SONNTAG

Als Katherine erwachte, strömte Sonnenlicht rot und blau durch die Fenster hoch über ihrem Bett. Sie erinnerte sich sofort an die Umstände ihrer unruhigen Nacht und stellte beim Herumdrehen erneut fest, daß sie sich nicht vollgemacht hatte. Dann suchte sie nach Rod. Er war nicht zu sehen. Sie nahm es ihm nicht übel, daß er früh aufgebrochen war, daß er ohne sie weitergezogen war – nachdem nun Morgen war, hatte sie nicht einmal etwas dagegen. Sie schaffte es auch allein.

Vikar Pembertons Stimme hatte sie geweckt – ein An- und Abschwellen von undeutlichen Echos zwischen den Säulen und weißen Marmorstatuen. Im Schlafraum rührte sich niemand. Sie überlegte, daß ja Sonntagmorgen war und daß Vikar Pemberton sicher betete. Ihre neugewonnene Freiheit gestattete ihr Neugier, und sie richtete sich im Bett auf, legte Motorradbrille und Südwester an und huschte in ihrem gefütterten Unterrock barfuß durch das Kirchenschiff.

Seiner Stimme folgend, näherte sie sich der Trennwand. Dahinter sah sie ihn, wie er sich über jedes Mitglied einer vierköpfigen Gemeinde beugte und dann wieder aufrichtete – drei kniende Frauen und ein sehr blondes, kleines Mädchen. Sie fragte sich, was er da machte. Hinter ihm brannten dicke weiße Kerzen auf dem Altar. Die Szene hatte etwas Heiliges, und sie wünschte… Sehr schnell am Ende seiner Gemeinde angekommen, wandte sich der Vikar den Kerzen zu und erhob die Stimme; die Worte klangen lauter, doch waren sie mit den Echos von den alten Steinmauern weiter unverständlich. Seine Kluft, dachte sie, bereits snobistisch geworden, ist auch ziemlich fummelig.

Plötzlich merkte sie, daß sie beobachtet wurde. Sie drehte sich um, drückte sich an die Holzsäule der Trennwand. Am anderen Ende des Kirchenschiffes, hinter den Kochstellen und den Reihen der Eßtische, stand Rod. Er kam auf sie zu, wobei er mit den Händen über die Tischplatten fuhr. Sie spürte seinen Blick. War sie so wichtig?

»Ich habe mich mal draußen umgesehen. Der Regen hat aufgehört. Wir können gleich nach dem Frühstück los.«

Seine Stimme war so normal, bot soviel Sicherheit, daß sie hätte weinen mögen. »Schreien Sie nicht so«, sagte sie unwirsch. »Hier beten Leute.«

Sie wandte sich wieder dem Altar zu, und er stellte sich hinter sie und schaute ihr über die Schulter. »Der Gottesdienst scheint gerade vorbei zu sein. Abendmahlsfeier.«

»Weiß ich.« Sie bemerkte den großen Silberkrug, nein, Kelch. »Leib und Blut, die gespendet werden. Das ist doch schön.«

»Oh, wirklich?«

»Sie scheinen überrascht zu sein.«

»Offen gesagt, ja.«

Er sprach weiter, und sie erstarrte und wartete ab.

»Ich will nicht sagen, daß ich es Ihnen übelnehme, Katherine, aber ist das nicht mehr oder weniger das, wovor Sie Angst haben? Daß die Menschen Ihren Leib und Ihr Blut verschlingen?«

»Ich heiße Sarah.«

»Wenn Sie wollen.«

Sie hätte am liebsten die Flucht ergriffen, doch seine Hände lagen fest um ihre Schultern. Außerdem war hier nicht der Ort, sich würdelos zu rangeln. Und eine Flucht war sinnlos. Sie versuchte nachzudenken. Wie war sie erkannt worden? Was mußte sie tun, um frei zu bleiben? Ihn umbringen? Er war auf dem besten Wege, ihr Freund zu werden, so daß ihr das bestimmt leichtfiel. Aber der Gedanke ging zu weit. Vielleicht konnte sie ihn kaufen.

»Was wollen Sie?« fragte sie.

»Nichts.«

»O doch.« Die Menschen vor ihnen in den Bänken drehten sich um. Er hatte recht. Wenn diese Leute erst wußten, wer sie war, würden sie sie mit Haut und Haaren verschlingen. »Natürlich wollen Sie etwas. Sonst hätten Sie nicht so getan, als wüßten Sie nicht Bescheid.«

»Früher oder später hätten Sie sich an letzte Nacht erinnert, als ich Sie ohne Maske sah. Heimlichtuerei zwischen Leuten wie uns ist unklug. Wir müssen ehrlich miteinander sein, wenn…«

»Wenn was?«

Er zögerte. »Wenn ich bei Ihnen bleibe«, sagte er, »kann ich Ihnen vielleicht helfen. Zu zweit ist so etwas einfacher.«

Ich zögerte. Selbst mit ihr konnte ich eine Diskussion über Ehrlichkeit nur bis zu einem gewissen Punkt führen und nicht weiter. »Wenn ich bei Ihnen bleibe«, sagte ich, »kann ich Ihnen vielleicht helfen. Zu zweit ist so etwas einfacher.« Und ich meinte es ehrlich.

Der Gottesdienst war zu Ende. Ich zog Katherine Mortenhoe zur Seite, um die vier Kirchgänger hinauszulassen. Der Vikar ging zu einem der Herde und zündete unter dem riesigen Teetopf das Gas an, entfernte sich dann in Richtung Sakristei. Ich beneidete ihn um seine einfachen Pflichten.

»Legen Sie sich wieder hin«, sagte ich zu Katherine Mortenhoe. »Wir reden später darüber. Sie holen sich noch den Tod, wenn Sie lange hier mit nackten Füßen auf den kalten Steinen stehen. Ganz zu schweigen davon, was gewisse Leute mit Ihren Schuhen anstellen.«

Und sah ihr nach, wie sie den Gang entlangpatschte und ins Bett stieg und sich mitsamt Motorradbrille und Südwester unter die Decke schob… Ich war draußen gewesen, um mit Vincent zu sprechen. Da er so früh bestimmt noch nicht im Kontrollraum war, rief ich in seiner Wohnung an und kämpfte den Auftragsdienst nieder, und er sagte mir, alles laufe bestens. Man hatte ihn mitten in der Nacht ins Studio gerufen, damit er sich die Szene ansehe – und es war alles dran, Atmosphäre, Drama, Pathos, alles. Aber – und dieses Aber durfte natürlich nicht fehlen – leider hatte das Licht für eine eindeutige Identifizierung nicht ausgereicht. Die Zuschauer wollten so etwas, ob ich mich also damit beeilen könnte?

»Was du wirklich willst«, sagte ich, »ist eine Nahaufnahme der berühmten Narbe auf ihrer berühmten rechten Brust.«

»Nimm’s nicht tragisch, alter Knabe.« Als ob ich dazu neigte. »Denk dran – auf lange Sicht erweisen wir ihr einen Gefallen. Was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß.«

Natürlich hatte er recht – obwohl sie es uns niemals danken würde. Wir legten sie fürchterlich herein und taten ihr damit einen Gefallen. Die Alternative: ein Gerichtsbeschluß und Filmarbeit unter Polizeischutz, hätte den Zuschauern nämlich nicht minder gefallen. Ich beruhigte also mein Gewissen, wünschte Vincent schöne Träume und legte mir auf dem Rückweg zur Kirche den alten Ehrlichkeit-unter-Freunden- Spruch zurecht. Schließlich, so überlegte ich, konnte ich ihr durchaus mit einer Hand behilflich sein, während ich sie mit der anderen schmerzlos von hinten erdolchte. Haha.

Das Frühstück war eine gute Sache – Reihen hineinschaufelnder Menschen, die Pemberton mit entschieden heiliger Demut bediente. Vincent würde ihn mögen, ihm gefiel bestimmt die ganze Szene. Ich wäre gern geblieben, um noch weitere Aufnahmen zu machen, doch Katherine war unruhig und wollte so schnell wie möglich weiter. Ich konnte ihr kaum sagen, daß sie hier so sicher war wie sonstwo.

Vor der Kirche blieben wir einen Augenblick stehen. Ich spürte, daß sie trotz des Gesprächs, das wir im Lärm unserer schnaufenden Genossen geführt hatten, noch immer mißtrauisch war.

Da ich annahm, daß mich ein Griff ins Volle glaubwürdiger machen konnte, fragte ich: »Laufen wir? Oder nehmen wir Ihr Geld?«

»Ich habe keins.«

»Reden Sie doch keinen Unsinn. In den Zeitungen war von dreihunderttausend die Rede.«

»Das war für Harry. Ich habe noch dreiundsiebzig Pence.«

Was wohl von einer Art Integrität zeugte. »Dann sollten wir zur Obdachlosen-Wohlfahrt gehen.«

Sie dachte darüber nach. »Es ist Sonntag vormittag«, sagte sie.

»Sieben Tage in der Woche, vierundzwanzig Stunden am Tag geöffnet.«

»Die Leute werden doch alle möglichen Fragen stellen. Und Sie wissen, daß ich keine Fragen hören will.«

»Wenn Sie die Stadt verlassen, ist das Amt nicht neugierig.« Es überraschte mich, daß sie sich nicht besser informiert hatte. Ihre Tüchtigkeit hatte seltsame Lücken. »Durchreisenden wird auf Verlangen Geld ausgehändigt. Erst wenn man zurückkommt, wird es schwierig.«

Sie nahm den Schlafsack. »Ich habe noch viel zu lernen«, sagte sie. »Und nicht viel Zeit zum Lernen.«

Sie schrieb ihre eigenen Abgangssprüche, dieses Mädchen.

Unfotogen schlenderten wir zum Wohlfahrtsbüro, stellten uns an, ließen unsere Fingerabdrücke überprüfen und erhielten je zehn Pfund. Sie hätte sich fast gesperrt, als es um die Fingerabdrücke ging, doch ich schüttelte beruhigend den Kopf, und sie vertraute mir. Ich erklärte ihr hinterher, daß die Wohlfahrtscomputer dank der Bürgerrechtler mit dem National-Daten-Speicher nichts zu tun hätten… Das war natürlich eine Lüge. Hätte Vincent eine allgemeine Fahndung angeordnet, dann hätten ihre Abdrücke in allen Polizeistationen der Stadt ein Feuerwerk ausgelöst. Aber sie glaubte mir. Es entging mir nicht, daß sie mir glaubte. Ich mußte eine sehr vertrauenswürdige Sorte Mensch sein.

Das Bargeld munterte sie auf.

»Wohin jetzt?« fragte sie und lachte fast bei all der Aufregung.

Ich stellte mich auf ihre Stimmung ein und machte eine umfassende Handbewegung. »Alle Straßen führen aus der Stadt.«

Also warfen wir eine Münze, was ihr sehr gefiel, und nahmen einen Bus zum Westring. Wegen der Demonstranten fuhren die Linien nicht weiter.

Unterwegs hatte sie einen ihrer Schüttelfrostanfälle, doch sie nahm sich hübsch zusammen, und ich mußte mehrere Großaufnahmen machen, um die Sache für die Zuschauer klarzustellen. Am meisten waren ihre Hände betroffen. Wir unterhielten uns mangels anderer Themen über die politische Situation. Ich hatte einige Zeit nicht gearbeitet und wußte eigentlich nicht genug für meine Rolle, aber sie kannte sich noch weniger aus. Jedenfalls war sie noch nicht bereit, über die Sache zu sprechen, die uns beide am meisten interessierte.

Der Bus setzte uns in Sichtweite der Ringstraße ab. Katherine war aufgeregt und eilte auf die Demonstranten zu, als fürchte sie, zu spät zu kommen und etwas zu verpassen. Die Leute würden wahrscheinlich noch demonstrieren, wenn sie längst tot war. Ihre idiotischen Holzpantinen saßen locker, und sie wäre fast gestürzt. Ich wollte sie nicht beobachten. Sie war wie ein Kind beim ersten Besuch im Zoo. Ich glaube, dies war der Moment, als ich es aufgab, all die verschiedenen Katherine Mortenhoes zusammenfügen zu wollen. Irgend etwas kam schon dabei heraus. Und vieles würde vergnüglicher werden, als ich angenommen hatte.

Ich holte sie ein. Der Anblick der Demonstranten berührte mich unangenehm. »Sie lösen sich ab«, sagte ich. »Tag und Nacht. Rund um die Uhr, rings um die Stadt. Wie weiße Mäuse.«

»Jetzt sind Sie aber ungerecht. Wenigstens haben diese Leute ihre Überzeugungen, wie die auch immer aussehen mögen.«

»Ja«, sagte ich, »wie weiße Mäuse.«

Ich wollte, daß sie mir widersprach, aber sie hielt den Mund. »Wir alle sind Mäuschen«, sagte sie danach ziemlich kühl, und ich schämte mich, daß ich ihr die Stimmung verdorben hatte. Einige Demonstranten winkten uns zu, wollten, daß wir mitmachten, und ich legte Katherine einen Arm um die Schulter und schüttelte den Kopf, und sie lachten und gingen weiter, und ich sagte: »Die glauben, Sie sind mein Mädchen«, und auch das verpuffte.

Sie löste sich aus meinem Griff und drängte sich durch die Reihen der Marschierenden. In ihren fummeligen Sachen gehörte sie nicht dazu, aber sie wurde durchgelassen. Auch ich kam durch. Wenigstens saß keiner von uns beiden in einem nagelneuen 300-PS-Schlitten.

Auf der anderen Straßenseite wartete sie auf mich, an einen Laternenpfahl gelehnt. »Sie haben mir sehr geholfen«, sagte sie. »Jetzt möchte ich aber allein weitermachen.«

»Bitte sehr.« Ich deutete auf die lange, gerade Straße vor uns. »Aber wir haben nur eine Straße. Möchten Sie lieber vor mir oder hinter mir gehen?«

Ich wußte, ich mußte vorsichtig sein. Was ich auch machte, es war ein Risiko: Sie konnte sich einfach hier hinsetzen und mich allein weiterziehen lassen. Da hätte ich dann in meiner eigenen Grube festgesessen.

Er machte sich über sie lustig. Sie war alt und naiv und lächerlich gekleidet und hatte kaum Humor, und sie mochte es nicht, wenn sie verspottet wurde. Sie setzte sich schwer auf ihren Schlafsack und ignorierte die zahlreichen Wagen, die auf eine Lücke im Demonstrationszug warteten.

»Gehen Sie zuerst«, sagte sie. »Jugend vor Schönheit.«

Er ging los. Einige Meter weiter kehrte er um. »Hören Sie, es tut mir leid, wenn ich unhöflich war. Ich hab’s ernst gemeint, als ich Ihnen meine Hilfe anbot.«

Sie las Schuld in seinem Gesicht und auch ein Gefühl von Verantwortung. Sie war niemandes Verantwortung und für niemanden verantwortlich. Nicht mehr. »Sie haben mir sehr geholfen, und dafür bin ich Ihnen dankbar. Aber jetzt muß ich es allein schaffen. Nennen Sie’s weiblichen Stolz.«

Weil sie glaubte, er wollte es, ließ sie ihm keine Chance.

»Bitte sehr.« Er zuckte die Achseln und marschierte die Straße hinab. Sie spürte seine Erleichterung. Fünfzig Meter entfernt, warf er einen Blick zurück, und noch einen nach hundert Metern. Sie sah zu, wie er kleiner wurde. Sie war frei.

Am Straßenrand stauten sich die Wagen vor geschlossenen Sonntagvormittagsläden und verlassenen Sonntagvormittagsbürgersteigen. Die andere Fahrbahn lag schwarz und gerade und leer vor ihr. Hinter ihr wanderten die Demonstranten vorbei, eine fürchterliche Schlange, schweigend, wie Ameisen. Oder wie Mäuse. Es gab keinen Zorn mehr in ihr, keinen Harry, keine Barbara, keine Leiderklärung, keinen Vincent. Keine Pläne mehr, keine Alternativen. Keinen Rod mehr. Sie war niemandes Verantwortung und war für niemanden verantwortlich. Sie war aller dieser Ausflüchte ledig. Frei, sich an ihrem weiblichen Stolz die Hände zu wärmen.

Sie erschauerte, nicht weil ein Schüttelfrost sich ankündigte, sondern weil sie fror.

Als Rod schließlich um eine ferne Ecke verschwunden war, stand sie auf und ging langsam in die gleiche Richtung. Sie hatte eine wichtige Feststellung gemacht. Ihre Freiheit war so beschränkt und so pragmatisch wie je. Nach der Busfahrt hatte sie noch acht Pfund achtundsiebzig und noch etwa dreiundzwanzig Tage, den Betrag auszugeben. In das Kirchenheim konnte sie nicht zurück, und das offene Land – das vielleicht doch nicht so viele Liebesnest-Heuhaufen enthielt, wie Ethel Pargeter andeutete – schien noch immer ziemlich weit entfernt. Außerdem hatte Vikar Pembertons Wohlfahrtsfrühstück nicht gerade die Kost geboten, die sie gewöhnt war. Und schließlich hatte sich der gestrige Regen zwar verzogen, doch die frühmorgendliche Sonne war verschwunden, und der Tag war grau und kühl; es mochte jederzeit wieder regnen.

Sie schritt langsam aus, da sie Rod nicht einholen wollte. Als Mensch trauerte sie ihm nicht nach – das war Unsinn gewesen gestern nacht –, aber sie mußte zugeben, daß er vielleicht als Kenner ihrer neuen Welt wertvoll gewesen wäre. Sicher konnte man würdevoll sterben, auch wenn man frierend und durchnäßt und hungrig an einer städtischen Ausfallstraße stand… Aber eine solche Situation bereitwillig hinzunehmen oder sogar anzustreben, schien ihr doch fast vulgär zu sein.

Also zuckte sie nicht zurück, als sie die jetzt nicht mehr ferne Ecke umrundete und ihn am Straßenrand sitzen sah, einen Stiefel ausgezogen, seinen Fuß betastend. Und als sie näher kam und er ihr seine Blase nicht zeigen wollte, sondern hastig Socke und Stiefel wieder überstreifte, meinte sie, daß es an der Zeit sei, Kompromisse zu machen.

»Wir sind keine besonders flotten Wandervögel«, sagte sie. »Vielleicht sollten wir uns mitnehmen lassen.«

Langsam schnürte er seinen Stiefel zu. »Haben Sie uns beide mal im Spiegel gesehen?« fragte er schließlich. Sie war froh über seine Knurrigkeit. »Sie haben die Seiten gewechselt, Katherine Mortenhoe. Leuten wie uns schenkt man nichts. Wir sind untätig und haben ein zu starkes Geschlechtsleben. Und wir stinken.« Er stand auf. »Wir wandern so weit wir können, dann suchen wir uns etwas Warmes und Gemütliches – vielleicht das Regendach einer Bushaltestelle.«

»Warum dann nicht gleich einen Bus nehmen?«

»Die nächste Wohlfahrtszahlung gibt’s in vier Tagen und fünfzig Meilen von hier. Wir sind Obdachlose. Rechnen Sie sich’s selbst aus.«

Sie rechnete. »Also gut, dann laufen wir.«

Er nahm ihr den gefüllten Schlafsack ab, ohne daß sie Einwände dagegen erhob, und sie wanderten los. Wagen kamen schubweise vorbei, wie die Demonstranten sie durchgelassen hatten. Die Gegenfahrbahn stand voll mit Fahrzeugen, die sich nur gelegentlich und dann Meter für Meter vorwärtsbewegten.

»Müssen wir hier gehen?« fragte Katherine.

»Es ist der schnellste Weg.«

»Wohin? Wohin wollen wir denn?«

»Aus der Stadt. Sie haben gesagt, Sie wollten aus der Stadt.«

Sie fragte ihn nicht, was sie tun würden, wenn sie ihr Ziel erreichten, wenn sie aus der Stadt waren. Ihr Plan war gar kein Plan gewesen: eine gemütliche Scheune, eine Höhle in einem Hügel, eine Laube, ein Traum von Keats, ein Nirgendwo. Sie gingen weiter. Katherine bemerkte, daß Rod zwischendurch humpelte und es dann wieder vergaß. Irgendwie würde alles gut werden.

»Gestern nacht«, sagte sie plötzlich, »als Sie mich erkannten, was haben Sie da gedacht?«

»Sie meinen – ob ich mir ein Urteil über Sie gebildet habe?«

Natürlich bildete sich ein Mensch seiner Sorte – jetzt also ihrer Sorte – kein Urteil. »Nein, ich meine, wie haben Sie herausgefunden, was geschehen war?«

»Ich hatte die Zeitungen gelesen. Und es war vernünftig.«

»Nehmen Sie’s mir nicht übel, daß ich all das Geld genommen habe?«

»Sagen wir, ich war überrascht.«

Sie kam nicht weiter. Aber sie brauchte eine Einstellung. Einstellungen grenzten ihre Gedanken ab, wie Uhren ihre Handlungen abgrenzten. »Verzweifelte Situationen erfordern verzweifelte Maßnahmen«, sagte sie.

»Nicht immer. Meistens führen verzweifelte Situationen zu schlichter Verzweiflung.«

Sie hatte angenommen, sie führe das Gespräch, sie taxiere ihn. Jetzt war ihr fast, als sei die Lage genau umgekehrt. Und sie war noch nicht bereit. Sie schwieg. Die Holzschuhe schmerzten an ihren Füßen.

»Dieses Problem, das Sie da haben«, sagte er fröhlich, »wie lange meinen Sie damit noch auf den Beinen zu bleiben?«

»Keine Ahnung.« Ihr allein stand es zu, so direkt zu sein, und dann auch nur in Gedanken. »Lange genug. Länger als Sie mich begleiten werden.«

Er widersprach nicht, obwohl sie Widerspruch hören wollte. »Wenn Sie nicht im Krankenhaus enden wollen, müssen Sie sich vorsehen. Vielleicht wäre eine Randgruppenkommune das Richtige. Diese Leute verraten niemanden.«

Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte sich das schon überlegt, aber mit negativem Ergebnis. Ihr fiel auf, daß er redete, als sei auch er kein echter Angehöriger der Randgruppen. »Wer sind Sie, Rod?«

»Sie meinen, was ich bin? Ich bin ein Niemand.« Er lachte. »Ich stehe am Rande der Randgruppen.«

Sie fragte sich, ob sie wirklich das gemeint hatte. Jedenfalls war ihm die Antwort leichter gefallen, nachdem er die Frage so herumgedreht hatte. Wahrscheinlich wollte er offen mit ihr sein. »Ich glaube nicht, daß eine Kommune das Richtige wäre«, sagte sie. »Ich suche nämlich Frieden.«

»Wie bitte?«

Er blieb stehen, drehte sich um und starrte sie an. Sie erwiderte seinen Blick mit geneigtem Kopf und leicht gerunzelter Stirn. »Ich suche Frieden.« Er betrachtete ihre Hände, die an dem geflochtenen Haargürtel herumfummelten. Sie war sicher, daß er sie schon beim erstenmal verstanden hatte. »Wahrscheinlich halten Sie das für naiv.«

»Eigentlich nicht. Aber Kommunen sind friedlich. Darum geht es ja dabei.«

»Ich habe gestern eine besucht und mir dort meine Sachen besorgt. Die Leute waren ganz und gar nicht friedlich.«

»Sie waren ja auch ein Außenseiter.«

Ich bin noch immer Außenseiter, jedermanns Außenseiter… Aber sie sprach es nicht aus. Wenn sie eines haßte, dann Menschen, die immer nur über ihre Gesundheit redeten und nichts anderes im Kopf hatten. Statt dessen zuckte sie die Achseln, sagte: »Trotzdem…« und ging weiter.

Sie wanderten durch den Vormittag – manchmal stumm und manchmal redend, doch nicht über große Themen. Trotz des grauen Himmels, trotz der schrecklichen, endlosen Straße fand Katherine den Spaziergang angenehm. Sie war frei. Ihr seltsamer Gefährte forderte nichts von ihr. Seine Gegenwart hatte etwas Beiläufiges; sogar seine Hilfe, indem er ihren Schlafsack trug, stellte keine Ansprüche. Sie konnte das hinnehmen oder ablehnen, ohne ihm etwas zu geben. Nie zuvor war sie derart geschützt gewesen, in der Gegenwart geborgen. Sie war frei.

Sie suchten ein Café auf und aßen sehr billig. Sie stellte fest, daß sie auch von etwas anderem befreit war – von der Sorge um die Dinge, die sie aß, um die ungesunden Zusätze, um den niedrigen Vitamingehalt.

Sie gingen weiter. Katherine hatte sich bisher nicht klargemacht, wie groß die Stadt eigentlich war. Unzählige Läden, Wohnbezirke, Garagen, Gewerbegrundstücke, Garagen, Schulen und Freizeitheime, Garagen und wieder Läden. Die Läden waren die einzigen Überbleibsel der früheren Dorfkerne. Nach fünf Stunden Wanderung war das offene Land noch so fern wie am Anfang. Etwa fünfzehn Meilen – in Harrys Wagen waren das zehn Minuten vorbeihuschender Laternenmaste. Boden, den man niemals betrat, war unwirklich, erträglich.

Sie legten immer öfter Pausen ein. Katherines Erschöpfung ging bis an die Knochen. Egal. Sie pinkelte an den Straßenrand, wo sie saß. Das auspuffgasgeschädigte Gras kitzelte sie. Aber wenigstens konnte sie noch bestimmen, wann sie pinkelte, und machte sich noch nicht in die Hosen. Rod hatte ihr den Rücken zugewandt und beobachtete taktvoll die vorbeihuschenden Wagen.

Eines der Fahrzeuge kam plötzlich knirschend zum Stehen, fuhr auf dem Seitenstreifen zurück, öffnete ein Fenster und offenbarte einen Menschen.

»Wollen Sie ein Stück mit?«

Sie stand auf und zog unter ihrem Umhang das Höschen hoch. Rod ging zur Straße. »Wohin?« fragte er. Sie verstand die Antwort nicht. Rod kam zu ihr. »Zehn Meilen weiter, dann biegt er nach Fairhills ab. Was meinen Sie?«

Sie nickte. Zehn Meilen waren zehn Meilen. Und es begann wieder zu regnen. »Er lächelt mir zuviel«, sagte Rod, »aber ich werde wohl mit ihm fertig.«

Sie stiegen hinten ein. Der Mann war klein und gepflegt und hatte zerdrücktes, graues Haar. Eleganter Typ.

»Vielen Dank«, sagte Katherine.

»Ist mir ein Vergnügen. Kein Tag, um draußen herumzulaufen.«

Sie fuhren weiter. Katherine lehnte sich zurück und schloß die Augen. Rod und der elegante Mann führten eine Art Gespräch.

»Hübscher Wagen.«

»Freut mich, daß er Ihnen gefällt. Wollen Sie weit?«

»Weit genug.«

»Entschuldigen Sie – dumme Frage… Wissen Sie, ich habe wirklich viel für Leute Ihrer Art übrig.«

»Oh, das ist anzunehmen. Sie haben uns ja mitgenommen.«

»Sicher, sicher…«

Katherine war zum erstenmal seit Stunden richtig warm, und sie fühlte sich fast beschwingt. Der elegante Mann hatte einen eleganten Wagen, der groß und sehr bequem war. Sie begann zu dösen.

»… natürlich nehme ich alle möglichen Leute mit. Versuche, nicht einseitig zu sein. Ich meine, jeder hat eine Meinung, und die möchte ich hören.«

»Meinung worüber?«

»Über alles, John. Über alles… Wir führen ein offenes Haus. Und wir sind sehr aufgeschlossen. Eine hübsche kleine Gruppe. Verstehen Sie?«

»Ich glaube nicht.«

»Diskussionen, gemeinsame Erlebnisse. Natürlich nichts Ernsthaftes. Aber kein Mensch, von dem man nicht irgend etwas lernen könnte. Eigentlich komisch, daß ich Sie so kennenlerne. Ich überlege gerade…«

»Ich fürchte, das geht nicht. Sehr nett von Ihnen, aber wir müssen…«

»Moment mal, John. Was meinen Sie?«

»Sie wollten uns doch einladen an den Ort, wo Sie Ihre Gruppentreffen abhalten.«

»Bei mir zu Hause. Na ja, vielleicht wollte ich das. Aber nicht einfach so. Der gesellschaftliche Verkehr muß geölt werden. Er braucht…«

»Ihrer vielleicht. Unserer nicht.«

»Außerdem hört sich mein Vorschlag aus Ihrem Munde leicht anrüchig an.« Er brach ab. »Ist Ihre Frau krank?« fragte er.

Katherine öffnete die Augen, begegnete seinem Blick im Rückspiegel. Die Augenbrauen darüber waren mitfühlend in die Höhe gezogen. »Ich? Mir geht’s prima. Ich bin nur müde.« Und sie reckte sich ungebührlich, randgruppenmäßig, und spürte, wie ihre Knochen knackten.

»Der Mann will, daß wir mit zu ihm nach Hause kommen«, sagte Rod.

»Es sind auch andere da, mein Lieber. Natürlich meine Frau. Wir haben einen hübschen, kleinen Kreis.«

»Die Leute haben einen hübschen, kleinen Kreis.«

Sie fragte sich, warum Rod so unhöflich war. Der Mann mochte ein Dummkopf sein, doch er war bestimmt auch sehr reich. Kälte und Nässe und Hunger am Rande einer Ausfallstraße hinzunehmen, schien ihr ans Vulgäre zu grenzen. »Können wir über Nacht bleiben?« fragte sie so sorglos, wie sie sich gereckt hatte.

»Ich habe ihm schon gesagt, daß wir weitermüssen, Sarah. Wir haben noch weit.«

»Wirklich?«

»Dachte ich jedenfalls.«

Der elegante Mann musterte sie wieder im Spiegel. »Die Dame ist müde, John. Natürlich können Sie beide über Nacht bleiben. Selbstverständlich…«

Es hatte keinen Sinn, dagegen anzugehen. Ich sah, wie der Regen gegen die Windschutzscheibe trommelte, und stellte mir Katherine und mich dort draußen vor. Die Bushaltestelle war eine Improvisation gewesen: an Schnellstraßen gab es solche Haltestellen nicht, und früher oder später hätte sie es bemerkt. Jetzt saß sie warm und trocken, ein Genuß, der – wenn sie Glück hatte – bis zum Morgen anhielt. Nicht, daß wir beide unseren lächerlichen Freund zu fürchten hatten. Eine lebhafte Frau, auf Kontaktsitzungen scharf, dazu ein paar haschfreudige Geschäftsfreunde, die den Sonntagnachmittag herumbringen wollten – so sah das doch aus, wenn ich mich nicht sehr irrte.

An der großen Fairhills-Kreuzung bog er mit dem Wagen nach links ab, und wir erklommen eine gewundene Straße, die von den Grundstücken durch hohe Immergrünhecken abgeschirmt war. Oben auf dem Hügel trennten sich die Hecken und umschlossen die Gipfel zweier miteinander verbundenen Erhebungen, auf denen etwa ein Dutzend große, schöne Häuser standen. Zwischen den Häusern, unberührt auf dem Gipfel des höheren Hügels, stand eine jener isolierten Ulmengruppen, wie sie nur in England zu finden sind, traurig und schön. Die Stadt ringsum lag im Dunst; nur einige große Häuserblocks und der schwarze Kasten des Schlosses waren zu erkennen – und im Westen erstreckten sich weitere Hügel, anscheinend endlich das offene Land.

Während wir noch auf der Schnellstraße dahinrasten, hatte es mich amüsiert, daß zwei Leute, die so reich waren wie Katherine und ich, die wohltätige – und leicht unheimliche – Gastfreundschaft dieses Mannes akzeptierten. Nun sah ich, daß sich unser Vermögen neben dem Reichtum unseres lächelnden Freundes wie Taschengeld ausnahm. Der Gedanke war zwar angenehm, half mir aber nicht, meine düsteren Vorahnungen zu zerstreuen. Großer Reichtum fällt seinen Besitzern selten leicht.

Seit wir von der Schnellstraße abgebogen waren, hatte unser Gastgeber geschwiegen, als sei sein kluges Geplauder nicht mehr erforderlich, nachdem er sein Ziel erreicht hatte. Ich schaute zu Katherine hinüber. Sie schien wieder eingeschlafen zu sein. Offenbar war sie keine geübte Fußgängerin. Nicht, daß mich das überraschte oder mir Sorgen machte – nachdem heute abend die erste ihrer Sendungen in den Äther gehen sollte, würde uns das liebe Publikum erdrücken, sobald wir am Straßenrand entdeckt wurden. Es war mein Problem – das ich bisher noch nicht gelöst hatte: sie abzuschirmen, ohne es allzu offenkundig werden zu lassen. Deshalb hatte ich auch die Kommune vorgeschlagen: Randgruppen lehnten die Medien mehr oder weniger aus Überzeugung ab. Ich hoffte noch immer, sie mit dem Gedanken an eine nette, friedliche Randgruppenkommune locken zu können.

Wir fuhren die Servicestraße entlang und durch einen überraschend auftauchenden Tunnel in eine Garage unter einem der schönen Häuser. Lichter gingen an. Während unser Gastgeber noch an der automatischen Schaltung herumfummelte, zählte ich sieben weitere große Wagen, mit den Kennzeichen CAR 1-8, wobei Nummer 6 fehlte. Ich hätte geschworen, daß wir in CAR 6 saßen. Plötzlich wußte ich, wer unser lächelnder Freund war, und hielt entsetzt den Atem an.

Wir fuhren rückwärts in eine Parklücke. Er drehte sich zu uns um. »Ich mache mich arm«, sagte er, »indem ich meine Wünsche riesig werden lasse.«

Ein Mann, der seinen Emerson gelesen hatte und ihn zweifellos verachtete. Aber er bot mir einen Ansatzpunkt. »Sie werden das nie schaffen, Mr. Rondavel«, sagte ich. »Nicht auf dieser Seite des TV-Lebens.«

»Bitte.« Sanft protestierend hob er die Hand. »Keine Fachgespräche am Sonntag. Ich arbeite ohnehin schon eine Fünftagewoche. In diesem Haus erwähnt niemand das Fernsehen, wenn er nicht sofort exkommuniziert werden will.«

Er lächelte, ließ uns diesmal alle zweiunddreißig Zähne sehen. »Sie haben natürlich die Wagen bemerkt. Ich hätte das Interview nie geben dürfen. Eitelkeit, Eitelkeit, alles ist Eitelkeit…«

Ein literarischer Typ. Ich ließ ihn bei der Überzeugung, es sei das Interview. Dabei kannten die meisten Leute bei der NTV die kleinen Schwächen des Vorsitzenden. Seine acht Wagen und seine acht Miezen, die alle Margaret hießen. Wir waren uns natürlich nie begegnet. Wenn er von mir wußte, dann bestimmt nur als Zahl auf seinen Bilanzbögen. Und er war auch nicht der Typ, der in jedem Büro sein Bild aufhängen ließ. Trotzdem mußte ich eine Möglichkeit suchen, mich ihm vorzustellen, ehe der Besuch aus den Fugen geriet. Es gab Dinge, die man über seinen obersten Dienstherrn lieber nicht wußte.

In diesem Augenblick erwachte Katherine. »Wir sind da«, verkündete sie, schob ihre Motorradbrille hoch und rieb sich die Augen. Rondavel hatte sich abgewandt, stieg aus dem Wagen und ging fort. Offenbar gehörte Katherine nicht mehr zu den Frauen, für die elegante Männer Türen aufmachten. Statt dessen zog ich die Wagentür auf und half ihr hinaus.

Wir stolperten ihm nach, steif von dem langen Marsch und der plötzlichen, kurzen Erholung – zu einem mit Nußbaumholz und Facettenglas ausgekleideten Fahrstuhl, nachgemachte dreißiger Jahre. Er wartete, bis ich meinen Rucksack und Katherines Schlafsack hineingeworfen hatte. »Sie dürfen sich nichts daraus machen, wenn Ihnen die Szene oben etwas fortgeschritten vorkommt. Es ist eben Sonntag nachmittag. Die Leute werden sich später erstaunlich erholen.«

Und gerade davor hatte ich Angst, jetzt mehr denn je. Verzweifelt versuchte ich mir zu überlegen, wie ich an ihn allein herankommen konnte. Er drückte den Knopf der zweiten Etage und wandte sich an Katherine. »Eine verspätete Vorstellung… Sie, meine Liebe, heißen wohl Katherine. Und Sie müssen mich Coryton nennen.«

Er streckte die Hand aus, die sie ergriff. Coryton Ansford Rondavel… Ich fragte mich, ob man schon einen solchen Namen haben konnte, ehe man Millionär wurde, oder ob einem so etwas hinterher zuflog. Vielleicht war die Taufe auf den Namen Coryton Ansford schon eine Möglichkeit, seinen Sohn auf den Weg zum Millionär zu führen. Wenn das so war, hatte ich bei Roddie II kläglich versagt.

»Und Sie, John, wie heißen Sie? Reagieren Sie auf Hallo – oder etwas Ähnliches?«

»Ich merke ganz gut, wenn man mit mir spricht.«

Ich durfte Katherines Ansicht von mir nicht vergessen. Und er konnte von einem Randgruppenjüngling kaum gutes Benehmen erwarten. Der Fahrstuhl glitt in die Höhe und stoppte. Und da waren wir dann, John und Sarah samt Gepäck und Coryton Ansford Rondavel samt Lächeln, bereit, unserem Schicksal im zweiten Stockwerk eines namenlosen Hauses irgendwo in Fairhills entgegenzutreten. Leise Musik erklang, entweder Hi-Fi oder ein sehr guter Mann am Synthesizer. Rondavel entließ uns auf einen spiegelbewehrten Treppenabsatz, öffnete eine Tür, machte eine Geste.

»Ich muß mich umziehen«, sagte er. »Sie finden alles Erforderliche hier drinnen.«

Die Spiegel reflektierten unser Bild. Neben Rondavel, auf seinen beigefarbenen Spannteppichen, vor seinen edlen Silbermöbeln, hätten wir ebensogut verdreckte Hottentotten sein können. Wir mußten hier raus. Ich ließ Katherine in das bezeichnete Zimmer vorausgehen und folgte Rondavel zu seiner Tür. Wenn ich das Gespräch hinter mich gebracht hatte, würde er mir bestimmt zustimmen. Wir mußten hier raus.

»Mr. Rondavel«, sagte ich. »Da ist etwas, das Sie…«

»Später.« Er machte mir die Tür vor der Nase zu. Nach einer Sekunde ging sie noch einmal einen Spalt auf. »Und nennen Sie mich Coryton.«

Die Tür klappte wieder zu und blieb verschlossen. Da mir der stumme Korridor mißfiel, kehrte ich zu Katherine zurück.

Der Raum war eine Art Badezimmer, doch ausgestattet mit einem weichen, schwarzsamtenen Sessel, verschiedenen bequemen Stühlen, einem schicken, schwarzen Getränkeautomaten und zahlreichen Spiegeln, wie schon draußen auf dem Treppenabsatz. Spiegel in einem Bad, wenn es sich nicht nur um den notwendigen Spiegel über dem Waschbecken handelt, stimmen mich unbehaglich. Bilder halten sich darin. Geile Spiegelbilder. Zweifellos habe ich eine schlimme, schmutzige Phantasie. Wie dem auch sein mag, dieses Bad, samt weichem Sessel und Spiegeln, war das schlimmste, schmutzigste Bad, das ich je gesehen hatte.

»Kommen Sie«, sagte ich. »Verschwinden wir hier.«

Katherine hatte Hut und Motorradbrille abgenommen und musterte sich in einem der Spiegel. Ihre Uniformjacke hing über einer Stuhllehne. »Es regnet«, sagte sie. »Und er will doch nur mit mir schlafen.«

Wie hübsch das formuliert war. »Oder mit mir«, sagte ich.

»Na und? Wenn Sie damit fertig werden, schaffe ich das auch.« Sie beugte sich vor, betrachtete eingehend ihr Spiegelbild. »Diese Brille scheint meinen Augen zu schaden. Die Haut ist ganz feucht und runzlig.«

»Katherine – Sie wissen wahrscheinlich nicht, wie solche Menschen sein können.«

»Sie meinen, er ist ein verquerer Brillenfetischist?«

»Ich mache keine Witze, Katherine.«

»Und hier ist es warm und trocken, und wir bekommen wahrscheinlich etwas zu essen. Manchmal sind das die Dinge des Lebens, auf die es ankommt.«

Abgesehen von allem anderen war jede Minute, die wir in Coryton Rondavels Haus verbrachten, verschwendete Aufnahmezeit. Aber ich wußte, daß ich sie nicht mehr fortbrachte. Ich sah zu, wie sie ihre Brille wieder aufsetzte und sich ihren Südwester über die Ohren zog. Hatte Rondavel im Ernst gesprochen, als er sagte, das Fernsehen sei in seinem Haus tabu? Oder würde er seine Orgie unterbrechen und uns alle um halb neun vor den Bildschirm scheuchen, damit wir uns die erste, neue Schicksals-Sendung seines Senders ansahen? Was dann? Und wie stand es mit den Problemen des morgigen Tages?

Katherine zu täuschen, von den Medien fernzuhalten, war in Vincents Büro ganz leicht erschienen. Mach dir dein Fingerspitzengefühl zunutze, hatte er gesagt. Ich tastete wild herum, aber ich fühlte nichts.

Doch wir hatten einen rücksichtsvollen Gastgeber, der uns nicht lange warten ließ. »Es gibt da eine komplizierte Geschichte«, sagte er mit orangefarbenem Brokatrascheln, »über ein königliches Bankett, bei dem der Ehrengast, der solche Feste nicht gewöhnt war, versehentlich das Wasser aus seiner Fingerschale trank. Der König, so wird erzählt, brachte die königliche Höflichkeit auf, seinen Gast nicht zu blamieren, und trank das Wasser ebenfalls.«

Die kleine Geschichte sollte wahrscheinlich das Kostüm unseres Gastgebers erklären oder dessen schockierende Wirkung herabmildern – aber das gelang ihm nicht. Er war wie eine Gestalt aus Tausendundeiner Nacht gekleidet – oder wie einer der drei Könige aus dem Morgenland in einer Schulaufführung, nur daß Gold und Schmuck und Hermelin echt waren.

Eine zufriedenstellende Reaktion fiel mir weder auf die Anekdote noch auf seine Erscheinung ein.

»Fummelig genug?« fragte er und drehte sich im Kreis. Dann beendete er seine Vorführung und brachte uns nach unten.

Er hatte gesagt, wir würden die Szene ein wenig fortgeschritten finden. Wahrscheinlich hatte er damit die Leute gemeint. Der Wohnbereich des Erdgeschosses – ich wußte nie, wie ich solche mehrgeschossigen Flächen aus knietiefen Teppichen und kinetischen Kunstwerken nennen sollte, auf die die Reichen so scharf sind – war übersät mit haschfrohen Ausgeflippten. Ich erkannte einige Gesichter – danach handelte es sich eher um normale Establishmenttypen, die sich alle Mühe gaben, haschfrohe Ausgeflippte zu mimen. Es war genau die deprimierende Szene, die ich erwartet hatte.

Abgesehen von uns war der einzige wirklich lebende Partygast ein junger Mann, völlig in Schwarz gekleidet, der über einer Synthesizer-Konsole saß und überraschend konzentriert improvisierte. Er ignorierte uns.

»Kümmern Sie sich nicht um ihn«, sagte Rondavel. »Der macht seinen eigenen Trip. Nur der Psychomotor in seinen Fingern funktioniert noch.«

Er führte uns zwischen durchsichtigen, amöbenhaften Polstereinheiten hindurch, stieg über schlaffe Beine und Arme und exotische Gewänder. Ich stieß Katherine an. »Wochenend-Randler«, murmelte ich. »Die Laster haben sie, aber keine der Tugenden.«

»Sie müssen uns das nachsehen«, sagte Rondavel, der wenigstens so vernünftig war, uns am Hauptservicegerät keine Getränke, sondern etwas zu essen zu reichen. »Wir neigen dazu, bei unseren kleinen Zusammenkünften etwas aus uns herauszugehen. Ich selbst habe Ausgleich gesucht und bin ein wenig Realität schnappen gegangen, verstehen Sie… Sie haben hoffentlich nichts gegen Fleisch von der Flanke?«

Ich ließ ihm die Herablassung durchgehen. Als Randtyp hätte ich wahrscheinlich seit Jahren kein echtes Fleisch mehr angerührt. Katherine hatte ihre Portion bereits verschlungen und bekam einen Nachschlag angeboten. Der Raum war lächerlich, der Traum eines Filmregisseurs von einer Szene nach der Orgie. Wahrscheinlich stammte der Entwurf aus solchen Quellen.

»Wir sind eigentlich sehr unschuldig«, sagte Rondavel, der meine Gedanken erriet. »Wir möchten das Beste beider Welten. Sie werden uns dafür wohl verachten.«

Toleranz war das große Ding der Randgruppen. Ich lächelte. »Tun Sie, was Sie wollen. Ich mache etwas anderes. Sie nehmen nur einen Bruchteil des Ganzen. Aber wer achtet schon darauf?«

»Sie, John, Sie, das weiß ich.« Er geriet in Fahrt. »Sie lehnen uns ab. Das sehe ich. Sie kommen hier rein, ganz Mißbilligung. Sie sind ein verquerer Snob, was die Reichen angeht. Sie sitzen auf Ihrem hohen moralischen Roß, und…«

»Wir sollten lieber gehen.« Aber ich hatte keine Hoffnung. Vielleicht hatte er uns deshalb mitgenommen – um über seine Schuldgefühle zu sprechen.

Wir starrten uns an, ohne eine Bewegung zu machen. Katherine gähnte und rettete uns. »Das ist alles so langweilig…« Sie nahm noch eine Scheibe Rindfleisch. »Wir mißbrauchen einander. Das ist bei den Menschen eben so. Und wenn wir uns darüber einig sind, können wir vielleicht endlich weitermachen… na, womit wir eben weitermachen müssen.«

Das war nicht gerade Randgruppenlatein, aber Rondavel hielt den Mund. Er entspannte sich und zog los, stieß Gäste sanft mit seinen türkischen Sandalen an. Sie fuhren hoch, kratzten sich, furzten, kicherten. Reich oder arm – der Körper ließ einen niemals los.

»Besuch, meine Kinder. Rührt euch. Verschlagene des Sturms. Herausgerissen aus der langen Reise vom Nichts in das Nichts. Vor euren Augen. Sie sind hier, um uns an ihrer Weisheit teilhaben zu lassen.«

Wenn er sich über sich selbst lustig machte, dann auch über uns. Wir standen da und kauten unser Fleisch und warteten.

»Kümmern Sie sich nicht um Corry. Die Aufmachung steigt ihm zu Kopf. Ich heiße Margaret.«

Wir stellten uns vor, vollzogen die Nicht-Vorstellung. Hinter ihrer fummeligen Sonnenbrille war diese spezielle Margaret eine ausgesprochen schöne junge Frau. »Ich freue mich, daß Sie kommen konnten.« Ich hielt nach den Gurkensandwiches Ausschau. »Corry will Sie nicht beleidigen – er ist nur verwirrt. Sie wahrscheinlich auch.«

»Wir nicht«, sagte Katherine. »Wir haben ein automatisches Überlegenheitsgefühl. Sehr beruhigend. In einer Welt, in der sich jeder für überlegen hält, gäbe es keine Kriege mehr.«

Sie schlug sich wirklich ausgezeichnet. Natürlich hätte ich das gleich wissen müssen. Margaret lachte. »Funktioniert das auch zwischen Mann und Frau?«

»Mehr denn je. Ich weiß, ich bin John überlegen, und er – der arme Narr – hält sich seinerseits für überlegen. Deshalb kommen wir so gut miteinander aus.«

Eine zweite Frau, nervös, sich ihrer langen Zähne bewußt, trat zu unserer Gruppe. »Aber wer«, fragte sie und straffte die Oberlippe, »wer liegt dann unten, und wer oben? Das will ich wissen.«

Und da hatten wir’s – nach knapp dreißig Sekunden redeten wir über Sex. Wenn wir Randgruppenleute nicht nach Rauschgift gefragt wurden, dann nach Sex. Kein Wunder, daß wir so beneidet wurden.

»Bitte, keine technischen Einzelheiten«, sagte Margaret hastig. »Dazu ist es noch viel zu früh.«

Enttäuscht bedeckte die Frau ihre Zähne.

Katherine wußte, daß sie verrückt wurde. Sie hörte sich Dinge sagen, die sie verabscheute, unmögliche Dinge. Und hörte sich lachen, lachen… In diesem Raum war sie ein Ausstellungsstück wie auf der Bühne, als stünde sie vor Vincent Ferrimans Kameras. Und sie hatte Spaß daran, jedenfalls ein Teil von ihr. Vielleicht, weil es ein Spiel war. Eine Lüge. Sie, die sie in die Wahrheit hatte fliehen wollen, genoß die Lüge.

Menschen starrten ihr ins Gesicht, schrecklich grelle Leute. Manchmal hörte sie sie auch. »Die Gesellschaft ist korrupt. Haben Sie deshalb nichts dagegen, davon zu leben?«

»Korruption ist doch nichts Schlimmes. Schauen Sie mal in Ihr Wörterbuch. Aus der Korruption erwachsen die schönsten Lilien.«

»Hört sich nach Bibel an – denken Sie an die Lilien auf dem Felde?«

»Weiß ich nicht. Ist mir eben erst eingefallen. Vielleicht waren es nicht dieselben Lilien.«

Gelächter. Gelächter. Die Antworten waren so dumm wie die Fragen. Manchmal wanderte Katherine einfach zwischen den erschreckten, den schrecklichen Leuten hindurch und murmelte vor sich hin.

Sie bekam etwas zu essen und schlang es hinunter. Man reichte ihr Drinks, und sie trank.

Die Stellen, an denen sie stand, waren manchmal sehr hell, manchmal sehr dunkel. Irgendwo schwelte Musik, und die Leute tanzten formlos. Alle tanzten und lachten – nackt, nur sie nicht nackt –, und ein Pfad führte zwischen ihnen hindurch, über Stufen hinauf, durch Musik, durch Äonen des Rots zu Rod, eine winzige Gestalt in der Ferne, größer werdend, als sie darauf zurannte.

Sie erreichte ihn, drückte ihn an sich, spürte, wie er ihr gleich einer Rauchwolke aus den Armen glitt. Doch der Pfad hatte sich hinter ihr geschlossen, und er war da, noch immer da. Noch immer. Da. Rod. Sie umfaßte seine Arme, seine Hüften, seine rauchigen Lenden. Ringsum jubelten stumm die Leute, riesige Münder über vibrierendem Rosa und Orange und Blau. Das war keine Lüge mehr; sie wußte es. Er war wütend, erhob Einwände, schüttelte den Kopf, schüttelte seinen Kopf, schüttelte ihren Kopf.

Kalt war es nun, das Gesicht gegen seine rauchigen Lenden gedrückt, und schwitzend wartete sie. Sie spürte sein Ungestüm, seine Abwehr. Sie wartete. Und die Münder klafften.

Sie nahmen sie ihm fort. Da war eine Maschine auf riesigen leisen Rädern, glatt und schön. Sie plazierten die Maschine neben sie, um sie. Sie wunderte sich – jetzt ohne Angst – über die schrecklichen Spielzeuge der Reichen. Sex lag in der Luft, in dem glatten und herrlichen Treiben der Maschine. Sie nahm sie seufzend auf. Rod wurde in der Ferne festgehalten, mit offenem Mund zuschauend. Die Geräusche brachen über ihr zusammen, wortlos, verebbten zu plötzlicher Stille, und nur der dünne Faden der Musik und der Atem der Maschine blieben, die ihr ins Gesicht hauchte. Sie wehrte sich nicht. Die Bewegung in ihrem Körper war nicht schmerzhaft, nur trocken und ermüdend. Sie schaute hinauf, an der Maschine vorbei, wo Rod in den zuckenden Lichtflocken stand. Er hatte den Mund geschlossen, und Tränen schimmerten auf seinen Wangen.

Später waren die Räume ziemlich leer. Nur sie beide. Katherine richtete sich auf. Unglaublich – er hatte ein Fernsehgerät gefunden und verfolgte ein Programm. Einige Meter entfernt, hinter lächerlich aufgedunsenen Polstergebilden, war sein Gesicht vom purpurnen Schimmer des Bildschirms erhellt. Sie sah sich um: Der Raum war ein gewaltiges, verrücktes Durcheinander. Jeder konnte Spiegel an Plastikfäden aufhängen und herumdrehen. Jeder konnte Maschinen hereinrollen und wieder fortschieben. Jeder konnte Plastikbeutel aufblasen und das Ergebnis Möbel nennen.

Er hörte, wie sie sich bewegte, und schaltete hastig das Gerät aus. Aus der gepolsterten Vertiefung, in der er lag, blickte er zu ihr auf. Im Haus der Reichen durfte offenbar niemand sitzen. »Fühlen Sie sich besser?«

Er machte nicht den Versuch, zu ihr zu kommen. Sie schüttelte den Kopf. »Kaum.«

»Hat Ihnen Ihre Mutter nicht gesagt, nie mit Fremden mitzufahren?«

»Welche Mutter?« Sie konnte so schlau sein wie er, so wenig sagen, abwarten.

»Wahrscheinlich hat man Ihnen etwas in den Drink getan. An wieviel erinnern Sie sich?«

Dann fiel es ihr ein. Entschlossen stopfte sie ihren Umhang zwischen die Beine. »Ich bin vergewaltigt worden«, sagte sie.

»Nein.« Er richtete sich auf. »Man hatte es vor. Etwas in der Art. Aber…«

»Meinen Sie, das wüßte ich nicht?«

»Jetzt sind alle abgehauen. Ich schwör’s. Haben sich verdrückt wie eine Horde ungezogener Kinder.«

»Meinen Sie, das weiß ich nicht?«

Er eilte zu ihr, nahm ihre Hand. Aber sie versteckte sie vor ihm. »Glauben Sie mir, Katherine. Als es soweit war, hat sich keiner der Männer getraut. Das ist die Wahrheit.«

»Aber die Maschine…«

»Man hat Ihnen etwas in den Drink getan. Sie waren durcheinander.«

Sie erinnerte sich an den Atemhauch im Gesicht, den trockenen Schmerz. »Wo sind sie denn jetzt?«

Er zuckte die Achseln. »Das Haus ist groß. Und dann gibt’s da noch die Nachbarn. Hier auf Fairhills kommen alle gut miteinander aus.«

»Wie lange bin ich schon…?«

»Knapp eine Stunde. Ich sag’s Ihnen ja, Katherine. Man hat Ihnen etwas in den Drink getan.«