopf.

»Haben Sie etwas vergessen, Mrs. Mortenhoe?«

»Die Toilette. Wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Oh, bitte sehr.«

Er ging mit ihr zurück und richtete sich vor der Tür aufs Warten ein. Sie durchquerte den Waschraum, erbrach das Siegel des Notausstiegs und trat hinaus. Mr. Mathiesson befand sich drei Meter entfernt und winkte ihr fröhlich vom Notausgang des Korridors zu.

»Mal frische Luft schnappen, Mrs. Mortenhoe?«

Als sie das schwindelerregende Muster der Feuertreppe unter sich betrachtete, wußte sie, daß sie ohnehin nicht damit fertig geworden wäre. Sie und Mr. Mathiesson fuhren also zusammen nach unten, stumm im Fahrstuhl stehend. Nachdem nun nur noch eine List übrig war, genoß sie die Situation nicht mehr.

Sie nannte dem wartenden Taxifahrer ihre Anschrift, sah, wie ihr Begleiter in sein Taxi stieg, und verließ den Wagen sofort auf der anderen Seite. Mr. Mathiesson wartete bereits auf sie.

»Conan Doyle«, sagte er. »Etwa Ende neunzehntes Jahrhundert.«

Sie kapitulierte. Vor allen Dingen wollte sie ihm keine Gelegenheit mehr geben, seine widerliche Klugheit unter Beweis zu stellen. Sie kehrte in ihr Taxi zurück und saß niedergeschlagen in den Polstern, die Knie umschlungen, während der Fahrer den Wagen samt Anhang sauber in den vorbeiströmenden Verkehr einfädelte.

Ironischerweise war es schließlich die Stadt, die Mr. Mathiesson hereinlegte. Ein Turbinenlaster raste auf der ersten Schnellstraßenkreuzung von hinten in sein Taxi und tötete ihn sofort. Sie ließ ihren Fahrer anhalten, bezahlte ihn und eilte zurück, um sich die Szene anzusehen. Mr. Mathiesson hatte sich den Hals gebrochen, und überall auf seinem Gesicht waren die zerkrümelten Brocken des bruchsicheren Glases eingedrückt. Der Lkw-Fahrer, dem mehrere Zähne fehlten, blutete sauber in einen Abfalleimer. Ungesehen stand ein kleiner Mann in graugrüner Jacke hinter dem Laster, an eine Parkuhr gelehnt, und beendete seine Lektüre eines Aimee-Paladine-Romans.

Katherine erfuhr von anderen Neugierigen, daß der Taxifahrer drüben in der Telefonzelle sei und den Unfallbeseitigungsdienst anrufe. Sie ging zurück und warf einen letzten Blick auf Mr. Mathiesson, entfernte sich dann ruhig durch die Menge. Organismen nutzten sich ab, versagten den Dienst. Es gab keinen Grund, sich aufzuregen.