SAMSTAG
Am nächsten Morgen kümmerte sich Katherine als erstes um Harry, indem sie ihn ›richtig‹ weckte. Sie hatte erkannt, daß sie ihm gerade dies schuldig war. Weil sie ihn verließ – aus guten, komplizierten Gründen, die er nie begreifen würde. Wenn sie fort war, wenn seine Verwunderung und sein konventioneller Schmerz vorbei waren, würde er sich hieran erinnern. Dieses Zeichen, diesen Beweis ihrer geduldigen Liebe würde er in sich tragen, weitaus wertvoller als jene groben dreihunderttausend Pfund.
Ihre Beziehung würde also enden, würde enden, wie sie es sich wünschte: nicht mit Wehklagen, sondern mit einem Knall.
Beim Zubettgehen gestern abend hatte sie ihn abgewehrt, hatte Kopfschmerzen vorgeschoben. Hinterher hatte sie wachgelegen und auf sein leises Atmen gelauscht, bis die Gerechtigkeit sie erwischte und der Kopfschmerz doch noch kam. Und andere Dinge… Er jedoch hatte tief geschlafen, und ihre Probleme hatten ihn nicht gestört.
Natürlich wollte sie ihm nichts von dem Geld sagen. Das sollte er später herausfinden, wenn er mit seinen verwirrten Reaktionen allein war, wenn er seine schuldbewußte Freude, seine schändlichen, goldenen Träume offen zeigen konnte. Statt dessen nahmen sie sich ihre Ersparnisse und Vincents tausend Pfund zum Maßstab und verbrachten den Abend damit, einen neuen Stapel Reiseprospekte durchzublättern. Es war egal, wohin sie fuhren, sagte Harry - Vincent hatte versprochen, ihnen überall auf der Welt Schutz zu gewähren und seine Fernsehleitungen dorthin zu schalten. Auch wollte er eine geheimnisvolle neue Produktionstechnik benutzen: Katherine brauche sich keine Sorgen zu machen, sie würde kaum merken, daß der Kameramann bei ihr war.
Sie sah zu, wie Harry die Broschüren sorgfältig in drei Stapel teilte – die möglichen, die weniger wahrscheinlichen und die nicht in Frage kommenden Orte. Sie machte sich klar, daß sein erstes, kurzes Gespräch mit Vincent Ferriman ziemlich umfassend gewesen sein mußte. Bemerkenswert umfassend. Honorarvorschlag, Unterzeichnung von Papieren, Geldauszahlung, Schutzversprechen, sogar eine Diskussion über Produktionstechniken… Und als sie dann nur eine Stunde später, knapp eine Stunde später, aus dem Krankenhaus zurückkehrte, hatte er gesagt: »Wozu das Geld?« Und: »Der Gedanke ist ekelhaft.« Und: »Ich habe ihm gesagt, er soll sich verziehen.«
Und dabei hatte er bestimmt Vincents frischen Scheck über tausend Pfund in der Tasche gehabt.
Und doch war das nicht die Erklärung für ihre Entscheidung, ihn zu verlassen. Es war nichts Neues, nichts wirklich Neues. Es änderte ihre Liebe für ihn nicht. Und auch nicht ihre sentimentale Entschlossenheit, er sollte sie schließlich durch einen letzten, großartigen und zeremoniellen Geschlechtsakt im Gedächtnis behalten.
Also hatte sie ihn gestern abend abgewehrt und erregte ihn nun im richtigen, im zeremoniellen Augenblick – streichelte ihn zwischen den Beinen, zupfte an den wenigen, traurigen Haaren auf seiner Brust. Ein Erwachen, an das er sich erinnern sollte, an das er noch denken sollte, wenn sie längst Vergangenheit war… So sollte ihre Beziehung enden, ihre reale, wortlose, Haut-an-Haut-Beziehung: nobel, nicht mit Wehklagen, sondern mit einem Knall.
Er schob sich über sie. Er erwachte immer sehr langsam.
»Du mußt es zurückhalten, Schatz«, flüsterte sie. »Drück nach unten, weißt du noch? Drück mit deinem Zwerchfell nach unten. Halt es zurück!«
Und er erwachte und drückte, bis er nicht mehr drücken konnte.
Es genügte. Es befreite sie von ihren Gedanken.
Hinterher ließ sie ihn schweratmend allein und ging los, um das Frühstück zu machen. Heute war ein Tag des Handelns, nicht des Grübelns. Aus dem Küchenfenster sah sie, daß es regnete, ein schönes, graues, unfrühlingshaftes Nieseln. Auch versagten heute früh – seit Wochen war das nicht mehr vorgekommen – die elektrischen Küchengeräte den Dienst. Wahrscheinlich eine kleine Bombe in einer Umschaltstation oder ein Saboteur der Bürgerrechtler im Personal der Zentralen Versorgung. Sie hatte keine Ahnung, worum es diesmal ging, und es war ihr auch egal. Sie wünschte sich nur, die Behörden würden den Kerlen geben, was sie wollten, und normale Bürger in Ruhe weiterleben – und weitersterben lassen. Also machte sie das Frühstück auf dem Ersatzgaskocher, der die Unterseite ihrer Pfannen verschmutzte. Aber Regen und Unbequemlichkeit störten sie nicht: Heute, Samstag, war ein Tag des Handelns, nicht des Grübelns. Das Grübeln konnte, würde, ja, sollte später kommen.
Sie frühstückten im Bett. Das Leben war ein einziger, langer Urlaub. Sie besprachen ihre Pläne. Sie war froh, daß Harry sie belog – das erleichterte ihr das Lügen. Sie blätterte die Broschüren durch.
»Capri?« fragte sie. »Wenn da noch ein Quadratzentimeter frei ist?«
»Ich hatte mir eher die Bahamas vorgestellt.«
»Die sind doch ein einziger, großer Bootshafen.«
»Da wäre immer noch Pitcairn.«
»Um diese Jahreszeit ist das voller Deutscher.«
»Du bist provinziell, Kate. Außerdem sind die Deutschen überall.«
»Außer in Deutschland. Da treiben sich haufenweise Amerikaner herum.«
»Ich kann mir das nicht vorstellen. Immerhin…«
»Ein Witz, Harry. Nur ein Witz.«
Harry schniefte, verlagerte seine Beine unter der Bettdecke und nahm willkürlich einen Prospekt zur Hand. »Wie wär’s mit Tasmanien?« fragte er.
Damit hatte er es verdorben. Wie naiv, doch immer an Inseln zu denken! Als ob es irgendwo ein Versteck, eine Zuflucht gäbe. Sie nahm ›Tasmanien – Heimat des pazifischen Grand Prix‹ zur Hand und besah sich die Bilder. »Na gut«, sagte sie. »Wir fliegen dorthin. Wenigstens ist es weit weg.«
»Bist du sicher? Ich meine, es ist nicht sehr…«
»Dorthin fahren wir, Harry.«
Nachdem die Entscheidung gefallen war, geriet Harry sofort in Aufregung. Wie war das mit dem Klima? Und mit der Kleidung? Und die Währung? Und Visen? Und…
»Ruf Vincent an«, sagte sie. »Er soll sich darum kümmern.«
Harry sah sie zweifelnd an. »Vincent ist immer sehr beschäftigt.«
»Kann man wohl sagen. Solange ich noch lebe, wird er sich mit dem beschäftigen, was ich ihm sage. Dafür wird er von der NTV bezahlt.«
»Du bist früher nicht so hart gewesen, Kate.«
Darauf gab es mehrere Antworten, doch sie ging nicht darauf ein. Heute war ein Tag des Handelns, nicht des Grübelns.
Nach mehrmaliger Aufforderung rief Harry im NTV-Haus an. Vincent war so charmant und hilfsbereit wie zu Anfang – und er war entzückt über die Wahl des Reiseortes. Tasmanien biete sehr schöne Szenerien für die Aufnahmen, die Inselbewohner, die noch wenig von den Medien abhingen, würden kaum Schwierigkeiten machen, technisch war die Lage bestens – wegen des jährlichen Grand Prix. Sein Assistent würde alle Vorbereitungen treffen, und die Dokumente würden bereitliegen, sobald sie um vier ins NTV-Haus kamen. Was die Kleidung anging, so würde er es vorziehen, wenn sich Mrs. Mortenhoe selbst eindeckte. Weder er noch sein Assistent würden sich anmaßen wollen, für eine schöne Frau Kleider auszusuchen. Katherine, die dicht neben Harry stand, hörte das.
»Die schöne Katherine Mortenhoe und ihr schöner Mann geben ein schönes Paar ab, während sie in einer schönen Welt schöne Dinge tun, und während sie sich auf einen schönen Tod vorbereitet. Es wäre alles so schön…«
Doch gegen einen Einkaufsbummel hatte sie nichts. Sie faßte keinen genauen Plan, sich von Harry zu trennen – ein Modeladen war dazu so geeignet wie jeder andere Ort.
Sie verließen die Wohnung. Katherine blickte nicht zurück. Wenn sie schon Harry so einfach verlassen konnte, dann auch diese anderen Reste ihres Lebens. Im Nieselregen flackerten Buchstaben über die Schirme der Zeitungsstände: REKORDPREIS FÜR SYNDROMOPFER – EXPLOSION ZERSTÖRT UMSPANNWERK – NTV NIMMT MORTENHOE UNTER VERTRAG – AUFSTÄNDE IN KLEINSTADT – FERRIMAN ÜBER »IST STERBEN EINE STERBENDE KUNST?« Sie drängte Harry weiter, ehe er sich einen Printout kaufen konnte. Sie zog es vor, daß er von seinem Reichtum erst später erfuhr, wenn er getröstet werden mußte, nachdem seine Tasmanien-Reise gestrichen worden war.
Fast sofort wurden sie von Reportern aufgespürt. Sie ging weiter. Harry, der außer Atem war, aber Spaß an der Szene hatte, gab im Laufen ein Interview. All das Gerede wird ihm fehlen, dachte sie, wenn um vier Uhr die NTV-Exklusivität in Kraft tritt.
Vor dem Modeladen zogen sich vorschriftsmäßig die Reporter zurück; Harry wurde mitten im Satz unterbrochen. Katherine plazierte ihn entschlossen auf einen zerbrechlich wirkenden Goldstuhl, während sie ringsum Berge von Sommerkleidung von den Stangen nahm. Dann küßte sie ihn leicht auf die Stirn und tätschelte ihm zum Abschied kurz den Arm. Er blickte erfreut zu ihr auf und dachte an den Morgen. Sie entschwebte in eine der Umkleidekabinen.
Die drei Spiegel nahmen kurz ihre Aufmerksamkeit gefangen – Vincent Ferrimans wertvolle Ware, Dr. Masons Todespatientin, Peters Katie-Mo, die verdammte Plage ihres Vaters, Geralds Panzerkreuzer, Harrys neue, harte Kate, ihre eigene… Ihr eigener, schlimmster Feind? Sie lächelte, warf die Kleider auf einen Stuhl und verließ die Umkleidekabine.
Sie blieb hinter einer großen Vitrine stehen, lugte dann vorsichtig um die Ecke. Harry war kein Mr. Mathiesson. Er saß dort, wo sie ihn hingesetzt hatte, pflichtgemäß, die Beine übereinandergelegt, ließ den oberen Fuß auf- und niederwippen und schaute dabei zu. Er würde lange dort sitzenbleiben. Eine halbe Stunde, vielleicht sogar länger. Er war geduldig. Sie ging einer näher kommenden Verkäuferin aus dem Weg und verließ den Laden durch eine andere Tür. Kein anderer Abschied war möglich. Oder wünschenswert.
Sie winkte ein Taxi herbei, stieg ein und ließ sich zu einem Wohnblock in der Nähe des Heliports bringen. Zweifellos würde ihr Vincent später bis zum Heliport nachspüren, aber sie sah keinen Grund, ihm das Spiel leicht zu machen. Sie lehnte sich zurück, entspannte sich und beobachtete, wie Menschen und Wagen vorbeihuschten. Und war plötzlich festgelegt.
Verbrannte Brücken. Allein. Wirklich und im übertragenen Sinne allein.
Der Plan – nein, nicht einmal der Plan: der unmögliche Traum – dieser unmögliche Traum war nun Wirklichkeit. Ohne es zu merken, hatte sie sich vom Gestern gelöst, hatte sich in den Traum geworfen, hatte sich in eine Welt begeben, in der sie nur sie selbst war, in der sie nur ihr eigenes Wort hatte, daß sie existierte. Wenn sie sich nur hätte verabschieden können – von Harry, von Gerald, von ihrem Vater, Dr. Mason, Vincent, von irgend jemandem – wenn sie nur jemandem auf Wiedersehen hätte sagen können, dann wäre ihr Abgang weniger endgültig gewesen, ein weniger absoluter Einschnitt. Sie war allein und starb, und es gab niemanden, der das wußte. Keinen Menschen, der sie nicht auf irgendeine Weise als Besitz ansah, den man im Auge behalten und zu Geld machte, wenn der richtige Moment gekommen war. Das heißt, einen gab es – und sie fummelte am Schalter des Sprechgeräts herum: o Gott, wollten ihre Finger nun versagen? Es gab noch Peter!
»Computabuch«, sagte sie, als sie den Hebel schließlich herabdrückte. »Fahren Sie mich zu Computabuch. Und warten Sie dort.« Es würde nicht lange dauern. »Es wird nicht lange dauern. Würden Sie das bitte tun?«
Die Verzögerung, jede Verzögerung war Wahnsinn. Dies war ihre einzige Fluchtchance. Es waren ihre letzten Minuten, ehe die Kaufleute des Leids das Ruder an sich rissen. Bald würden sie ihr auf den Fersen sein. Aber sie mußte sich von jemandem verabschieden, damit es einen Menschen gab, der Bescheid wußte.
Das Computabuch-Gebäude war ruhig, leer, übers Wochenende geschlossen. Das Leben anderer Leute hatte noch seinen gewohnten Rhythmus. Sie machte eine kurze Panik durch, kannte sie doch Peters Privatanschrift nicht – aber dann fielen ihr die Telefonzellen ein. In Telefonzellen gab es Verzeichnisse.
Der Taxifahrer brachte sie zur nächsten Telefonzelle und fuhr sie dann weiter. Wie sie feststellte, wohnte Peter in einem Block, der genau wie ihr Block war, und in einer Wohnung, die genau ihrer Wohnung entsprach. Nur die Möbel waren anders, standen unbehaglich und frech vor den vertrauten Wänden. Offenbar war Peter im Bett gewesen, als sie klingelte. Das schockierte sie – im Bett, den Tag vergeudend, gegen Mittag? Aber er band seinen Morgenmantel zu und bat sie herein, hieß sie ohne Frage willkommen.
Sie folgte ihm ins Wohnzimmer, in ihr Wohnzimmer, das mit unpassenden Stühlen und der falschen Uhr vermasselt worden war. Auch der Anblick vom Fenster stimmte nicht. Sie hätte nicht kommen dürfen.
Eine Männerstimme rief etwas aus dem Schlafzimmer: »Wer ist denn da, Schatz?« Peter steckte den Kopf durch den Türspalt, und es folgte eine kurze, unverständliche Unterhaltung. Katherine wanderte im Zimmer herum und berührte all die schrecklichen Möbel. Als Peter zurückkehrte, kam sie sofort zur Sache. Sag es auf, dann kannst du wenigstens gehen.
»Ich haue ab. Wahrscheinlich werden Sie viel darüber in den Zeitungen lesen. Ich wollte, daß Sie Bescheid wissen.« Das war nicht gut formuliert, aber sie fand keine anderen Worte.
»Wie kann ich helfen?« fragte Peter.
Seine sanft gestellte Frage brachte sie zum Weinen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie weinte sonst nicht so leicht. »Ich wollte mich verabschieden. Das ist alles.
Und etwas erklären. Ich habe viel Geld angenommen. Die Zeitungen werden…«
»Sie brauchen mir nichts zu erklären. Sie stehen doch auf eigenen Füßen.«
»Das meine ich ja. Vielleicht stimmt das gar nicht. Vielleicht sollte ich das nicht tun.«
»Sie sterben. Das steht zwischen Ihnen und dieser Sache. Nicht viele Dinge, aber dieses doch.«
Es war, als wohnte er in ihrem Gewissen. Er sagte Dinge, die niemand sonst über die Lippen brachte. Und er fragte nicht, wohin sie wollte oder was sie vorhatte.
»Sie glauben also nicht, daß ich vor etwas fortlaufe?«
»Sie würden erst richtig fliehen, wenn Sie blieben. Denn das wäre eine Art Selbstmord.«
Sie nickte. »Sie wissen also, daß alles in Ordnung ist? Wenn die Zeitungen zu lamentieren anfangen, wissen Sie, daß ich weitermache? Sie wissen, daß ich dann irgendwo bin, daß es mir gutgeht, ja?«
»Ich hätte nie daran gezweifelt.«
Er legte die Arme um sie und tröstete sie. Er war so jung und kannte den Unterschied zwischen einer Handlungsschleife und einer Enthüllungsphase nicht. Seltsam: Gerald war so hetero gewesen, wie man sich das nur vorstellen konnte – dennoch erinnerte sie Peter an ihren ersten Mann. Aber sie und Gerald waren damals jung gewesen.
»Ich bin kein Panzerkreuzer«, sagte sie. »Ich glaube, das war ich nie.«
Er tätschelte sie und schob sie sanft von sich. »Und jetzt lassen wir das. Wenn wir lange so weitermachen, wird noch jemand eifersüchtig.« Er zog ein zerknülltes Taschentuch aus dem Morgenmantel und gab es ihr, damit sie sich das Gesicht abwischen konnte.
»Dann adieu.«
»Adieu, Katie-Mo.«
Als sie im Fahrstuhl nach unten fuhr, sah sie auf die Uhr. Die halbe Stunde, die sie Harry gegeben hatte, war längst vorbei. Wenn Harry ihr Verschwinden bemerkte und Vincent anrief, gab dieser sofort Generalalarm. Sie wünschte, sie hätte sich nicht ausgerechnet den Heliport ausgesucht – dort wimmelte es ständig von Polizisten. Sie gab den Versuch auf, ihre Spuren zu verwischen, und ließ sich von dem Taxi unmittelbar ans Ziel bringen. Je eher sie das Nötige tat und dort wieder verschwand, desto besser. Ihr fiel noch rechtzeitig ein, dem Fahrer zu sagen, daß sie die Zwölf-Uhrfünfundvierzig-Maschine nach Amsterdam erreichen wollte.
Vielleicht gab es so einen Flug sogar.
Das Taxi setzte sie am Haupteingang ab. Rings um die Markise bildete der Nieselregen einen dichten, grauen Vorhang. Während sie in ihrer Handtasche nach dem Fahrgeld kramte, hatte sie das Gefühl, sich ausgesprochen verdächtig zu machen. Der Taxameter zeigte einen großen Betrag an, und sie hatte kaum genug Geld dabei. Sie leerte die Tasche bis auf die letzte Münze und gab ihm alles. Das Trinkgeld war ziemlich hoch – als letzter Taxifahrer ihres Lebens hatte er sich das verdient. Sie verließ ja nun die Welt des Geldes.
Er nahm mürrisch das Geld. »Ich hoffe, die NTV weiß, wo Sie sind, Mrs. Mortenhoe.«
»Natürlich.« Sie lächelte ihn an. Er hatte bis jetzt kein Wort gesagt. Vielleicht war er ein Spion von Vincent. »Ich bleibe ja nicht dort. Ich will mir nur ein paar Zwiebeln kaufen – hübsche Narzissen in kleinen Töpfen.«
»Amsterdam gefällt Ihnen bestimmt nicht«, sagte er und gab Richtungszeichen. »Es ist voller Amerikaner.«
Sie lachte mehr, als es der Witz verdiente, falls es ein Witz war, und sah ihm nach. Sie kam zu dem Schluß, daß er kein Spion war, sondern ein Angehöriger ihrer Öffentlichkeit, der eifersüchtig über seine Rechte wachte.
Auch am Eingang zum Heliport wurde sie erkannt.
»Brauchen Sie Hilfe, Mrs. Mortenhoe?« Zwei freundliche Polizisten standen vor ihr, ehe sie die Flucht ergreifen, ehe sie überhaupt Angst empfinden konnte. Sie tischte ihnen die Amsterdam-Story auf, die sie glaubten. »Aber dort regnet es bestimmt auch, Mrs. Mortenhoe.« Ihre Funkgeräte konnten sie jederzeit verraten. »Also, Madam, die Ticketschalter sind da drüben. Sie brauchen’s nur zu sagen, wenn Sie Hilfe brauchen.«
Sie dankte den beiden und brachte es fertig, in die angegebene Richtung zu gehen und nicht zu laufen. Sie drehte erst ab, als sie sicher war, daß sie in der Menge nicht mehr zu sehen war. An der Wand der Gepäckaufbewahrung befand sich ein Schild. Darauf stand etwas, das sie hätte wissen müssen, das ihr eigentlich auch bekannt war: Bei Abholung von Gepäck ist ein 50-p-Stück in den Schlitz zu stecken.
Sie hatte kein 50-p-Stück. Sie hatte sich fünf Minuten zu früh in symbolische Armut gestürzt.
Ihrem ersten, verrückten Impuls folgend, wollte sie dem Taxifahrer nachrennen und ihr Geld zurückverlangen – das Trinkgeld, das er in seiner Knurrigkeit nicht verdient hatte. Dann riß sie sich zusammen und begann zu überlegen, was sie Verkaufenswertes bei sich hatte – nichts, was sich hier auf dem Heliport anbieten ließ, nicht einmal ihren guten, alten Körper. Also schön, wenn man dringend Geld brauchte und die Banken übers Wochenende geschlossen waren und man nichts zu verkaufen hatte… Ja, dann bettelte oder borgte oder stahl man sich etwas zusammen. Sie kam sehr schnell zu dem Schluß, daß von den drei Möglichkeiten die letzte sie am wenigsten belasten würde.
Etwa eine Viertelstunde lang wanderte sie ziellos im Heliport herum, auf der Suche nach einer offenstehenden Tasche oder einem Gepäckstück, das sie klauen konnte. Dann begann sie Kaffeeautomaten zu bearbeiten, in der Hoffnung, einige Münzen herauszuholen. Die Situation entwickelte sich schnell zur Farce. Innerlich brüllte sie schon vor Lachen. Brüllte vor Gelächter!
Schließlich tat sie etwas, was sie einmal eine Frau hatte machen sehen, zu überrascht, um einzugreifen. Kurz entschlossen eilte sie in den nächsten Laden. Nahm offen ein Paket Strümpfe aus einem Fach und ging damit zum umlagertsten Tisch. Verzweifelte Situationen erforderten verzweifelte Maßnahmen.
»Entschuldigen Sie«, sagte sie großartig. »Ich habe die Strümpfe vor etwa zehn Minuten hier gekauft, und…«
»Nicht bei mir.«
Das Gesicht auf der anderen Seite der Theke war rattenspitz. »Nein, bei einem der anderen Mädchen. Als ich mir die Strümpfe draußen ansah, war’s doch die falsche Farbe.«
»Wo ist denn Ihr Bon?«
»O je!« Sie tat nervös. »Hätte ich den aufheben sollen?«
»O ja.«
Sie hatte das Rattengesicht nicht verdient. Eine nette, mütterliche Frau hätte dort stehen sollen, die ihr das Geld gab, ohne Schwierigkeiten zu machen. So war’s jedenfalls das andere Mal gewesen.
»Ich fürchte, den Bon habe ich in eine Abfalltonne geworfen. Ich könnte natürlich versuchen, das Ding auszugraben…«
»Ja, könnten Sie.«
Das Rattengesicht musterte Katherine – ihre Kleidung, ihre schöne, teure Handtasche – ein Verlobungsgeschenk von Harry –, ihr Gesicht. Beim Anblick des Gesichts verkrampften sich die spitzen Züge. »Dann geben Sie mal her.«
Die Strümpfe wurden ihr aus der Hand gerissen. »Wir dürfen doch nicht zulassen, daß sich die verdammt feine Mrs. Mortenhoe ihre verdammt feinen Hände im Abfall schmutzig macht, nicht wahr?«
»Eins achtundzwanzig haben sie gekostet«, sagte Katherine ruhig. Sie war eine Diebin. Sie gedachte Vincent hereinzulegen. Sie wollte betrügen. Da mußte sie mit Demütigungen rechnen.
Im Gepäckraum lehnte sich Katherine gegen ihr Fach und zählte die harten, runden Münzen in der Hand. Eins achtundzwanzig. Die Szene hatte sich gelohnt. War wichtig. Sie hatte sich noch nie so reich gefühlt. Sie löste ihren Schlafsackbeutel aus und hatte noch immer achtundsiebzig Pence. Und nach dem Schlitz der Toilettenkabine hatte sie noch dreiundsiebzig. Sie war reich.
Es war unbequem, sich in der Enge umzuziehen. Links und rechts von ihr kamen Frauen, spülten und gingen wieder. Sie hatte schon manchmal solch unheimlich geschlossene Kabinentüren gesehen und unerklärliche Geräusche gehört und sich unbequeme lesbische Szenen vorgestellt. Jetzt wußte sie endlich, was da wirklich vorgegangen war. Hinter den geschlossenen Türen hatten Frauen ihr altes Leben ausgezogen und ungeschickt das neue angelegt.
Der Unterrock paßte ziemlich gut, doch der Umhang war viel zu lang, so daß sie ihn an der Hüfte hochziehen und über den geflochtenen Haargürtel drapieren mußte. Das Halsband sah eigentlich ganz hübsch aus. Sie fragte sich, ob Frauen aus den Randgruppen wirklich Höschen und Büstenhalter trugen.
Aber das war sicher egal: es war unter ihrer lächerlichen Aufmachung nicht zu sehen, und sie fühlte sich geborgener. Sie entdeckte, daß sie Peters Taschentuch mitgenommen hatte, und wischte damit ihr Make-up fort, wonach ihr Gesicht passend verschmutzt und fettig aussah. Dann faltete sie ihre Katherine-Mortenhoe-Sachen zusammen und steckte sie mit Handtasche und Schuhen in den Schlafsack. Sie hätte das Zeug gern fortgeworfen und damit auch jede Erinnerung an ihr altes Ich, aber es war sinnlos, Vincents Männern einen Hinweis zu geben, daß sie nun verändert, reformiert war. Sie wollte die Kleidung später fortwerfen – an einer Stelle, wo sie nicht so leicht zu finden war.
Sie versuchte in den Holzpantinen zu gehen; zwei winzige Schritte vorwärts und zwei zurück. Die dicken Socken verhinderten, daß ihr das Holz von den Schuhen rutschte. Sie glaubte, daß sie es schaffen würde. Sie fuhr mit den Armen in die riesige Soldatenjacke, legte Motorradbrille und Südwester an und war bereit.
Sie war eine Ausgeflippte, eine torkelnde Groteske. Die Kabinentür zu öffnen und der Welt gegenüberzutreten, erforderte mehr Mut als alles andere an diesem muterfordernden Tag. Sie war widerlich. Wenn sie schon nicht verhaftet wurde, weil sie als Katherine Mortenhoe einen Dreihunderttausend-Pfund-Vertrag gebrochen hatte, dann bestimmt als Gefahr für die öffentliche Gesundheit und Moral… Sie redete sich ein, daß das unbegründet war, dachte an die Randgruppen in der Stadt, an die verrückten, egozentrischen Typen, die je nach Erziehung angestarrt oder nicht angestarrt wurden, mit denen man aber unter keinen Umständen reden durfte. Sogar die Polizei, die diese Leute irgendwie als Sprengstoff ansah, als könnten sie jeden Moment in die Luft gehen, zog es vor, nach Möglichkeit auf die andere Straßenseite zu gehen.
Katherine machte also einen tiefen Atemzug, öffnete die Toilettentür, nahm ihren Schlafsack zur Hand und wanderte los. Sie war frei. Frei von Harry, frei von Vincent, frei von Dr. Mason, frei von allen Menschen außer sich selbst. Und auch frei, nun diese verbliebene Bindung zu erkunden.
Auf ihrem Weg durch den Heliport, ungeschickt auf den Holzschuhen daherklappernd, ging sie auf die beiden Polizisten zu, die so freundlich zu ihr gewesen waren. Sie schlurfte langsam an ihnen vorbei. Der eine blickte starr in die andere Richtung. Der andere wirbelte seinen Schlagstock – spielerisch, beruhigend. Ihr kam zu Bewußtsein, daß die beiden nun stellvertretend waren für ihr früheres, normales Ich. Beide versuchten unbewußt und auf ihre Weise den bösen Blick abzuwehren.
Als Harry anrief, um Vincent zu sagen, daß seine Frau durchgebrannt sei, saß ich in Ferrimans Büro. Wir waren eben erst von der Polizeiwache zurückgekommen, und ich war nicht gerade fröhlich. Die Kautionserstellung hatte sehr lange gedauert, und wir hatten unzählige Formulare in dreifacher Ausfertigung ausfüllen müssen. Selbst wenn ich unschuldig gewesen wäre wie ein neugeborenes Lamm, hätte meine Laune nicht schlechter sein können – nicht nach dieser Prozedur. So verdammt höflich, jeder einzelne.
Harry war ziemlich außer sich. Obwohl ich auf der anderen Seite des Tisches saß, konnte ich jedes Wort verstehen. Vincent lächelte mich und Harry an und nahm den Hörer auf Abstand, damit ich auch das Gefühl hatte, dazuzugehören.
»… und jetzt ist sie verschwunden. Kein Gepäck, nichts. Einfach verschwunden.«
»Hat sie ihre Handtasche mit?«
»Ich nehme an. Ja – natürlich hat sie ihre Handtasche mit.«
»Dann brauchen wir uns keine Sorgen zu machen, nicht?«
Ja, Vincent wußte, worauf es ankam. Eine längere Pause trat ein, lang genug, daß er sich eine seiner Zigarren zurechtschneiden und anzünden konnte. Eine Pause, in der Harry laut atmete und sich hörbar in Fahrt brachte.
»Ich – weiß nicht, was Sie jetzt von uns – von ihr – denken müssen. Ich meine, immerhin hat sie einen Vertrag unterschrieben, und jetzt…«
»Und Sie auch, Harry. Sie haben auch einen Vertrag unterschrieben.«
»Ich habe mich daran gehalten. Ich habe meinen Teil des Vertrages erfüllt. Ich würde Sie ja jetzt nicht anrufen, wenn ich nicht…«
»Sie machen sich Sorgen wegen all des Geldes, Harry. Natürlich machen Sie sich Sorgen.« Vincents Stimme klang so freundlich und sanft und verständnisvoll.
»Ganz und gar nicht. Ich mache mir Sorgen um meine Frau.«
Ich hatte schon angenommen, daß mir Harry nicht liegen würde. Jetzt war ich sicher, daß ich ihn nicht mochte. Vincent dagegen liebte ihn jede Sekunde mehr. Je mehr die Menschen versagten, desto mehr liebte er sie. Er liebte sie, weil sie seine Meinung über sie bestätigten. Und er war mein Boss. Ich arbeitete für ihn. Ich arbeitete freiwillig für ihn.
»Wir kümmern uns um Ihre Frau, Harry. Sie brauchen sich keine Gedanken zu machen. Und wir sorgen dafür, daß sie sich an den Vertrag hält.«
»Muß das über die Polizei laufen?«
»Wer hat etwas von Polizei gesagt?«
»Na ja, sie hat immerhin das Gesetz übertreten, nicht?«
»Ich verstehe Ihre Sorge um sie, Harry.« Seinen Zorn auf sie. »Hören Sie, alter Knabe, den Vertrag gebrochen hat sie erst um vier. Und danach brauchten wir einen Gerichtsbefehl, eine Verfügung oder wer weiß was, ehe wir uns an die Polizei wenden können. Sie brauchen sich also keine Sorgen zu machen.«
»Danke, Vincent, vielen Dank.«
Wieder atmete er schwer. Die Frage, die ihm wirklich wichtig war, konnte er nun nicht mehr stellen. Vincent versuchte, das erste Stück Asche von seiner Zigarre zu klopfen, brachte das aber nicht fertig. Er runzelte die Stirn.
»Harry? Sind Sie noch da?«
»Ich…« Natürlich war er noch da.
»Nett von Ihnen, daß Sie angerufen haben, Harry. Wir behalten die Sache für uns, ja? Bis ich mir überlegt habe, was wir tun sollen.«
»Natürlich. Aber wie wollen Sie…?«
»Alter Knabe, überlassen Sie das mir. Und… Harry, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Sie haben absolut keinen Grund, sich Sorgen zu machen.«
Er legte auf. Wenn Harry sich vorher keine Gedanken gemacht hatte, dann war er jetzt bestimmt besorgt. Vincent lehnte sich in seinen Sessel zurück und starrte an die Decke. Katherine Mortenhoe war abgesprungen, hatte sich außerhalb des Gesetzes gestellt. Das arme, verdrehte Ding hätte es besser wissen müssen. Männer wie Vincent und Firmen wie die NTV lassen sich nicht so einfach hereinlegen.
»Dank der verdammten Demonstranten«, sagte Vincent, »kennt sie dich noch gar nicht. Du kannst dich ihr als Fremder nähern. Als Freund… Die Chance deiner Karriere.«
Er sagte das bewußt knurrig. Wollte mir wohl Auftrieb geben.
Als ich die Kirche am Coronation Square erreichte, war es schon spät, und ich war froh, daß mich mein abgetragener Anorak vor der Kälte des feuchten grauen Abends schützte. Jeans und Rucksack gehörten mir, ebenso wie die beiden alten Gartenpullover aus meiner Zeit mit Tracey, doch der Anorak war Vincents Einfall gewesen. Eine Assistentin hatte sich das Stück in der Kostümabteilung ausgeborgt. Es gab die Dinger dort in allen Größen und Farben und Zustandsformen, und ich hatte dafür in ihrem kleinen Buch quittieren müssen.
Ich meldete mich in der Sakristei der Kirche – der Vikar winkte mich weiter und machte ein Zeichen auf einer Tafel – und folgte den Pfeilen zum Schlafraum. Hier brannten schon die Lampen, gelbe Birnen unter dünnen Schirmen an langen Schnüren. Ich entdeckte Katherine Mortenhoe sofort. Sie saß auf ihrem Bett, isoliert vom tonlosen Murmeln der anderen, isoliert durch ihre Probleme. Für die anderen existierte sie nicht. Dies war keine Randkommune; wenn man hier Probleme hatte, kannte einen niemand. Jeder behielt seine Sorgen für sich. Man nährte seinen Kummer und wurde durch ihn genährt, sonst wären diese Leute nicht hier gewesen. Es war allgemein bekannt, daß sich Vikar Pemberton um jene kümmerte, die von keiner Regierungsorganisation aufgenommen wurden.
Auch andere Frauen waren anwesend, aber nicht einmal sie achteten auf Katherine Mortenhoe. Sie saßen da, in ihre vielen Mantelschichten gehüllt, und verschnürten oder öffneten ihre zahlreichen Papierpakete und ignorierten Katherine Mortenhoe, übersahen ihre Probleme.
Delirium tremens, hätte man meinen können, Methylalkohol, reiner Alkohol, Putzmittel – egal was, sie schien es offenbar getrunken zu haben. Sie hatte das schlimmste Zittern, das diese ehrenwerte Gesellschaft von Zitterern jemals gesehen hatte. Also gingen alle auf Abstand. Gelebt und leben lassen. Gestorben und sterben lassen.
Ich wählte ein Bett, das vier Betten von ihr entfernt war, setzte mich und zog meine Stiefel aus. Wenn ich wütend auf sie war, dann nur deshalb, weil sie ihr Spielchen mit uns gewagt hatte und nun verlor. Wenn ich auf mich wütend war, dann nur deshalb, weil mir die Nacht in der Polizeizelle so an die Nieren gegangen war. Es war bestimmt besser, wenn ich die Schuldgefühle beiseite ließ und mich auf meine Arbeit konzentrierte. Immerhin war ich Reporter. Und es gab die Möglichkeit, daß ich ihr tatsächlich helfen konnte.
Wenigstens jammerte und wehklagte sie nicht. Ihr Zittern war diskret. Ich beobachtete sie in Großaufnahme. Niemand würde überrascht sein, wenn ich zu ihr ging und sie ansprach. Obwohl ich nicht wie sie gekleidet war und nicht als Angehöriger der Randgruppe gelten konnte, gehörten wir beide offenkundig nicht zum harten Kern der hiesigen Kirchenbesucher. Eher waren wir Durchreisende auf dem Weg vom Irgendwo ins Irgendwo. Niemand wäre also überrascht, wenn wir uns irgendwie zusammentäten… Zuerst brauchte ich jedoch einige Orientierungsaufnahmen. Etwas für die Anfangssequenz. Und was ich von ihr hinter der Motorradbrille erkennen konnte, sah gar nicht so schlimm aus. Sie machte gerade einen von Dr. Masons Schüttelfrösten durch und wartete auf das Ende des Anfalls. Ich sah sie sogar auf die Uhr blicken – methodische Katherine Mortenhoe!
Ich machte Aufnahmen im Schlafraum. Alte, doppelstöckige Armeeliegen, einfache Stühle, abgetretener Steinfußboden. Und Menschen. Menschen, die sich hereindrängten, die herumsaßen, husteten und sich kratzten und stöhnten. Solche Menschen. Ich war froh, daß wir nicht in Tasmanien ›drehten‹. Neben dieser Art von sozialem Realismus war Tasmanien die reinste Kulisse. Das Kirchenschiff enthielt die Eß- und Kochgelegenheiten, und ein Schild wies den Weg zu den WASCHUNGEN durch eine Tür hinter der Kanzel. Während hinter der Abschirmung der Altarraum dunkel und still dalag, von einer einsamen, roten Flamme erhellt, ein winziger Funke des Rätsels in dieser so unrätselhaften Welt.
Ein winziger Funke des Rätsels – das war ein guter Satz, den ich an Vincent weitergeben mußte. Ich merkte mir vor, ihn später durchzugeben. Ich konnte doch kaum im vollen Schlafraum auf meinem Bett sitzen und ins Leere Fernsehkonversation machen. Hoffentlich gaben mir die Waschräume etwas Abgeschiedenheit.
Heiße Luft strömte durch die Gitter im Boden und ließ den Raum nach Schweiß und billigem Essen und angesengtem Staub riechen. Hoch über uns waren die mittelalterlichen Gewölbe in einem letzten Aufbegehren von Größe bemalt und vergoldet worden – doch es waren die Gitter, an denen wir uns Hände und Herzen erwärmten. Auch sprachen wir leise, damit das Echo unserer Stimmen nicht aufgegriffen würde und uns den gleichgültigen Steinen offenbarte…
Als Katherine Mortenhoe von ihrem Bett fiel, schaute ich gerade nicht in ihre Richtung, aber das leise Geräusch, das sie hervorrief, und die Kettenreaktion der Stille, die nun eintrat, erregten sofort meine Aufmerksamkeit. Zum Bett zurückzuschwenken und es plötzlich leer zu finden, war aufnahmetechnisch auch viel interessanter. Ich stand auf und ging aufbestrumpften Füßen zu ihr. Ihr Schüttelfrost schien nachgelassen zu haben. Offenbar war sie bereits am zweiten Ziel von Dr. Masons Pauschalreise angekommen.