FREITAG

Ich erfuhr von Katherine Mortenhoes Entführung aus dem Fernsehgerät der ›Night Hawk‹-Kaffeebar. Um drei Uhr früh sieht man sich alles an, sogar den Börsenbericht von Tokio, der zwischen die fünfte Wiederholung von Filmen oder Shows geschoben wird. Man sieht zuviel fern, trinkt zuviel Kaffee und ißt zu viele Pfannkuchen. Seltsam, wie hungrig man ist, sogar zu dieser toten, zu grellen, hoffnungslosen Nachtstunde. Wenn ich erst ein paar Jahre lang der Mann mit den Fernsehaugen gewesen war, würde ich vor Verfettung nicht mehr geradeaus sehen können.

Die Mortenhoe-Meldung weckte sogar den Kerl hinter der Bar. Ich fragte ihn, ob ich sein Telefon benützen dürfte, und rief Vincent an, der jedoch klugerweise abgeschaltet hatte, so daß sich nur sein Auftragsdienst meldete. Ich überlegte, ob ich zu ihrer Wohnung fahren sollte, aber da sie nicht mehr da war, schien das sinnlos zu sein. Außerdem war die Hälfte der Medienwelt bereits dort – und die andere Hälfte bestimmt schon unterwegs.

Die Meldungen kamen nun jede Viertelstunde. Sie war von einer Gruppe Universitätsstudenten als Geisel mitgenommen worden. Man verlangte die sofortige Entlassung von 112 Kommilitonen, die zur Zeit auf ein Verfahren wegen Aufruhr warteten, und zwar schon seit neunzehn Monaten. Wie die meisten hatte ich den Fall ganz vergessen. Nachdem die Studenten ihn nun wieder aufgewärmt hatten, brachten sie Katherine hoffentlich zurück. Oder setzten sie irgendwo ab. Trunken von Kaffee und Pfannkuchen überlegte ich, daß sie ja noch zu jung war zum Sterben. Fünfundzwanzig Tage zu jung.

Eine Viertelstunde später hatte die Polizei den Wagen der Studenten gesichtet. Mit einer Verhaftung wurde jeden Augenblick gerechnet. »Das ist schnell«, sagte ich zu dem Barmann.

Er zuckte die Achseln. »Computer«, sagte er, als erklärte das alles und als wäre er ohne Computer selbst ein Meisterverbrecher geworden.

Als nächstes kam Werbung, dann eine Talkshow mit einem ältlichen Talkmaster, der offenbar auf einem Trip war. Als ich wieder hinschaute, wurde gemeldet, daß die Polizei die Studenten irgendwo im Norden in die Enge getrieben hatte, und es war von Waffen die Rede. Das hatte Katherine Mortenhoe noch gefehlt: eine frühmorgendliche Kugel hinter die Ohren, in irgendeiner protzigen Wohnturmvorstadt. Das würde uns allen – ihr auch? – eine Menge Ärger ersparen. Und wir würden auf viele Fragen keine Antwort mehr erhalten. Und – vielleicht – auch niemals mehr Auftrieb durch die Begabung eines sterbenden Mitmenschen zur Freude.

Auch ohne Talkshow wäre die nächste Viertelstunde lang gewesen, doch mit dem Gerede dehnte sie sich unendlich. Aber schließlich vergingen die Minuten, und in den folgenden Nachrichten war Katherine auf dem Weg ins Krankenhaus; sie hatte nur einen Schock erlitten. Die Studenten hatten, nachdem sie umstellt worden waren, auf einen heroischen Kampf verzichtet und lieber leben wollen, um eines anderen Tages weiterzukämpfen. Also hatten sie sich er- und Katherine Mortenhoe freigegeben, wobei nur ein Student erschossen wurde.

Was Katherine anging, war die ganze Episode in knapp einer Stunde vorbei. Ein triviales Ereignis, nur vorübergehend aufregend, und eigentlich gar nicht erwähnenswert, außer daß es ihr vielleicht den letzten Anstoß gab, der sie in Vincents Arme trieb. Wenigstens sah ich die Sache damals so. Der günstig gewählte Zeitpunkt des Unternehmens verriet mir zweierlei: daß sich Vincent auf sein Handwerk verstand, was ich bereits wußte, und daß er es eilig hatte. Er hatte wohl das Gefühl, daß ihm Katherine Mortenhoes Tage wie Sand durch die Finger rannen.

Ich war froh, daß niemand den Studenten sagen konnte, für wen sie in Wirklichkeit ihre Jugend im Gefängnis verbrachten. Nur ich, und so sadistisch war ich nun auch wieder nicht.

Katherine haßte die Studenten, groteske Gestalten in ihrem Augenblick vermeintlicher, ruhmreicher Revolution. Untereinander sprachen sie einen bewußt unverständlichen Guerillaslang und betonten damit ihre Loslösung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie trugen sogar eine Art Uniform, die übliche geflickte Flakjacke. Dabei war Guevara tot und seit vielen Jahren begraben. Sie verachtete ihr Denken, das im Grunde mehr ein Fühlen war und ihnen eine Art sorgloser Freiheit bescherte. Sie verachtete sie und fand sie sogar leicht schockierend.

Katherine konzentrierte ihre Energie darauf, sich an die vor ihr befindliche Sitzlehne zu klammern, während der Wagen durch die verlassene Stadt schleuderte.

Dann bäumte sich vor ihnen der Buckel eines Rundverkehrs auf, unglaublich hoch, die riesigen Blumenbeete farblos in den grellen Scheinwerferstrahlen, und der Wagen erklomm ihn, stürzte um und lag still. Ihr wurde plötzlich klar, daß sie ja seit ihrer Entführung jeden Augenblick hätte getötet werden können. Und erkannte, als sie das Bewußtsein verlor, den schweren Kindheitsduft von Mauerpfeffer.

Sie erwachte und hatte Schüttelfrost. Dr. Mason stand neben ihrem Bett, prüfte Puls und Atmung auf einem Bildschirm, und es dauerte einige Sekunden, bis sie herausfand, warum sie sich über seinen Anblick nicht freuen durfte. Dann fiel ihr Vincents Brief ein und seine Aufrichtigkeit am Telefon: »So viele Leute haben damit zu tun, Mrs. Mortenhoe. Da kann an vielen Stellen etwas durchsickern…«, und die ganze Affäre war plötzlich so lange her und so unwichtig, und Dr. Mason war wieder der einzige Weg durch den professionellen Dschungel.

Er sah, daß sie die Augen geöffnet hatte, und lächelte. »Sie haben sich den Kopf gestoßen«, sagte er. »Nicht sehr schlimm. Alles bestens mit Ihnen.«

»Und die dummen Studenten?«

Er runzelte die Stirn. »Wenn Sie Ihre Schüttelfrostanfälle haben, Katherine, sollten Sie sich zu entspannen versuchen, das strengt Sie weniger an. Versuchen Sie, tief zu atmen.«

Sie versuchte, tief zu atmen. Der Schüttelfrost ließ nach. Sie wiederholte ihre Frage nicht – wenn er ihr eine Unannehmlichkeit ersparen wollte, war ihr das recht. Die Studenten waren ihr ohnehin nie besonders real vorgekommen – eher wie Schauspieler in einem schlechten Film.

»Ich habe Ihnen geschrieben«, sagte Dr. Mason. »Persönliche Zustellung. Ich wollte die Verbindung aufrechterhalten.«

Sie erinnerte sich an Harrys restliche Briefe. »Ich habe soviel Post bekommen«, sagte sie einfach, »daß ich die Briefe schließlich gar nicht mehr aufgemacht habe.«

»Das hatte ich schon befürchtet. Aber für mich gab es keine andere Kontaktmöglichkeit.«

»Sie haben jetzt ja Ihren Kontakt«, sagte sie, drehte sich um und schlief ein.

Als sie richtig erwachte, war der Vormittag schon halb vorüber. Dr. Mason stand wieder neben ihr oder hatte sich gar nicht von der Stelle gerührt. »Sie stehen jetzt auf«, sagte er. »Sie dürfen hier nicht herumliegen und sich selbst bemitleiden. Harry hat angerufen, und ich habe ihm gesagt, es geht Ihnen bestens. Er wollte kommen, aber ich habe ihm angekündigt, Sie würden nach dem Mittagessen nach Hause zurückkehren.«

Harry fiel ihr wieder ein. »Krankenhäuser machen ihn immer ganz fertig«, sagte sie.

»Das habe ich mir schon gedacht. Na ja, jetzt zuerst das Frühstück, dann stehen wir auf.«

Beim Frühstück erkundigte er sich nach ihrem Anfall oben im Schloß, und sie sagte ihm alles, was ihr einfiel. Er war fasziniert – so sehr, daß sie sich fast wünschte, ihm sofort eine neue Lähmung vorzeigen zu können, nur um ihm einen Gefallen zu erweisen. Aber so weit war es denn doch noch nicht.

Dann wechselte er das Thema. »Sie bleiben hübsch munter?« fragte er.

Sie glaubte die Frage nicht richtig verstanden zu haben. »Munter?«

»Ja, denn das ist sehr wichtig. Ich kann Ihnen gern ein paar Aufmunterungspillen geben.«

»Ich habe eigentlich noch nicht darüber nachgedacht.«

»Natürlich nicht.« Er zögerte. »Manchmal unterschätze ich Sie, Katherine. Tut mir leid.«

Sie aß schweigend zu Ende. Wenn er sie so enttäuschen wollte, konnte er ruhig verschwinden. Wieso war er überhaupt hier, wo er doch im Medizinalzentrum so viele Termine hatte?

»Vermutlich bin ich ein sehr interessanter Fall.« Sie fegte Toastkrümel vom Laken. »Wahrscheinlich werden Sie eine Abhandlung schreiben und sind jetzt hier, um sich Notizen zu machen.«

»Nicht ganz.« Er stritt es wenigstens nicht ab. »Ich bin auch hier, weil ich glaube, Ihnen helfen zu können.«

»Sie haben mir aber gesagt, daß es keine Hilfe gibt.«

»Nicht gegen das Fortschreiten des Syndroms. Aber aufgrund Ihrer Einstellung dazu gibt es Hoffnung.«

Ihre Einstellung ging nur sie etwas an. »Meine Einstellung beschränkt sich im Augenblick darauf, daß ich zu meinem Mann nach Hause möchte. Später schaue ich vielleicht noch mal bei Computabuch vorbei, um ein paar Sachen aufzuarbeiten.« Sie erwähnte nicht, was sie dazwischen zu unternehmen gedachte. »Ich habe noch viel zu tun, ehe meine drei Tage Leiderklärung um sind.«

Er war unruhig. Sie vermutete, daß er ihr etwas Schwieriges zu sagen hatte, denn er ging auf Abstand, indem er sich an den Schwesterntisch setzte. »Ich – ich möchte nicht, daß Sie das Gefühl haben, Ihre Krankheit sei eine Sackgasse, Katherine. Und ich muß Ihnen abraten, diesbezüglich bindende Verpflichtungen einzugehen.« Ahnte er den vergessenen, den wichtigsten Punkt? »Sie müssen verstehen: Keine Krankheit ist ausweglos. Es gibt immer Möglichkeiten, und ich würde meine Pflicht vernachlässigen, wenn ich Ihnen nicht davon erzählte.«

»Euthanasie?«

In der nun folgenden Pause zog er seinen Kugelschreiber aus der Tasche, drückte ihn gegen den Tisch und ließ Daumen und Zeigefinger daran entlanggleiten.

»Unter keinen Umständen«, sagte er. »Niemals. Ich möchte, daß mir meine Patienten vertrauen. Absolut vertrauen.« Er hob den Blick. »Außerdem bestehen die Verhältnisse, unter denen sie einmal diskutierbar waren, nicht mehr.«

»Also Pillen, Pillen und nochmals Pillen«, sagte sie, ohne recht zu wissen, warum ihr die Vorstellung zuwider war.

»Lehnen Sie das nicht zu leichtfertig ab, Katherine. Wenn ein Arzt etwas lernt, dann die Tatsache, daß Leiden nichts Edles ist.« Er steckte seinen Kugelschreiber wieder ein. »Ich möchte, daß Sie sich jetzt anziehen, Katherine, und mich begleiten. Ehe Sie die Euphoriemittel ablehnen, sollten Sie ihre Wirkung sehen.«

Sie fuhr zurück, zog ihr Bettzeug hoch bis zum Hals. »Nein.«

»Sie müssen mitkommen. Ihre Entscheidung hat keine Würde, wenn sie nur aus Ignoranz und Angst getroffen wird.«

Es war ihr scheißegal, ob ihre Entscheidung Würde hatte oder nicht. Das waren doch nur große Worte. Der Ignoranz und der Angst beschuldigt zu werden, war jedoch etwas anderes.

»Also gut«, sagte sie. »Geben Sie mir fünf Minuten, ich will mir das Gesicht zurechtmachen.«

Das Krankenhaus, in das Katherine gebracht worden war, hatte eine große Altersabteilung. Nach Dr. Masons Angaben lebten dort gut tausend Männer und Frauen im Ruhestand. Dieser Begriff, der so lange ein akzeptierter Teil ihres Wortschatzes gewesen war, hatte plötzlich etwas Drohendes. Sie begann zu schwitzen. Die erste Station enthielt die Geistesschwachen. In einem hübschen, kleinen Zimmer saß ein sehr alter Mann aufrecht im Bett und starrte auf ein Puzzlespiel. Während Katherine und der Arzt zuschauten, trat eine Schwester ein und legte zwei Steine in der Ecke des Bildes an – blauer Himmel und Möwen. Der alte Mann lächelte.

»Eine einfache Narkose«, murmelte Dr. Mason. »Er glaubt, er tut alles selbst.«

In einem anderen, sonnenhellen Raum stand ein Doppelbett. Es hätte Katherine nicht überrascht, wenn die alten Gestalten darin zwei Männer oder zwei Frauen gewesen wären, doch es handelte sich um ein Ehepaar, das bereits in der achten Erneuerung lebte. »Die beiden hatten Glück«, sagte Dr. Mason. »Sie sind mehr oder weniger gemeinsam so geworden.«

Von Zeit zu Zeit ertönte vom Bett ein leises, elektrisches Klirren, und die beiden Menschen quiekten leise, wahrscheinlich vor Vergnügen.

Weiter unten im Korridor erreichten sie ein Zimmer mit mehreren Betten. Ein unverständliches Plappern lag in der Luft. »Für manche ist Kommunikation das wichtigste auf der Welt.«

Katherine schloß die Tür und lehnte sich dagegen. »Soll dies alles dazu führen, daß ich mir nicht gefangen vorkomme?« fragte sie.

Dr. Mason schüttelte den Kopf. »Sie werden nie so enden. Geistesabwesenheit tritt nur in hohem Alter ein. Vielleicht hätten wir mit passenderen Fällen beginnen sollen.« Er entfernte sich, und sie folgte ihm aus Angst, allein gelassen zu werden. »Trotzdem interessiert mich Ihre Reaktion. Jeder Patient hier ist glücklich und beschäftigt und – soweit das seine Konzentrationsfähigkeit zuläßt – an seiner Umwelt interessiert. Würden Sie diese Wesen lieber dahinvegetieren lassen?«

Ja. Ja, sie hätte es vorgezogen, wenn die Patienten dahinvegetiert wären. Aber das konnte sie nicht sagen. Sie konnte keine Gründe dafür anführen. Sie konnte nur empfinden. Sie fuhren mit dem Fahrstuhl in die dritte Etage, um sich passendere Fälle anzusehen.

Die Menschen hier oben waren beweglicher und wacher. Sie kannten Dr. Mason und begrüßten ihn fröhlich, wandten sich dann wieder ihren Bridge- oder Schachspielen zu, ihren Zeitungen oder Strickpartys oder Diskussionsgruppen beim Kaffee. Wenn ihre Beine nicht mehr funktionierten, hatten sie Wägelchen, wenn ihre Arme verkümmert waren, besaßen sie Prothesen, wenn ihre Verdauung zusammengebrochen war, wurden sie auf anderem Wege ernährt. Stürzte ein Patient oder benäßte den Boden, schien außer den Krankenschwestern niemand darauf zu achten. Soweit Katherine feststellen konnte, waren alle glücklich. Es war ein Ort des Glücks.

Um ihr die Situation zu verdeutlichen, unterhielt sich Dr. Mason mit einem verschrumpelten, alten Mann mit gelähmter Hüfte. »He, Sie, Charlie, erzählen Sie der Dame mal, weshalb Sie so verdammt fröhlich sind.«

Charlie bog sich vor Lachen. »Hatte es nie besser, Doc.«

»Das ist doch Unsinn. Ihre Beine funktionieren nicht. Sie haben ein schwaches Herz und können jeden Augenblick abkratzen. Ihre Familie besucht Sie nicht, und Sie sind für den Rest Ihres Lebens hier eingesperrt.«

»Er will mich ärgern.« Charlie drehte sein Wägelchen herum, so daß er Katherine anstoßen konnte. »Ich sehe das aber so, Schatz. Es ist ein gutes Leben, aber nichts währt ewig. Das Stockwerk hier ist eine Art Zwischenstation, wo man einen Ausgleich finden kann. Ein Ort, wo alles Liebe ist.«

Diese Worte kamen ihm weder gefühlsselig noch verlegen über die Lippen. »Wenn man Pillen braucht«, sagte er, »um zu erkennen, daß das Leben nicht nur durch und durch mies ist, dann können Sie mir jeden Tag Pillen geben.«

»Ist das nicht ein verdammt einfacher Ausweg?« fragte Dr. Mason grob.

»Kein Ausweg, Doc. Ein Weg nach innen. Kommt darauf an, wie man es sieht.«

Dr. Mason dankte dem Mann und führte Katherine in den Korridor und zum Fahrstuhl. »Wie Sie sehen, sind die Leute nicht im geringsten betäubt«, sagte er. »Nicht im alten Sinne. Die Stimmungskontrolle hat seit dem alten Bromid große Fortschritte gemacht.«

Katherine starrte ihn an. Sie war wütender, als sie sich erklären konnte. »Wie ein Seehund mit seinem Trainer«, sagte sie. »Klatsch, klatsch, und er balanciert den Ball. Und Sie meinen wirklich, daß ich nun hierherkommen möchte, nachdem Sie mir das alles gezeigt haben?«

»Sie mußten eine klare Vorstellung von dem gewinnen, was Sie ablehnten. Und warum Sie es ablehnten.«

Der Fahrstuhl erreichte das Erdgeschoß. Sie taumelte hinaus, von dem Gedanken an Flucht erfüllt. Aber dann drehte sie sich noch einmal um. Sie war noch nicht fertig mit ihm. Er hatte kein Recht, er hatte nicht das Recht, Gründe zu verlangen. »Ich glaube, ich würde lieber zu einer Gruppe wimmernder Idioten wollen als in die chemische Fröhlichkeit da oben.«

»Ich kann Ihnen ein paar Wimmerer besorgen, wenn Sie das wünschen.«

Sie hätte ihn fast geschlagen. »Sie lachen über mich und Ihre Patienten. Sie sind es nicht wert, Arzt zu sein.«

Sein Gesicht erstarrte, und er wandte den Blick ab. Sie hatte ihn tiefer getroffen als erwartet. »Was für Fehler ich auch haben mag, ich kann Ihnen versprechen, daß ich weder Sie noch die Leiden der Alten irgendwie amüsant finde.«

Es war ein lächerliches Gespräch. Menschen drängten sich an ihnen vorbei in den Fahrstuhl, doch er schien sie nicht wahrzunehmen. »Sie möchten offenbar einen anderen Arzt konsultieren. Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie schon mehrfach mit Doktor Clarke gesprochen. Wenn Sie Hilfe brauchen, können Sie das Medizinalzentrum anrufen – es wird Sie mit ihm verbinden. Ich sorge dafür, daß er Ihre Unterlagen bekommt. Viel Glück.«

Er verbeugte sich einige Millimeter und ließ sie stehen. Sie wollte protestieren, sie hatte es nicht so gemeint. Sie wollte von Dr. Clarke nichts wissen, sie wollte nur ihn. Er kannte sie. Er verstand sie. Er war ihr einziger Weg durch den professionellen Dschungel.

Doch obwohl er sie kannte, hatte er sie in dieses schreckliche Gebäude geführt, und die Menschen, die er ihr gezeigt hatte, ängstigten sie mehr als der Tod.

Sie sah ihm nach, wie er durch das belebte Foyer schritt. Sie würde seinen Dr. Clarke nicht aufsuchen. Wo immer sie war, was ihr auch widerfuhr – sie hatte jetzt niemanden mehr, an den sie sich wenden konnte. Sie nahm sich zusammen und verließ das Krankenhaus, trat in den sonnigen Mittag des vierundzwanzigsten Tages vor ihrem Tod hinaus. Wenn sie sich beeilte, erwischte sie Vincent Ferriman noch vor dem Mittagessen.

Der nächste Mann auf meiner Liste, von dem ich Hilfe bei dem Verständnis der einzig wahren und kontinuierlichen Katherine Mortenhoe erhoffte, war ihr Mitarbeiter bei Computabuch. Ich traf gegen zehn Uhr in seinem Büro ein, zu einer Zeit, da Katherine noch im Krankenhaus war und uns bestimmt nicht störte. Vincent hatte gesagt, er wollte mich, was sie betraf, noch im Hintergrund halten. Ich hatte ihn schließlich beim Frühstück erreicht: Mir lagen einige Fragen über die armen Studenten auf der Seele. Er wehrte mich so elegant ab, daß mir schon wieder Zweifel kamen, ob er mich tatsächlich abspeiste. Doch ich wußte aus Erfahrung, daß er um so besser kämpfte, je mehr er zu verbergen hatte.

Katherines Peter war eine Enttäuschung. Entweder mochte er sie sehr und verriet mir deshalb nichts, oder er mochte mich so wenig. Er sagte mir, sie käme früh zur Arbeit und ginge spät wieder nach Hause. Sie sei eine rücksichtsvolle Chefin. Sie verachte ihre Arbeit nicht, höbe sie jedoch auch nicht in den Himmel. Sie sehe alles im rechten Maß… Na ja, vielleicht sei ihr Humor nicht sehr ausgeprägt. Die Frau, die er mir beschrieb, war niemand – und schon gar nicht Katherine Mortenhoe.

Vielleicht war ich nicht sein Typ. Manche Homos flogen auf mich, andere nicht. Wie dem auch sei, ich tat zwar einiges für die NTV, aber dazu hatte ich es noch nicht kommen lassen.

Ich versuchte es anders herum. »Hat sie nie von ihrem ersten Mann gesprochen?«

»Hätte sie das tun sollen?«

»Ich bitte Sie. Er muß ihr doch etwas bedeutet haben. Schließlich hat sie seinen Namen auch in der zweiten Ehe beibehalten.«

»Vielleicht hat sie ihn gemocht. Der Name ist hübsch. Worte bedeuten ihr viel.«

Ich glaubte nicht, daß es so einfach war. »Dann hat sie also nie von ihm gesprochen?«

»Wenn ich jetzt nie sage, ziehen Sie los und machen eine große Sache daraus. Natürlich hat sie ihn erwähnt. Aber sie hat mich nie ins Vertrauen gezogen – weder über ihn noch über andere Dinge. Wir haben zusammengearbeitet, das ist alles.«

Die beiden hatten drei Jahre zusammengearbeitet, was in diesen progressiven Zeiten eine lange Zeit war. War sie wirklich so verschlossen? »Sie hat ihn also erwähnt. Was hat sie gesagt?«

Er sah mich von der Seite an. »Ich will Ihnen eins verraten«, bemerkte er. »Sie war zu gut für diese Liebesromane.«

»Hat das ihr erster Mann gesagt?«

»Der hatte keine Ahnung. Er war ein häßlicher Typ, ganz Kinn und gesunder Menschenverstand.« Sie hatte sich ihm also nicht anvertraut, sondern ihm nur ein Foto gezeigt. »Der konnte gar nichts wissen. Auch ich hab’s erst vor einigen Tagen bemerkt.«

Ich wartete ab. Wenn er mir etwas sagen wollte, kam das nun von allein. »Sie hätte eine große Schriftstellerin sein können«, sagte er. »Eine wirklich große Schriftstellerin.«

»Sie meinen doch nicht die Romane, die sie im College geschrieben hat?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, was ich meine, hat sich erst vor kurzem ergeben. Ich habe ihre Notizen durchgesehen. Sie hatte etwas wirklich Großes vor. Wenn die Medienleute nicht an sie herangekommen wären, hätte sie etwas Phantastisches geschaffen. Ehen völlig neuen Einstieg in die Computerliteratur.«

Er mußte meinen Gesichtsausdruck bemerkt haben.

»Na schön, die Computerliteratur ist nicht das, was sie sein könnte. Aber man bekommt nur das heraus, was man selbst hineinsteckt. Und sie wußte, daß sie sehr wenig Zeit hatte… Sie hat etwas Tolles ins Programm gegeben – das Buch wäre etwas sehr Reales geworden, ganz und gar ihr Werk. Riesig. Wild. Zornig.«

Er war nun schrecklich aufgeregt. Es war fast, als spräche er über seinen Lieblingspartner, nicht aber über die Arbeit der Katherine Mortenhoe, die ich zu kennen glaubte.

»Darf ich die Notizen mal sehen?« fragte ich.

»Oh, bitte sehr. Aber Sie werden nicht viel davon haben. Neuformierte Assoziationen, befreite Situationen, neu geschaltete Wortspeicher – dazu muß man ausgebildet sein.«

Ich gönnte ihm den kleinen Triumph. Was großzügig von mir war, wo ich doch keine andere Wahl hatte. »Na und?« fragte ich kühl.

»Na, ich werde damit arbeiten. Könnte eine große Sache werden. Ich habe immer gewußt, daß mehr in ihr steckte, als sie zeigte. Wenn die Notizen ihre Absichten deutlich genug erkennen lassen, führe ich das Projekt zu Ende. Das Testament eines Zukunftsmenschen. Mann!«

Konnte man wohl sagen – Mann! Natürlich hatte ich mir immer vorgestellt, ich Dummkopf, die Menschen der Zukunft seien irgendwie ruhig und rücksichtsvoll und allwissend – wenn sie riesig und wild und zornig sein sollten, sah ich darin keinen großen Fortschritt. Aber ich dankte Peter für den Tip. Als Wächter ihres Ruhms brauchte er Ermutigung.

Mein nächster Besuch mußte nun Gerald Mortenhoe gelten. Unabhängig von all den anderen Dingen machte mir noch immer die Sache mit dem Namen zu schaffen. Sicher war Mortenhoe ein hübscher Name, doch der altmodische Harry hätte sich kaum ohne Gegenwehr damit einverstanden erklärt. Und wäre in jenen romantischen Tagen des Neuanfangs ein Streit um ein Wort denkbar gewesen? Um ein Wort, das sie an einen häßlichen Mann band, ganz Kinn und gesunder Menschenverstand?

Katherine war mir ein Rätsel. Ich hatte selten einen Menschen mit so wenigen Kontakten, so wenigen Freunden, einer so kleinen Familie kennengelernt. Gerald war der letzte in der Reihe. Mit Ausnahme von Harry, und bei ihm mußte ich warten, bis wir formell vorgestellt worden waren. Vincents Autorenkundschafter hatten sich in Katherines Wohnblock umgesehen und bei ihren Korridorbekanntschaften eine Niete nach der anderen gezogen. Harry hatte seine Rivalen aus dem Hobbyraum, aber Katherine hatte niemanden. Und wenn man sich auf ihren Krankenbericht verlassen konnte, hatte sie nicht einmal einen Körpergeruch.

Da es noch immer sonnig war, beschloß ich, die gut achtzig Meilen zu Gerald Mortenhoes Schule mit zurückgeklapptem Dach zu fahren, und kam mir dabei groß und strahlend vor. Mein Wagen war schick und sehr teuer, ein Element des neuen, reichen Lebens, an das ich mich noch nicht ganz gewöhnt hatte. Ich fuhr langsam durch die Straßen der Innenstadt und musterte dabei mein kühles Spiegelbild in den Schaufenstern, wo ich nur konnte. Passanten drehten sich nach mir um, und die dreimonatige Schlaflosigkeit bedrückte mich zur Abwechslung einmal nicht: Das Mittel war doch herrlich, nicht wahr? Nicht wahr? Ich fühlte mich vielmehr jung und frisch. Inkognito in meinem struppigen Pelzanzug, und trotzdem jemand. Jemand.

Wäre ich nicht so offenkundig ein Jemand gewesen, hätten mich die Demonstranten vielleicht durchgelassen.

Ich stieß auf sie, als ich die südliche Ringstraße zu überqueren versuchte. Ich war der fünfte in einer Wagenschlange, und sie ließen die ersten vier durch. Bei mir kamen sie zu dem Schluß, daß sie mich nicht mochten. Ich konnte ihnen das nicht einmal verdenken: Bei dem Wagen mußte ich ja ein wichtiger Typ sein – in der Wirtschaft, in der Regierung oder bei den Gewerkschaften. Oder – was von ihrem Anti-Standpunkt aus das Schlimmste war: – womöglich gar ein berufsmäßiger Spaßmacher. Also setzten sie sich vor mir auf die Straße, und die Polizei begann sie fortzuschaffen. Natürlich trafen laufend neue Demonstranten ein, so daß jeder freigeräumte Platz sofort wieder besetzt wurde. Außerdem waren Verhaftungen in diesem Gewühl unmöglich, so daß sich die Fortgetragenen in aller Ruhe wieder aufrappeln und an den Ort des Geschehens zurückkehren konnten. Die Polizei begann zu schwitzen und die Ruhe zu verlieren, die sie am Anfang vielleicht besessen hatte; Schlagstöcke wurden gezogen, Stiefel gerieten in Bewegung. Hinter den Demonstranten sah ich einen Wasserwerfer auffahren.

Die Szene nahm ihren Fortgang; dabei war ich es gar nicht wert, daß solches Aufhebens um mich gemacht wurde. Ich wendete also meinen Luxusschlitten und fuhr zurück. Es wurde nicht einmal gejubelt. Hinter mir standen die Demonstranten einfach auf und setzten ihren Marsch fort.

Die nächste Kreuzung, an der ich es versuchte, war auf gleiche Weise verstopft. Und auch die dritte. Und die vierte. In vier Reihen hintereinander, ruhig, ein Banner in jeder fünften Reihe, so passierten die Marschierenden die lange Kühlerhaube meines Wagens, brüllten ab und zu müde auf, doch meistens haßten sie stumm vor sich hin, während sie marschierten. Seit der Anordnung, die Protestmärsche im Zentrum verbietet, hatten die Bürgerrechtsleute geschworen, sie würden einen festen Kordon um die gesamte City legen. Hundert Meilen Demonstranten, in ordentlichen Viererreihen. Und niemand hatte das für möglich gehalten. Wir ertrugen solche Märsche wie den Winterregen – sie waren unbequem, sogar wirtschaftsschädigend, doch es ließ sich immer irgendwie damit auskommen.

Als ich jetzt jedoch die müde, buntscheckige, erbarmungslose Prozession beobachtete, die sich auf den hellen Vorortstraßen in beiden Richtungen endlos erstreckte, sich stets verändernd, doch immer wieder gleich, begann ich mir Gedanken zu machen. Hundert Meilen Demonstranten: das war keine vulgäre Rhetorik mehr. Das war Bevölkerung.

An der nächsten versperrten Kreuzung sah ich ein NTV-Kamerateam bei der Arbeit und seufzte. Wenn ich Vincent gesagt hätte, ich würde in der Gegend sein, hätte er viel Geld sparen können. Ich wendete den Wagen erneut und versuchte es weiter im Westen. Inzwischen war ich wütend und stur geworden, sonst wäre ich zum Sender zurückgefahren und hätte mir einen kleinen, grauen Wagen aus der Fahrbereitschaft geborgt – obwohl auch die nicht immer durchgelassen wurden, wenn den Demonstranten das Gesicht des Fahrers nicht gefiel. Es war eine lächerliche Situation. Wie die heutige Forderung auch aussehen mochte – ich hatte längst die Übersicht verloren –, sie rechtfertigte jedenfalls nicht diese kleinkarierte, willkürliche Tyrannei.

Bei meinem sechsten Versuch, aus der Stadt zu kommen, gedachte ich mir nichts mehr bieten zu lassen. Ich war kein Manipulator – das Wort Unterdrücker war längst aus ihrem beschränkten Schimpfvokabular gestrichen worden –, ich hatte früher sogar manchmal auf ihrer Seite gestanden: wenn sie meinetwegen eingedrückte Rippen riskieren wollten, war das ihre Sache. Ich fuhr dicht hinter einen Milchwagen, der bestimmt durchgelassen wurde, und behielt den Fuß auf dem Gashebel. Wenn sie sich zwischen mich und den Laster drängen wollten, würden sie sich Mühe geben müssen, wieder rauszukommen.

Ich habe diesen Gedankengang ohne Kommentar niedergeschrieben. Er war leicht zu vollziehen und hinterher unvergeßlich. Angesichts dieser Gründe war es nur recht und billig und fast unvermeidlich, daß ich mit den großen Vorderrädern meines Wagens zwei Demonstranten überfuhr, ehe ich anhalten konnte. Wenn sie sich meinetwegen totquetschen lassen wollten, war das ihre Sache.

Ich saß sehr still in der seltsamen Stille, im Schlurfen von etwa tausend Füßen. Der Mann unter meinem Wagen – er war alt, wenn das den Vorfall besser oder schlimmer aussehen läßt –, begann zu stöhnen. Die Frau auf der anderen Seite war ganz ruhig. Zu meiner Rechtfertigung möchte ich anführen, daß ich weniger vor den Demonstranten Angst hatte als mich darüber entsetzte, was ich getan hatte.

Rückblickend weiß ich heute, daß die Stille und dann das Stöhnen in der Stille nur in mir existiert haben konnten. Und immer noch existieren. Denn gewiß hatten doch die Leute, die vor mir auf der Straße saßen und die ich nicht überfuhr, sofort lautstark protestiert, oder? Aber es ist diese schlurfende Stille und dann das Stöhnen, das mir heute weitaus lebhafter in Erinnerung ist als der nun folgende Zorn. Sie zerrten wild am Wagen, an mir. Sie kreischten und hämmerten auf dem Fahrzeug herum. Es war blanke Dummheit, kein Todeswunsch, der mich davon abhielt, die Fenster zuzumachen oder das Verdeck zuklappen zu lassen. Ich gewann den Eindruck, einer der Männer, die nach mir grapschten, sei der Sohn der toten Frau.

Nach der unendlich langen Stille, die niemals eintrat, schienen nur Sekundenbruchteile zu vergehen, bis mich die Polizei rettete. Ich vermochte kaum an Vincents Investition zu denken und an die Versicherung, die den Schaden abdeckte, und wie ich jemals wieder Tracey und Roddie II gegenübertreten sollte, wenn ich die Szene überlebte, da schlug die Polizei auch schon die Hände und die Schilder und die verzehrenden Gesichter zur Seite. Der erste Polizist, der mich erreichte, starrte mich so wild an wie die Leute, die er fortdrängte. »Schweinehund!« brüllte er. »Mörderischer Schweinehund!«

Die Wagentür stand schon offen, und er zerrte mich ins Freie. Die Demonstranten wichen zurück und sahen zu, wie er mich trat. Ich rollte mich zusammen, schützte Geschlechtsteile, Magen und Augen. Wahrscheinlich lag ich nur wenige Zentimeter von der Frau entfernt, die ich getötet hatte. Aus irgendeinem Grund tat die Stiefelspitze des Beamten kaum weh. Dann trafen andere Polizisten ein und zerrten mich hoch. Im Lärm meines Brüllens und Fluchens schob einer sein freudig verzerrtes Gesicht heran. »Du kannst die Scheißvorschriften vergessen«, sagte er, »wenn du hier lebendig rauskommen willst.«

Als sie mich fortschafften – mir den Arm auf den Rücken drehend und mich weiter tretend –, stöhnte der Mann unter meinem Wagen noch immer, das könnte ich beschwören – unbemerkt von seinen Rächern. Er stöhnt auch heute noch, wenn meine Nacht besonders düster ist.

Die Polizei hatte ihren Mannschaftswagen in einer Seitenstraße abgestellt. Man warf mich hinein, schlug die Tür hinter mir zu. Vor mir befand sich ein grauer Stahlschreibtisch und dahinter eine Konsole mit Schaltern, vier Fernsehschirmen und einem pornographischen Kalender. Auf einem der Schirme sah ich meinen Wagen, nun auf der Seite liegend, der Kühlergrill eingetreten. Es war plötzlich sehr still, bis auf das leisegestellte Krächzen eines Walkie-Talkie-Geräts. Draußen hörte ich das herannahende Jaulen einer Krankenwagensirene. Man half mir auf die Beine.

»Dürfte ich Ihre Papiere sehen? Führerschein, Versicherungsschein, Mobilitätserlaubnis, Strafkarte? Wir müssen sichergehen, daß es Sie wirklich gibt.«

Der graugesichtige, sicher auch grau gestimmte Polizeiinspektor machte vermutlich einen Scherz. Ich reichte ihm meine Brieftasche, damit er sich bedienen konnte. Ich blutete aus einem halben Dutzend Wunden im Gesicht. Der Haß der Menge schien mich fast so schlimm getroffen zu haben wie ihre Fäuste. Der Inspektor blätterte meine Dokumente durch. »Ah ja… Sogar mit dem Bart hat Sie mein Sergeant erkannt. Ein großer Verehrer von Ihnen, glaube ich.«

Wenn er etwas erwartet hatte, etwa ein professionelles Aufbegehren, wurde er enttäuscht. Ich stand auf und starrte ihn an, und Schweiß und Angst kühlten sich ab.

»Aber, Sir, das können wir nun wirklich nicht gestatten, meinen Sie nicht auch?«

Er hatte ein Anrecht auf seinen Spaß. »Darf ich mich setzen?« fragte ich.

Er nickte dem Sergeanten zu, der das Kontrollbrett verließ, um den Tisch herumkam, mir einen Stuhl zurechtschob und ihn wie ein Kellner hielt, bis ich mich bequem gesetzt hatte.

»Wir können doch nicht zulassen, daß ehrliche, gefeierte Bürger in ihren gesetzmäßigen Tätigkeiten behindert werden. Polizeihandbuch, Teil eins, Kapitel eins, Seite eins.«

Er bückte sich und holte eine Flasche Wodka und zwei Gläser hinter seinem Tisch hervor.

»Das Geschenk eines Bewunderers«, sagte er und füllte beide Gläser zur Hälfte. Als ich das letztemal einen Polizeifilm gesehen hatte, war nun der Spruch fällig gewesen: »Nein danke, jetzt nicht, Sir. Ich bin im Dienst.« Der Sergeant gab mir ein Glas, legte meine Finger um das Glas.

»Ehrlich«, sagte ich. »Ich habe die beiden nicht gesehen. Eben war ich noch dicht hinter dem Milchwagen, und dann…«

Mein Geständnisschwung erlahmte. Der Inspektor leerte sein Glas und füllte es erneut. »Kann jedem passieren«, sagte er. Ich nippte an meinem Drink. Er war entweder sehr komisch oder steuerte das Gespräch in eine Richtung, die mir nicht gefiel.

Ein rotes Licht blitzte am Kontrollpult auf. Der Sergeant eilte zurück, legte einen Kopfhörer um und begann über ein Mikrofon leise Befehle zu geben. Auf einem der Fernsehschirme schob sich ein Krankenwagen durch die Menge auf meinen Wagen zu. »Ich habe zwei Menschen überfahren, Inspektor. Einen Mann und eine Frau. Die Frau ist tot, dessen bin ich sicher.«

»Das ist gewiß eine Komplikation. Aber diese Leute sterben nicht so leicht.«

»Eine Komplikation?«

»Leichenschau, Obduktionsbericht. Sie wissen schon. Nichts, was wir nicht erledigen könnten. Aber es wäre einfacher, wenn es ohne Todesfall abginge.«

Ich trank meinen Wodka. Ich hasse Wodka, doch jetzt leerte ich das Glas. »Eine Frau ist tot«, sagte ich, »und ein Mann verletzt, wahrscheinlich lebensgefährlich.«

Der Inspektor lächelte traurig. »Pour encourager les autres«, sagte er. Offensichtlich kannte er sich ein wenig in der Geschichte aus. »Wir werden Sie natürlich vor Gericht stellen. Aber erst in etwa sechs Monaten, und dann in einem anderen Landesteil. Die Welt dreht sich weiter. Ich glaube nicht, daß Sie große Schwierigkeiten haben werden.« Wieder lächelte er. »Ganz ehrlich: Sie haben uns allen einen großen Gefallen getan.«

Und ich hatte mich für zynisch gehalten… »Ich könnte darauf bestehen, sofort vor Gericht zu kommen«, sagte ich.

»Wäre das nicht ein bißchen vulgär? Eine diskrete Spende in den obligatorischen Fonds wäre weitaus realistischer.«

»Und dazu zweifellos eine diskrete Flasche Wodka an die richtige Adresse.«

Er ließ sich nicht sticheln. »Das ist sehr freundlich von Ihnen. Aber ich tue nur meine Pflicht.«

»Ihre Pflicht gegenüber den vollgefressenen Politikern.«

»Einige unserer gewählten Volksvertreter sind durchaus mager.«

Man trifft schnoddrige kleine Gauner überall. Und sie gewinnen selten die Oberhand, wenn man sie nicht gewinnen lassen will. Dieser Kerl hier aber zog mir davon. »Wenn man mich nun erkannt hat?« fragte ich besorgt.

»Leugnen Sie’s ab. Wir geben natürlich sofort einen Namen hinaus, um alle Mutmaßungen im Keim zu ersticken. Wer Sie erkannt haben will, hat sich eben geirrt. Nicht viele Leute sind so gut im Erkennen von Gesichtern wie mein Sergeant.«

»Und der Wagen? Jeder kann den Besitzer anhand des Kennzeichens…«

»Er müßte seine Anfrage über die Polizei leiten.« Er lehnte sich zurück. »Es ist eine schlimme Welt«, sagte er. »Aber ich wüßte ehrlich nicht, was sich gewinnen ließe, wenn Sie sich zum Märtyrer machten.«

Und ich wußte es auch nicht, ehrlich.

In diesem Augenblick traf ein Krankenpfleger ein, um mir das Gesicht zu reparieren. Abgesehen von einigen Schrammen hatte es kaum Schaden genommen. Auch meine Rippen waren nur geprellt und nicht gebrochen. Und was den erregenden, aufgezeichneten Beweis meiner Augen anging, so wußte ich, daß sich Vincent der Meinung des Inspektors anschließen würde – das Band ließ sich kaum verwenden.

Später erschien ein Zivilwagen der Polizei, und ich wurde hineingeschoben, ein Jackett über dem Kopf. Ich konnte den Inspektor mit der unvermeidlichen Gruppe Reporter sprechen hören: »… hilft uns bei unseren Ermittlungen. Richtig. Nein, er heißt Barber. Christopher Barber, siebenundzwanzig Jahre alt. Ein Werbetyp. Tut mir leid, nein. Ich gebe seine Privatanschrift nicht bekannt. Ich weiß, wie hartnäckig die Herren von der Presse sein können. Setzen Sie sich morgen mit dem Bezirksamt in Verbindung. Vielleicht erfahren Sie dann mehr…«

Der Polizeiwagen fuhr an. Nur wenige Reporter würden der Sache nachgehen. Und ich wußte aus Erfahrung, daß sie kaum Freude an ihren Ermittlungen haben würden. Barber war ein weitverbreiteter Name. Und der Werbeverband hatte kein offizielles Register. Und die Welt drehte sich weiter.

Die Empfangsdame im NTV-Gebäude erkannte sie sofort und ließ sie zu Vincent Ferrimans Büro führen. Auf dem Weg vom Krankenhaus hatte sie eine ihrer kleinen Lähmungen gehabt und war vor einem Laden für Anti-Überwachungsgeräte gestürzt. Aber sie hatte sich der Wand zugewandt und war anonym geblieben, und niemand hatte sich um sie gekümmert. Sie konnte nicht auf die Uhr blicken, um die Lähmung zu kontrollieren, aber der Anfall hatte etwa zehn Minuten gedauert. Dann hatte sie sich wieder aufgerappelt, sich den Staub abgeklopft und ihren Weg zum NTV-Gebäude fortgesetzt. Dabei hatte sie wegen eines geprellten Knies etwas gehumpelt.

Vincent Ferriman freute sich über ihren Besuch, gab sich aber nicht überschwenglich. Er war eifrig, bedrängte sie jedoch nicht. Er ließ sie Platz nehmen und bestellte Suppe und Sandwiches, da sie sich wegen ihrer kleinen Lähmung verspätet hatte und nicht hatte essen können. Dann nahm er hinter seinem Tisch Platz und sah ihr väterlich bei der Mahlzeit zu. So väterlich wie eine Figur von Aimee Paladine.

Als er schließlich zum Geschäft kam, tat er das auf eine Weise, die keineswegs beleidigend war für ihre Intelligenz. »Sie sind hier, weil Sie keinen anderen Zufluchtsort mehr haben«, sagte er. »Sie wollten im Anfang meine Begründung nicht hören. Sie haben bereits gefühlsmäßig alles abgelehnt, was ich hätte sagen können. Sie sind hier, weil Ihnen die kommerzielle Welt keine Alternative gelassen hat.«

Es war eine angemessene Darstellung der Tatsachen, machte ihn ihr jedoch nicht sympathischer. Sie aß weiter. Sie war selten so hungrig gewesen.

»Das ist natürlich keine ideale Situation«, fuhr er fort, »doch es läßt sich wenigstens damit arbeiten. Es liegt an mir, sie im Zuge unserer Zusammenarbeit zu verbessern. Zunächst sind Sie hier, und das genügt.«

Sie kaute. »Ich will das Geld jetzt«, sagte sie. »Und ich meine, es müßte mehr sein.«

»Mehr als was?«

»Die Aufregungen der letzten Nacht haben meinen Wert gesteigert. Da ich entführt worden bin, bin ich jetzt ein wertvollerer Artikel.«

»Der Jargon stimmt, Katherine, aber ich wüßte nicht, wie.«

»Ich will mehr, Vincent, und zwar jetzt.«

Hart. Abgebrüht. Verwendete seinen Vornamen wie eine Beleidigung. Aber er schien keine Notiz davon zu nehmen. Er breitete die Hände aus. »Wenn man die Sache einmal von der anderen Seite sieht, Katherine, ist Ihr Marktwert gefallen, nicht gestiegen. Vor einigen Tagen hatten Sie noch mehrere Möglichkeiten. Heute, und das haben Sie selbst eingestanden, gibt es für Sie keine Alternative mehr.«

Er mußte natürlich alle Ausflüchte machen. »Da wären noch immer die Rocky-Mountain-Waffeln«, sagte sie.

Sie hatte gehofft, ihn zu verblüffen, doch er lächelte nur und berichtigte sie sogar: »Rocky- Himmels- Waffeln. Und der Laden ist ein Saustall.«

»Ist mir egal. Ich denke dabei nicht an mich, sondern an all die kleinen Todeskandidaten, die nach mir kommen. Ich treibe das Honorar in die Höhe. Vereint schlagen, getrennt sterben.«

Das brachte Vincent zum Lachen, und sie wußte, daß er entwaffnet war. Sie schluckte das letzte Stück Sandwich hinunter. Der billige Witz, die freche Forderung, die vulgäre Aggressivität – all das hatte sein Mißtrauen fortgeschwemmt. Sie würde bekommen, was sie verlangte. Sie würde es Harrys wegen bekommen – Geld im voraus, sicher auf der Bank, womit sie alle Freiheiten hatte, ihren Plan in die Tat umzusetzen, die Bildmaschine auf jede nur mögliche Weise hereinzulegen. Die Anzahlung für Harry, damit nichts zurückgefordert werden konnte, was sie auch anstellte.

»Fünfhunderttausend«, sagte sie. »Im voraus. Auf die Hand.«

Wieder lachte Vincent. Natürlich war es nicht sein Geld. »Wir müssen mit der Vertragsabteilung darüber sprechen. Aber die wird Ihnen niemals mehr als die Hälfte anzahlen, selbst wenn ich mich dafür ausspreche. Eine halbe Million ist viel Geld, auch für die NTV.« Sie würde die Hälfte nehmen, wenn es nicht anders ging.

»Mindestens vier brauche ich gleich.«

»Drei.«

»Dreieinhalb.«

»Seien Sie vernünftig. Drei ist das ursprüngliche Angebot.«

Das stimmte. Mehr würde Harry nicht bekommen – es würde keine zweite Zahlung geben, doch er konnte sich kaum beschweren. Sie stimmte in Vincents Lachen ein.

»Ich sage trotzdem dreieinhalb. Schließlich habe ich nur einen Tod zu verkaufen. Fühlen Sie sich nicht ausgesprochen mies, mich so runterzuhandeln?«

»Und ich bleibe bei drei.«

»Dreieinviertel.«

»Drei.«

»Sie sind ein harter Bursche.« Sie hörte auf zu lachen. »Also gut. Drei.«

Mehr würde Harry nicht bekommen, doch er konnte sich kaum beklagen. Und die NTV konnte nach Herzenslust klagen – gegen jemanden, den es gar nicht mehr gab, gegen eine Nichtperson, eine tote Person. Sie starrte Vincent an und sah zu, wie er abrupt zu lachen aufhörte.

»Ich habe das Gefühl, ich bin hereingelegt worden«, sagte er. »Aber ich bin viel zu nett, um mir etwas daraus zu machen.«

Sie gingen ein paar Stockwerke tiefer in die Vertragsabteilung. Sie las den abgeänderten Vertrag sorgfältig durch – nicht weil sie sich dafür interessierte, nicht weil es wichtig war, sondern weil das von ihr erwartet wurde. Dann unterschrieb sie, und die Zeugen unterschrieben, und Vincent lächelte breit, und sie ging mit ihm zur Buchhaltung hinüber, wo die Summe von dreihunderttausend Pfund zu Gunsten ihres und Harrys Gemeinschaftskontos in den Zentralbankcomputer eingegeben wurde. Fünf Minuten später rief sie ihre Bankzweigstelle an, nur um sicherzugehen. Der Bankleiter verließ das Telefon, um nachzusehen. Als er zurückkehrte, klang seine Stimme ehrfürchtig – angesichts der Höhe der Einzahlung und wegen seines plötzlichen, unwürdigen Kontakts mit dem Saum von Katherine Mortenhoes Gewand.

Vincent rieb sich die Hände. »Jetzt möchte ich Sie mit unserem Serienregisseur bekannt machen. Roddie ist wirklich etwas Besonderes. Er ist nicht wie ich: Er verfügt sogar über den Anflug eines Gewissens.«

»Hat das nicht Zeit?« Sie hatte viel zu tun und war in Eile. »Die letzte Nacht macht sich bemerkbar. Und offiziell habe ich noch einen Tag meiner Leiderklärung.«

»Nur ein privates Zusammentreffen, Katherine. Ich meine, Sie werden sich besser fühlen, wenn Sie ihn erst mal kennengelernt haben. Und er muß Ihnen etwas erklären. Etwas, das wir uns für eine Person wie Sie aufgehoben haben.«

Er griff nach dem Telefon. »Außerdem haben Sie ja im Krankenhaus fast bis ein Uhr geschlafen – so müde können Sie also gar nicht sein.«

Er wußte zuviel über sie; er mußte eine direkte Leitung zu Dr. Mason haben. Sie überlegte, ob sie ihm ein Gordon-Syndrom vorspielen sollte, um es ihm heimzuzahlen, aber das kam ihr irgendwie nicht richtig vor… Serienregisseur, hatte er gesagt. Das war ein hübscher Gedanke: Der Tod erforderte einen Serienregisseur! Aber dieser Roddie war ein Luxus, auf den sie verzichten mußte.

Nach mehreren vorsichtigen Anrufen – zum Beispiel auch bei Gerald, ihrem ersten Mann – sie hätte wissen müssen, daß sie ihn aufspüren würden –, fand Vincent ihren Serienregisseur schließlich an einem amtlich klingenden Ort. Seine Fragen wurden womöglich noch behutsamer, und er notierte sich heimlich die Antworten, wobei er sie anlächelte, sie umwarb. Hinterher sagte er ihr leichthin, daß Roddie in einer offiziellen Sache zu tun hätte und vermutlich erst am nächsten Tag zur Verfügung stehe. Sie war nicht neugierig, nur erleichtert. Der morgige Tag war ein Problem, das sie lösen würde, wenn es soweit war.

Sie versprach, sich morgen nachmittag um vier Uhr in den Schutz von NTV zu begeben, und verabschiedete sich so schnell wie möglich. Sie hatte den Eindruck, Vincent Ferriman habe plötzlich anderes im Kopf und sei ganz froh, sie loszuwerden.

Vom NTV-Haus nahm sie ein Taxi, zuerst zur Bank und dann so tief in das alte Dockgebiet hinein, wie sich der Fahrer vorwagte. Von dort ging sie zu Fuß. Die Art Laden, die sie suchte, hatte sie vor vierzehn Monaten in einem Farbmagazin gesehen. Die Randgruppen waren damals groß in den Medien herausgestellt worden. Nun wollte sie in das Gebiet dieser Leute.

Sie befand sich auf einer Straße – einer breiten Lkw-Auffahrt, die durch einen Dschungel von alten Gebäuden und Reihenhäusern verlief. Der Asphalt war an vielen Stellen aufgebrochen und von Gras überwuchert. In dem Artikel hatte gestanden, daß hier viele Häuser noch bewohnt waren, doch sie bemerkte kein Lebenszeichen.

Die Straße endete abrupt an einem gewaltigen Haufen Lkw-Wracks, der vor dem Eingang zu dem alten Containerdepot aufragte. Es schien kein Weg darum herum zu führen. Kinder spielten in den Lkws. Als sie Katherine kommen sahen, knallten Türen zu, und es war plötzlich sehr still. Eine Blechdose polterte vor ihr auf die Straße und rollte ein Stück weiter. Sie blieb stehen.

»Darf ich bitte hereinkommen?« rief sie.

Nach kurzer Pause begannen Kinderstimmen zu kreischen. Eine der Wracktüren ging auf, und ein etwa vierzehnjähriger Junge kletterte herab. Einige Meter von ihr blieb er stehen. »Du weißt ja nicht, wie!« rief er.

»Zeigst du es mir, bitte?«

Er zögerte. »Wenn du willst.«

Sie folgte ihm zu der großen Doppeltür eines alten Containers. Am anderen Ende des Behälters entdeckte sie einen kurzen Tunnel durch die übrigen aufgestapelten Autowracks und dahinter den riesigen Garagenplatz des Depots.

»Kannst du ruhig wissen«, sagte er. »Viele Leute kennen den Durchgang. Sie kommen aber nur rein, wenn wir wollen.«

Er lief zu seiner Bande zurück, die sofort wieder zu spielen begann.

Auch innerhalb der hohen Depotmauern wurde ihre Ankunft bemerkt, aber nur am Rande. Auf ihrem Weg zum Terminalgebäude kam sie an vielen Randlern vorbei, die sich unterhielten, auf dem markierten Asphalt komplizierte Wurfspiele spielten oder einfach nur dasaßen. Sie schienen ihr ständiges Nichtstun keineswegs beunruhigend zu finden. Gewöhnlich blickten sie auf, wenn sie vorbeikam, und grüßten sie verwirrend freundlich.

Über ihr kreisten und kreischten Tausende von Seemöwen. Sie gehörten einer neuen Gattung an, den Aasvögeln der neuen Gesellschaft. Wenn man diesen Tieren einen lebendigen Fisch hinhielt, hätten die meisten nicht gewußt, was sie damit anfangen sollten. Ähnlich stand es mit den Randgruppen.

Der Container-Terminal war einmal Eisenbahnkopfstation, Frachtdock und Lkw-Ladezentrum gewesen. Jetzt war die riesige Fläche unter dem Dach in Straßen und kleine Plätze unterteilt, mit Ständen, die an einen morgenländischen Bazar erinnerten. Tausend verschiedene Düfte förderten diese Illusion. Da es im Terminal nie regnete, wurden alle möglichen ungewöhnlichen Baustoffe verwendet: Ein ›Haus‹ war völlig aus weißen Polystyren-Blöcken erbaut, die einmal Transistorradios aus Schweden enthalten hatten. Ein anderes, muffiger riechendes Gebäude bestand aus Büchern, darunter viele Peregrine-Bände. In den schmalen Gassen roch es nach Weihrauchstäbchen, die die anderen, noch weniger angenehmen Düfte kaum zu überlagern vermochten.

Katherine wanderte einige Zeit herum, ohne die Läden zu finden, die sie suchte. In ihrer Stadtkleidung kam sie sich absurd und auffällig vor. Niemand stellte ihr Fragen oder bot ihr Hilfe an, doch die Leute sahen ihr mit einer interessierten Offenheit nach, die sie bedrohlich fand. Sie schienen der Möglichkeit einer Verständigung so aufgeschlossen gegenüberzustehen und soviel Zeit dafür zu haben, daß Katherine innerlich zurückwich. Daß ich jetzt nur keinen Schüttelfrost bekomme, dachte sie. Sonst werden sie mich berühren, sich mir aufdrängen, all ihre widerliche Fürsorge in die Tat umsetzen.

Plötzlich erreichte sie eine ganze Straße der gesuchten Läden – Kleidung für ihre vorgesehene Maskerade. Sie blieb aufatmend am ersten Laden stehen, der kaum mehr als ein Marktstand war, mit einer buntgestreiften Markise und einem Warenangebot, das ihr wie eine Mischung aus alten Lumpen und Hongkong-Imitationen alter Lumpen vorkam. Die dicke, junge Frau, die auf einem eingetretenen Gitarrenlautsprecher saß, trug die Uniform eines New Yorker Polizisten.

»Fummelzeug?« fragte sie. »Wollen Sie Fummelzeug?«

Katherine wußte, daß sie als Touristin angesehen wurde – im Grunde eine Beleidigung.

»Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen«, sagte sie steif, und als sie ihre Worte hörte, versuchte sie zu lächeln. »Wissen Sie, ich brauche Sachen, die länger als einen Tag halten. Ich hoffe das Lager zu wechseln.«

»Wenn Sie nicht dorthin passen, wo Sie sind, bleiben Sie einfach nicht. Ganz einfach.«

Katherine hatte nicht die Absicht, irgendwohin zu passen. Oder irgendwo zu bleiben. Sie brauchte eine Verkleidung, die ihre restlichen Tage überdauerte. ›Fummelzeug‹ waren die Fetzen, die sich Touristen kauften und zu Hause bei Partys anzogen.

Sie wählte einen rotbraunen Umhang mit einem langen, weichen Haargürtel, einen Unterrock aus gefüttertem Plastikstoff und eine Winterjacke der Gebirgsjäger mit Kapuze. Dazu Golfsocken, Holzpantinen, eine Sonnenbrille und ein Halsband aus geschärften Stahlscheiben. »Wenn’s mal brenzlig wird«, sagte die dicke, junge Frau.

Andere Standbesitzer umringten Katherine und gaben Ratschläge. Ihr Haar würde sie verraten, bis es länger geworden war, sagten sie, und es unter der Skikapuze zu tragen war zu unbequem, wenn sich das warme Wetter hielt. Sie erstand also noch einen gelben Plastiksüdwester. Man sagte ihr auch, sie brauche einen Schlafsack, also wählte sie einen, der sich ringsum schließen und auch als Rucksack verwenden ließ… Die Rechnung belief sich auf fast hundertundfünfzig Pfund.

»Das ist lächerlich.«

Die dicke, junge Frau kreuzte höflich die Hände über den uniformierten Brüsten. »Das Lager zu wechseln ist nicht billig«, sagte sie.

»Aber ihr haltet doch Geld nicht für wichtig.«

»Aber Sie zahlen hier. Und Ihnen ist es wichtig.«

»Na und?«

»Geste der Solidarität.«

»Reinster Wucher.«

Die dicke, junge Frau senkte die Hände und hakte die Daumen in ihren Ledergürtel. »Wir leben von der Wohlfahrt, Sie bekommen Gehalt.«

»Nicht mehr.«

»Uns kommen die Tränen.«

Die Menge ringsum lachte. Die dicke Handtasche der Fremden enthielt offenbar genug, wenn nicht mehr – sonst hätte sie sie nicht so fest an sich gepreßt. Katherine fragte sich plötzlich, warum sie sich vor diesen Leuten so erniedrigte. Harry hatte sicher nichts dagegen, wenn sie von seinen dreihunderttausend Pfund hundertfünfzig ausgab.

Sie erhob also keine weiteren Einwände und bezahlte. Die Menge applaudierte in freundlicher Ironie.

Sie packte ihre Einkäufe in den Schlafsack und entfernte sich. Als sie etwa zehn Schritte gemacht hatte, rief ihr die dicke, junge Frau etwas nach, und sie machte den Fehler, sich umzusehen. Sie sah, wie die junge Frau ein paar Banknoten von dem Bündel abzählte, das sie ihr gegeben hatte, und sie in die Tasche steckte. Die anderen fächerte sie auf. »Wir haben Besuch gehabt!« brüllte sie und warf die Geldscheine in die Luft.

Niemand stürzte sich darauf. Alle verfolgten die Szene stumm und griffen nur zu, wenn eine Note in Reichweite vorbeiflatterte. Ihre Handlungsweise hatte etwas Rituelles. Viele Scheine wehten im Aufwind über die Stände und schiefen Hütten und wurden sicher später von anderen gefunden.

Katherine machte ärgerlich kehrt und entfernte sich. Die Geste der Frau war vulgär und anmaßend gewesen. Das ganze Depot war vulgär und anmaßend. Sie hätte wetten mögen, daß die Leute auf den Knien herumkriechen und das Geld vom dreckigen Boden aufsammeln würden, sobald sie außer Sicht war. Eine Wette, die sie bestimmt verloren hätte.

Ihr Abgang fand dasselbe, höfliche Interesse wie ihre Ankunft. Niemand belästigte sie oder redete sie an – außer von Zeit zu Zeit mit höflichem Gruß. Sie war wütend, daß es die Gesellschaft in ihrer Müßigkeit billiger und leichter fand, diese vielen tausend verrückten Außenseiter zu unterstützen, als sie zur Wirklichkeit zu erziehen. Daneben wirkten ihr und Harrys ehrliches Leben plötzlich sinnlos und ganz unnötig.

Die Wanderung zurück ins Taxiland war lang. Das Band, das sich um ihren Kopf zog, wurde immer enger, so daß sie schon überlegte, ob sie den Fahrer eines zufällig am Straßenrand geparkten Wagens nicht bitten sollte, sie ein Stück mitzunehmen, wenigstens bis zur nächsten Hauptstraße. Doch der Gedanke, in seinem sauberen Fahrzeug eine Lähmung oder auch nur einen Schüttelfrostanfall zu bekommen, war ihr zuwider. Außerdem schlief er, das Gesicht in dem graugrünen Kissen seiner Jacke versteckt, die er sich zusammengefaltet unter den Kopf gelegt hatte. Sie schaute also nicht hin und wanderte vorbei.

Der Schlafsack war schwer, und sie atmete dankbar auf, als sie richtige Straßen erreichte, ihre Last am Bordstein absetzen und warten konnte. Nachdem sie in ihre neue Persönlichkeit geschlüpft war, würden Taxis sie ignorieren. Sie setzte sich also sehr aufrecht und ordentlich hin, die Knie geschlossen; eine durch und durch respektable und fleißige Frau. Als dann die Lähmung einsetzte, war es gar nicht so schlimm, und sie stand den Anfall aufrecht und ordentlich durch. Als es vorbei war, lehnte sie sich zur Seite, um den Reißverschluß des Schlafsacks zu öffnen und ihre Handtasche herauszunehmen. Aber der Reißverschluß klemmte. Als sie sich konzentrierte, stellte sie fest, daß das Problem mehr bei ihren Fingern lag. Sie sah, wie seltsam sie sich bewegten: Sie stießen heftig gegeneinander und verirrten sich. Mit Geduld und Hartnäckigkeit vermochte sie den Reißverschluß endlich doch zu öffnen und ihre Handtasche herauszunehmen.

Als endlich ein Taxi vorbeikam, war auch diese Schwierigkeit vorbei. Den Türgriff herabzudrücken war einfach, herrlich einfach. Der Fahrer sah sich überhaupt nicht um, sondern saß nur vorgebeugt auf seinem Sitz und brachte sie an ihr Ziel. Dabei pfiff er falsch vor sich hin, was sie normalerweise sehr aufgeregt hätte. Doch sie war damit beschäftigt, ihre Hände zu bewegen, sie öffnete und schloß ihre Handtasche, und achtete also kaum auf ihn. Zunächst ließ sie sich zum zentralen Heliport bringen, wo sie ihren neuen Schlafsack in ein Schließfach stopfte, dann fuhr sie auf schnellstem Weg zu Harry nach Hause. Sie schuldete ihm etwas. Und auf dem ganzen Heimweg und im Fahrstuhl zur Wohnung versuchte sie sich vorzustellen, was.

Ich wurde ins Polizeihauptquartier geschafft, und man versicherte mir, meine Verhaftung sei eine reine Formalität. Man war ganz nett zu mir, auf eine unangenehme Art, doch man hielt sich an die Formalitäten. Der Magistratsrichter, der gegen eine kleine Kaution Christopher Barbers Freilassung verfügen konnte, war erst am nächsten Morgen wieder verfügbar. Da mein Fall jedoch auch delikat war, wollte man nicht den Pflichtmagistrat damit behelligen, der vielleicht weniger – verständnisvoll sein würde. Verdammt weniger korrupt, dachte ich und beseufzte meine Undankbarkeit.

In einer Zelle eingeschlossen zu sein kann ziemlich unangenehm werden, auch für den Normalbürger, der die Augen schließt, alles an sich ablaufen läßt und vielleicht sogar ein wenig Schlaf mitnimmt. Aber für mich, der ich keine solche Zuflucht hatte, war die Lage unmöglich. Ich nahm meine Entspannungsmittel, meine herrlichen, herrlichen Schlafsurrogate, legte mich auf die Koje und richtete mich für die Nacht ein. Decke und Wände meiner Zelle bestanden aus Stahlplatten – wie die Außenhülle eines altmodischen Schlachtschiffes; also nahm ich mir vor, die Nieten zu zählen. Wenn ich lange genug dabeiblieb, würden sich meine Gedanken schließlich anderen Dingen zuwenden, während meine Augen weiter über die Nietenreihen huschten. Auf diese Weise konnte eine Art Bewußtseinsbetäubung eintreten, die sogar zu Träumen führte. Das erforderte Konzentration und klappte nicht oft; meistens versuchte ich es gar nicht. Aber wenn ich es versuchte, und wenn es klappte, war es angenehmer als alles andere.

Ich begann die Nacht in ganz guter Verfassung, sogar optimistisch. Ich hatte etwa eine halbe Stunde lang Nieten gezählt, und mein Bewußtsein begann gerade etwas aufzutauen, als das Licht ausgeschaltet wurde. Damit hätte ich natürlich rechnen müssen; dies war immerhin kein politisches Gefängnis, und den hiesigen Gefangenen wurde Schönheits- und Gesundheitsschlaf zugebilligt. Doch die plötzliche, absolute Schwärze überraschte mich. Einen Moment lang war sie unverständlich, eine Erfahrung, an die ich mich nur noch schwach erinnerte, die alles bedeuten konnte: Tod, Vernichtung, das Jüngste Gericht. Ich lag still da und hörte, wie mir das Blut in den Ohren pulsierte. Dann begannen sich die beiden winzigen Schmerzpunkte zu melden, und ich begriff.

Sie kamen natürlich schnell, als ich gegen die Tür hämmerte. Sie waren sehr nett. Als ich ihnen von der Phobie erzählte, die ich seit meiner Kindheit – seit der Kindheit meines Sohnes – hatte, schalteten sie das Licht wieder ein. Sie waren ja keine Ungeheuer. Und ich war ja auch kein Verbrecher. Ich hatte ihnen ja eigentlich einen Gefallen getan. Um mich zu beruhigen, teilten sie mir eine Neuigkeit mit. Die Frau, die ich getötet zu haben glaubte, war gar nicht tot. Vielleicht konnte sie auch wieder laufen, wenn sie aus ihrem Koma erwachte. Und außerdem habe ein Mr. Ferriman angerufen. Man sollte mir ausrichten, der Vertrag, über den wir uns Gedanken gemacht hatten, sei unter Dach und Fach. Und ich solle mir keine Sorgen über den Unfall machen: Ich sei geschäftlich unterwegs gewesen, also würde die Versicherung der Firma großzügig einspringen. Mein Wagen sei bereits abgeholt worden und in Reparatur…

Das Licht blieb also an, und meine Nacht begann erneut.