MONTAG
Als Monitortechniker Dawlish endlich zu Vincent durchdrang, trug dieser bereits seinen Morgenmantel und schenkte sich den letzten Brandy ein; er wollte zu Bett gehen. Vincent hatte einen anstrengenden Sonntag mit Roddies Aufnahmen hinter sich, die er für die Abendsendung zu rechtgeschnitten hatte. Da ihnen nur dreißig Minuten Sendezeit zur Verfügung stand – siebenundzwanzig abzüglich der Werbung –, war noch viel gutes Material vorhanden, das eventuelle spätere Lücken schließen konnte.
Nach Meldung der Telefonzentrale war die Sendung gemischt aufgenommen worden. Das bereitete ihm keine Sorgen – die Reaktion auf Novitäten war immer vorsichtig. Die Leute würden sich die Sendung morgen wieder ansehen – und so weiter. In diesem Stadium verlangte er nicht mehr. Natürlich hatte auch Harry angerufen und mitgeteilt, wie sehr er sich freue, daß alles glatt lief. Seiner Meinung nach sehe Katherine überraschend gut aus.
Vincent hatte die Sendung allein verfolgt und sich dann mit einem Fläschchen entspannt, ehe er früh zu Bett ging. Er hatte zwar eine Frau, aber sie kamen selten zusammen. Die meiste Zeit wohnte er in einer Zimmerflucht im Obergeschoß des NTV-Gebäudes.
Er hörte sich an, was Dawlish zu sagen hatte, dankte ihm für die Unterrichtung – er behandelte seine Untergebenen immer gut – und sagte, er würde sofort hinunterkommen. Er brauchte auch wirklich nur zehn Minuten, bis er den Monitorraum betrat. Zunächst hatte er sich noch rasiert und ein sauberes Hemd und eine flotte, karierte Krawatte angelegt. Probleme sahen gleich besser aus, wenn man selbst nicht zu heruntergekommen wirkte.
»… Rod. Ich habe ein Eigenbewußtsein. Ich begreife, was ich weiß, was ich weiß, was ich begreife.«
Und auf dem Schirm Katherine Mortenhoe mit ihrer lächerlichen Motorradbrille.
»Was soll das bedeuten? He?«
Der wachhabende Techniker seufzte. »Sieht aus, als wäre sie übergeschnappt, Sir.«
Vincent starrte auf den Schirm und wünschte sich, Roddie würde ihm eine Halbtotale geben, eine Vorstellung davon, was da vorging. »Wie lange sind sie schon in Rondavels Haus?«
»Etwa seit sieben Uhr, Sir.«
»Warum bin ich nicht eher verständigt worden?«
Roddies Stimme: »Lauter? Wenn Sie lauter sagen, meinen Sie dann in Wirklichkeit ›schneller‹?«
»Na? Drehen Sie das verdammte Ding schon leiser! Warum bin ich nicht eher verständigt worden?«
»Ich… Ich habe meinen Dienst eben erst angefangen, Sir. Mr. Simpson hat wahrscheinlich angenommen…«
»Ich verstehe. Sie sind Dawlish, nicht wahr?«
Der Mann nickte, strich sich über seinen weißen Kittel vor Freude, daß er erkannt worden war.
»Also, Dawlish, ich bin froh, daß wenigstens einer in der Abteilung seinen Grips einsetzt. Was ist da passiert?«
»Eine ganze Menge, Sir, kann man wohl sagen. Ich habe mir die Bänder noch einmal vorgespielt. Ziemlich heiße Sache.«
»Der Vorsitzende ist kein Engel, Dawlish. Das wissen wir alle. Und ich bin sicher, ich kann mich auf Ihre Diskretion verlassen.«
»Natürlich, Mr. Ferriman.«
Auf dem Schirm schien Katherine Mortenhoe zu schlafen. Das Bild schwenkte zur Seite, zeigte ein gewaltiges Dolce-Vita-Dekor, dem Vincent nichts abgewinnen konnte. Ein Szenenbildner hatte ihm einmal genau das gleiche gemacht, für ein Fernsehstück. Er fragte sich, ob der Vorsitzende das wußte.
Das Bild kehrte zu Katherine zurück, verweilte auf ihrem Gesicht, als sie etwas sagte. Offenbar waren die beiden allein.
»Am Telefon haben Sie gemeint, die beiden sind nicht erkannt worden, Dawlish. Sind Sie sicher?«
»Es gibt da einen Abschnitt, Sir, wo der Vorsitzende eine Art Schau wünscht. Er will sehen, wie Randgruppenleute – äh – kopulieren. Deshalb nehme ich an, daß sie nicht erkannt worden sind, Mr. Ferriman.«
»Sagen Sie mal, Dawlish, weiß Ihre Frau, was für Sachen Sie hier zu sehen bekommen?« Dawlish lächelte – von Mann zu Mann. »Also gut. Am besten sehe ich mir die Geschichte von vorn an. Und während das Band läuft, sagen Sie doch der Zentrale Bescheid, sie soll Doktor Mason verständigen. Mason – seine Nummer muß vorliegen. Er soll sofort herüberkommen. Ich brauche seinen Rat.«
Dawlish wärmte einen anderen Monitor vor. Darauf beobachtete Vincent eine vergangene Katherine Mortenhoe – die Wagenfahrt, die Garage, der Fahrstuhl, das Bad –, während sich neben ihr auf dem ersten Schirm die gegenwärtige Katherine Mortenhoe durch ihre traurigen Leiden zuckte und dann schlief, während Mitternacht kam und ging.
Dr. Mason war nicht gerade guter Laune. Er und seine Kleidung sahen aus, als seien sie lange nicht mehr zur Ruhe gekommen. Wahrscheinlich seit dem letzten Dienstag nicht mehr. Er trat ein, setzte sich, starrte auf die Schirme; schmerzhaft, synthetisch wach. Vincent ahnte Schwierigkeiten voraus.
»Ah, Mason, warum haben Sie so lange gebraucht? Wir haben hier ein Trauma. Sex und alles. Ich führ’s Ihnen noch mal vor.«
Mason hob lauschend einen Finger. Die vergangene Katherine Mortenhoe sprach von Computern. Er runzelte die Stirn, blickte von Monitor zu Monitor, erriet, wie die beiden Bilder zusammengehörten. »… lauter und lauter, bis etwas durchbrennt.«
»In ihrem Gehirn ist etwas durchgebrannt«, sagte Vincent. Dr. Mason griff nach einem Notizquadrat, begann sich Aufzeichnungen zu machen.
»Ich bin ein bißchen mehr als ein Computer, Rod. Ich habe ein Eigenbewußtsein. Ich begreife, was ich weiß, was ich weiß, was ich begreife.«
»Sinnloses Gerede«, sagte Vincent. Dr. Mason brachte ihn zum Schweigen.
»Aber Sie sterben nicht daran. Im Gegensatz zu mir. Und man hat mir gesagt, worauf ich mich gefaßt machen muß. Lauter und lauter, bis etwas durchbrennt.«
»Lauter? Wenn Sie lauter sagen, meinen Sie dann in Wirklichkeit ›schneller‹?«
»Sinnloses Gewäsch«, sagte Vincent. »Ich führe Ihnen die Sache vor – Sie sollen sehen, wie es dazu gekommen ist.«
Dr. Mason schüttelte den Kopf. »Kein sinnloses Gewäsch. Sie drückt sich verschlüsselt aus, weil das sicherer für sie ist. Und Ihr Mitarbeiter geht darauf ein. Klausen würde sich sehr freuen.«
»Aber ich will Ihnen die Vorgeschichte zeigen.«
»Brauchen Sie nicht. Offenbar geht mein Computerunsinn mit ihr durch. Wir müssen die beiden zurückrufen, ehe es zu spät ist.«
Die vergangene Katherine Mortenhoe rührte sich und öffnete die Augen. »Rod? Was für eine Privatschau haben Sie verweigert, Rod?«
»Sie zurückrufen? Sie machen Witze!«
»Wenn Sie’s nicht tun, lehne ich jede Verantwortung ab.«
»Tun Sie nicht melodramatisch. Wir beide wissen, daß absolut nichts mit ihr los ist.«
Mason stöhnte, beugte sich vor, schaltete mit heftiger Bewegung den Monitor ab, bedeckte seine Augen. »Sie brauchte etwas, das sie verstehen konnte, mit dem sie empfinden konnte. Gott steh mir bei, ich selbst hab’s ihr gegeben.«
»Na, gut. Sie haben das also getan. Das heißt nicht, daß wir auch wirklich…«
»Sie müssen die beiden zurückholen.« Er umklammerte Vincents Arm. »Verstehen Sie denn nicht? Das Syndrom lag auf der Hand, und ich hab’s benutzt. Aber die Computeranalogie war zu dicht an der Wahrheit. Vielleicht auch die Aufwühlung. Wir haben mit dem Feuer gespielt. Wenn wir sie nicht zurückrufen, wird sie sterben, ganz bestimmt.«
»Dann ist bei ihr also wirklich eine Schraube locker.«
»Sie ist beeinflußbar. Hysterisch, wenn Sie so wollen. Das ist doch einer der Gründe, warum wir sie ausgewählt haben. Aber verrückt ist sie nicht.«
Vincent befreite sich von der Hand des Arztes und zog langsam eine seiner Zigarren heraus. Obwohl er damit seine tägliche Ration überschritt, zündete er sie an. Er stand über solchen Dingen.
»Mein lieber Mann, dieses Unternehmen hat Geld gekostet. Auch Ihr Honorar war keine Kleinigkeit. Und jetzt sagen Sie so einfach, wir sollen sie zurückrufen.«
»Ich bin eine verlorene Seele. Und ich sage, holen Sie sie zurück.«
Vincent legte anmutig den Kopf schief. »Es ist spät, mein Lieber, und Sie sind erregt. Außerdem vergessen Sie eins – das da draußen ist die beste Forschungsmöglichkeit, die sich Ihnen je bieten wird.«
Er deutete auf die gegenwärtige Katherine Mortenhoe, die leise im Schlaf wimmerte. Dr. Masons Zähne schienen zu klappern. »Das haben Sie mir gesagt. Sie haben mir auch versichert, daß wir sie keinesfalls sterben lassen würden.«
»Richtig. Ein überraschendes Ende. Eine Wunderheilung.«
»Geld auf der Bank, Mr. Ferriman. Nichts anderes.«
Vincent starrte nachdenklich auf die schlafende Katherine Mortenhoe. Er hatte einige Argumente parat. Mea culpa war zwar ganz schön, aber der Arzt war im voraus bezahlt worden; sein eigener Ertrag dagegen hing von den Einschaltquoten der Sendung und vom Fortlauf der Serie ab. Andererseits stand auch künstlerisches Ansehen auf dem Spiel – seins und das des armen Roddie. Außerdem war es leicht, alle Verantwortung abzulehnen: Noch gab es keine entscheidenden Schritte, die Mason unternehmen konnte, ohne seinen höchst unmoralischen Anteil an den Vorgängen zu offenbaren. Und Mason war entschieden kein Kämpfer. Es sei denn… Vincent sah den anderen von der Seite an. In seinem jetzigen Zustand war der gute Doktor vielleicht sogar eines solchen Schrittes fähig. Aber er würde es nicht wollen und ging bestimmt auf einen bequemen Kompromiß ein.
»Wie lange hat sie Ihrer Meinung nach noch?« fragte Vincent sehr sanft.
»Das läßt sich unmöglich sagen. Schneeballeffekt. Sie glaubt, der Effekt dreht sie nun durch die Mangel – und dann wird das natürlich auch wahr.«
»Heute? Morgen? Bestimmt doch länger?«
»Wahrscheinlich.«
»Dann machen wir folgendes. Sie ziehen hier ein und behalten die Dinge im Auge. Ich sage Dawlish, er soll Sie voll unterstützen. Wir halten auf Abruf einen Helikopter bereit, und sobald Sie annehmen, daß sie ernsthaft in Gefahr ist, sausen wir rüber. Fliegender Arzt, Rettung in letzter Sekunde, tolle Story. Was sagen Sie dazu?«
Dr. Mason schwieg. Vincent kannte sein Gegenüber, erkannte Zustimmung, Kapitulation, Widerwillen vor sich selbst. Kämpfer waren eine aussterbende Rasse.
Katherine Mortenhoe war plötzlich nicht mehr auf dem Schirm. Die Kamera befand sich in Bewegung. Undeutlich erkennbare, teure Möbel huschten vorbei, eine aufschwingende Tür, ein heller Korridor. »Was geht da vor?« fragte Dr. Mason.
Vincent freute sich über die Ablenkung. »Roddie hat sie schlafen lassen. Wahrscheinlich muß er mal pinkeln.«
»Müssen wir dabei zusehen?«
»Sagen Sie bloß nicht, Sie sind prüde, Doktor.«
Das Bild fuhr auf einen Liftknopf zu, ein Daumen, aufgleitende Türen, ein Schaltbrett mit Knöpfen, die längere, beständige Nahaufnahme einer Nußbaumholzwand. Dann die Türen, die wieder aufgingen, ein anderer heller Flur, ein mehrfaches Spiegelbild, wie Roddie vorbeiging, stehenblieb und sich offenbar ungläubig anstarrte. Weiter den Korridor entlang. Türgriffe ausprobierend, in Schlafzimmer schauend.
»Er ist offenbar allein«, sagte Dr. Mason. »Warum sagt er uns nicht, was er da macht?«
»Wir haben verabredet, daß das selten das Risiko lohnt. Außerdem ist es nach ein Uhr. Er rechnet doch kaum damit, daß außer dem Techniker noch jemand am Schirm sitzt.«
Auf dem Bild nun das Schlafzimmer einer Frau, zerbrechliche Möbel, das Hochreißen von Bettwäsche, das Öffnen und Schließen von Schubladen.
»Mr. Ferriman, eine Dame möchte Sie sprechen.«
»Eine Dame? Um diese Zeit? Wer hat sie raufgelassen?«
»Sie ist Mr. Rodericks Frau, Sir. Seine geschiedene Frau.«
»Tracey…? Gut, ich komme.« Er ließ Dr. Mason vor dem Schirm zurück, der fasziniert die Durchsuchung des Schlafzimmers verfolgte. Das war eben Fernsehen, da kam man schnell auf andere Gedanken.
Dawlish hatte Tracey in ein Konferenzzimmer geführt. Obwohl sie noch nicht lange gewartet haben konnte, lagen bereits zwei hastig ausgedrückte Zigaretten im Aschenbecher. Sie zündete sich gerade die dritte an, als Vincent eintrat.
»Ich habe versucht, Sie anzurufen, aber man hat mich nicht verbunden. Da bin ich selbst gekommen.«
»Die Leute haben ihre Anweisungen, Anrufe von draußen werden…«
»Ich hätte etwas anderes erwartet.«
Er breitete entschuldigend die Hände aus und fragte sich, warum es manchen geschiedenen Frauen so schwerfiel, die Vergangenheit abzuschütteln. »Sie haben die Sendung gesehen?« fragte er.
»Ich habe die Sendung gesehen.«
Sie starrte ihn durch den Zigarettenrauch an, und er lächelte ermutigend. Wenn er sich nicht irrte, bekam er jetzt mitgeteilt, daß Roddie, bevor er Vincent Ferriman kennenlernte, ein empfindsamer, anständiger Mensch gewesen war.
»Sie wissen doch, daß Roddie ein empfindsamer, anständiger Mensch war, ehe er Sie kennenlernte!«
»Tracey, meine Liebe, das haben wir doch schon öfter durchgekaut.«
»Und wir werden’s noch einmal durchkauen; nur noch einmal.«
»Es ist spät, Tracey. Könnten wir nicht…«
»Als ob ich nicht wüßte, daß es zu spät ist! Verdammt zu spät… Sie haben ihn vernichtet, Vincent. Sie haben ihn zerkaut, ihn wieder ausgespuckt, ihn vernichtet.«
»Sie haben ein Recht auf Ihre Privatmeinung. Ich glaube aber nicht, daß ich Ihnen zustimmen kann.«
»Vielleicht bildet er sich ein, er kämpft noch. Wußten Sie, daß er mich besucht hat?«
»Wir hatten eine Aufzeichnung davon.« Er fühlte sich schuldbewußt, daß er so grob zurückgeschlagen hatte. »Ich… Ich hab’s nicht gesehen. Und es war kein Ton dabei.«
»Das tut mir leid. Ich wünschte, Sie hätten sich’s angesehen, Sie hätten alles hören können. Dann hätten Sie ihn verstanden.«
»Sie haben sich über die neue Sendung aufgeregt.«
»Über die neue Sendung? Oder die neue Aufnahmetechnik? Die neue, wundersame, elektroneurologische Technik. Im Zeitalter des Fortschritts das Neueste und Größte. Der Mann mit den Fernsehaugen.«
Sie zitierte natürlich irgendeinen Werbetext – der Slogan war nicht gut, aber Vincent konnte ihn nicht abstreiten. »Hat er’s Ihnen nicht gesagt?«
»Verdammt, nein, er hat’s mir nicht gesagt. Er hat sich wohl zu sehr geschämt.«
Er stand auf. »Wir führen hier ein sinnloses und unschönes Gespräch. Wenn…«
»Haben Sie schon einmal überlegt, was ich seinem Sohn sagen soll? Daß sein Vater der Mann mit den Fernsehaugen ist? Der Mann, der sich mit Haut und Haar dem rechteckigen Monstrum verkauft hat?«
Heute war offenbar eine Nacht, in der ihn alle Leute mit ihrem Seelenkummer überschütteten. »Roddie zwei wächst in eine neue Welt hinein, Tracey, in der solche altmodischen Gefühle nichts mehr bedeuten.«
»Vielleicht haben Sie recht. Vielleicht werden Sie durch die Welt von Roddie zwei bestätigt. Eine Legende aus unserer Zeit, Vincent. Aber die einzige Person, der ein Voyeur wirklich weh tut, ist er selbst. Und natürlich den Menschen, die ihn lieben.«
Sie wandte heftig den Kopf zur Seite, zuckte die Achseln, zog intensiv an der Zigarette. Vincent wartete ab. »Es wird mich interessieren zu sehen«, sagte sie schließlich, »ob irgend jemand in dieser schlechten Welt für falsch hält, was Sie der Frau da antun.«
»Oh, von der Sorte gibt es viele. Im Augenblick steht es siebzig zu dreißig dagegen, sagt die Telefonzentrale. Aber das hält niemanden davon ab, weiter zuzusehen.«
Sie drückte ihre Zigarette aus und erhob sich ebenfalls. Ein hübsches, kleines Ding, dachte er. Sie gehörte aber nicht zu den Typen, deren Tränen väterliche Gefühle in ihm weckten. »Ich muß jetzt wieder nach Hause«, sagte sie. »Eine Nachbarin wartet auf mich.«
Sie riß sich zusammen, ging zur Tür und legte sich auf der kurzen Strecke zurecht, was sie noch zu sagen hatte. Dann drehte sie sich um. »Sie haben sich nicht verändert. Natürlich verachten Sie ihn. Sie verachten jeden. Das haben Sie immer getan. Und was ich Ihnen eigentlich wirklich sagen wollte…«
Hinter ihr platzte die Tür auf, und Dawlish stürzte herein. »Er fragt nach Ihnen, Mr. Ferriman. Er sagt, wir sollten Sie holen. Er bliebe in der Leitung.«
Vincent eilte durch den Konferenzsaal, bis ihm Tracey in den Weg trat. »Ich wollte Ihnen sagen«, fuhr sie fort, »daß ich immer da bin, um die Stücke wieder zusammenzukitten.« Aber da hatte er sich schon an ihr vorbeigedrückt, hatte nicht zugehört, hatte wichtigere Dinge im Kopf. »Wenn es überhaupt noch etwas zu kitten gibt!« rief sie ihm durch die wichtigen, die toten Korridore nach.
Und sah ihn verschwinden, gefolgt von seinem unschuldigen Hündchen im weißen Kittel. Wenigstens hatte sie Roddie zwei. Sie fragte sich, was er hatte.
Ich hatte nicht erwartet, mit Seiner Durchlaucht persönlich verbunden zu werden. Ich hatte eine Nachricht aufzeichnen wollen. Doch der Lautsprecher hatte geknistert, und eine Stimme hatte mir geantwortet, eine Stimme, die ich nicht kannte, rund wie die eines Bühnenbutlers, hatte mich gebeten, dranzubleiben. Ich blieb also dran. Ich hockte auf dem Thron und blieb dran.
Bestimmt gab es andere Orte, von denen aus ich ohne Angst vor Störung mit dem Sender sprechen konnte, aber heute nacht war ich nicht besonders phantasievoll. Ich gönnte den zuschauenden Bürojungen den gleichmäßigen, beruhigenden Anblick einer automatischen Toilettenpapierrolle; Coryton Rondavel lieferte auch Verhütungsmittel für die Männer, die in seiner Garage arbeiteten, doch ich blickte starr geradeaus.
»Roddie? Ich müßte eigentlich sehr wütend auf dich sein, Roddie, daß du dich so einfach mitnehmen läßt, und dazu noch von…«
»Ja. Heb dir das für später auf. Hör zu. Du weißt, wo ich bin?«
»Du bist bei Coryton Rondavel.«
»Genau. Und ich werde jetzt gleich das kleinste von Coryton Rondavels acht Autos klauen.«
»Du wirst – was?«
»Keine Zeit zu langen Diskussionen. Ich nehme einen der Wagen unseres Vorsitzenden, und du wirst mit ihm reden, und er wird den Mund halten. Wenn er will, kann er der Firma eine Leihgebühr in Rechnung stellen, aber das wird er wohl lieber sein lassen. Schau dir nur ein paar von den Bändern an, wenn du meine Worte bezweifelst.«
»Schon geschehen. Uns gefällt nicht, was mit der Mortenhoe vorgeht.«
»Ich mache weiter. Vielleicht kann ich sie aus der Stimmung rausholen.« Aber tief im Innern glaubte ich das nicht. Vincent gefiel es jedoch, wenn seine Leute eine positive Einstellung hatten. Wenn man sich nicht vorsah, begann man sogar schon wie Vincent zu reden. Zunächst wollte ich aber die Stunden nehmen, wie sie kamen. »Vincent? Bist du noch da?«
»Ja.«
»Im Augenblick ist das Haus leer. Die Leute waren ziemlich in Fahrt, vielleicht haben sie ihre Orgie woandershin verlegt. Aber früher oder später kommen sie zurück. Und früher oder später wird Rondavel feststellen, daß ihm ein Auto fehlt. Wenn du keinen Ärger willst, solltest du dafür sorgen, daß ihn jemand alle zehn Minuten anklingelt. Wenn er dafür sorgt, daß wir von der Polizei hopsgenommen werden, ist die ganze Sache geplatzt. Ist ohnehin ein beschissener Auftrag. Hörst du?«
»Ich höre. Aber um Himmels willen, warum ein Auto? Was…?«
»Denk mal drüber nach. Ich habe die Sendung verpaßt, aber hinterher einige Kommentare aufgeschnappt. Von jetzt an sind wir eine heiße Sache.«
»Klar. Aber…«
Ich ließ die Toilette rauschen, um seinen Protest abzukürzen. »Ich muß jetzt los«, sagte ich. »Sie ist schon zu lange allein.«
»Warte, Roddie. Ich habe Doktor Mason hier. Er…«
Ich unterbrach die Verbindung und öffnete die Tür. Katherine saß noch an Ort und Stelle – im Beifahrersitz des schwarzen Caravans mit den dunklen Fenstern. Wenn ich mir etwas vornehme, gehe ich auch zügig an die Arbeit. Die Zulassungsnummer -CAR 4 – war unangenehm, aber ein Bulle mußte schon sehr wachsam und mißtrauisch sein, um uns daraufhin zu stoppen.
Ich ging zum Wagen und stieg ein. Katherine hatte offenbar gedöst. Sie nahm sich zusammen. »Ich dachte schon, Sie hätten mich verlassen«, sagte sie. Ich legte ihr die Hand auf das Knie. »Ich hätt’s Ihnen nicht übelgenommen«, fuhr sie fort. »Die Sache mit dem Wagen ist ziemlich verrückt.«
»Wir sind ja beisammen«, sagte ich. Kranken sagt man solche Sachen.
Ich hatte die Wagenschlüssel an einem hübsch beschilderten Haken gefunden – in einer Art Chauffeursbüro. Es war nicht mein Fehler, daß die Bürotür irgendwie aufsprang, als ich mich mal kurz dagegengelehnt hatte. Ich startete den Motor, schaltete die Scheinwerfer ein und fuhr vorsichtig aus der Garage. Auf dem Weg über die Rampe mußten wir eine Art Strahl durchbrochen haben, denn im Haus hinter uns begann leise eine Alarmglocke zu läuten. Ich fuhr langsamer und sorgte dafür, daß Vincent den Alarm hörte.
»Keine Sorge«, sagte ich zu ihm, zu Katherine. »Er wird es sich dreimal überlegen, die Polizei anzurufen. Der will bestimmt keine Schwierigkeiten, ebensowenig wie wir.« Und ein kleines Wort von Vincent, in Vincents bestem Cocktailpartyton, würde die Sache besiegeln.
Ich fuhr zwischen den hohen Hecken entlang auf die Schnellstraße. Eine Zeitlang blieb Katherine wach, beobachtete den Asphalt, den unsere Lichter erschufen und endlos vorbeigleiten ließen. Dann stellte ich ihr den Sitz zurück, und sie schlief weiter. Ich fuhr geruhsam durch die Nacht und nahm jede Stunde, wie sie kam.
Im Morgengrauen waren wir etwa hundert Meilen entfernt – etwa an der Grenze meiner Sendekapazität ohne Zwischenstation. Durch die Bande des Äthers an Vincent gefesselt, bog ich an der nächsten Kreuzung ab und begann auf Landstraßen zurückzufahren. Nur wenige andere Wagen waren unterwegs, und sie alle rasten nur vorbei und schüttelten uns mit ihrem Fahrtwind durch. Als es hell genug war, fuhr ich durch ein Tor auf ein Feld und schaltete den Motor ab. Zuerst war es sehr still. Als sich meine Ohren dann anpaßten, nahm der Lärm wieder zu: das Schimpfen der lebhaftesten Vogelschar, die ich je gehört hatte. Ich sah zu, wie die Sonne über einem flachen, langweiligen Hügel aufging. Nach dem Haus, den Freunden, dem Leben Coryton Rondavels war das alles atemberaubend schön.
Ich stieg aus und ging ein Stück spazieren. Der Weg senkte sich abrupt und erreichte einen Bach und eine steile, schmale Steinbrücke. Ich setzte mich auf die Brüstung und beobachtete zwei Sumpfhühner. Ich dachte… Ich dachte nur an die Brücke und den Bach und die beiden kleinen Vögel, die sich im Schilf beschäftigten. Nach einer Weile kehrte ich zum Wagen zurück.
Katherine schlief noch immer. Ich hatte damit gerechnet, angewidert zu sein, wenn sie ihre Ausscheidungen nicht mehr bei sich behalten konnte, und der Gestank im Auto war schlimm. Aber meine größte Sorge war eigentlich, wie entwürdigt sie sich beim Erwachen fühlen würde. Ich rollte die Fenster herab, steuerte rückwärts auf den Weg hinaus und fuhr langsam zur Brücke. Dann stieg ich wieder aus und knallte diesmal die Tür zu. Sie öffnete die Augen. »Hinten liegen Sachen«, sagte ich. »Und das Bad ist eingelassen.«
Dann entfernte ich mich. Wenn Vincent Großaufnahmen von ihrer Schmach haben wollte, sollte er sie selbst machen.
Aber sie war bewundernswert gefaßt. Sie verließ den Wagen, Handtuch, Unterzeug und ein Kleid von Rondavels Margaret im Arm. »Sie denken auch an alles«, sagte sie. »Es wird wahrscheinlich nicht passen, aber wenigstens hat’s ein tolles Etikett aus New York.«
Nach diesem kleinen Scherz fiel es mir nicht schwer, umzukehren und ihr über den Zaun zu helfen. Auf der anderen Seite glitt sie die weiche, grüne Wiese hinab. Ich versuchte mich zu erinnern, wann sie endgültig ihre Motorradbrille abgelegt hatte; wenn die Psychiater recht hatten, bedeutete das eine Wende in unserer Beziehung. Sie breitete das Kleid im Gras aus, legte Holzschuhe und Socken und Umhang ab, und ging zum Bachufer. Das Wasser mußte kalt sein, doch sie watete hinein, hockte sich hin. Ich hätte sie in Ruhe lassen sollen, damit sie sich allein waschen konnte. Aber die Szene hatte etwas Malerisches, wie von einem alten Meister gestaltet, so daß ich nicht widerstehen konnte. Die Weiden und die bewachsenen grauen Steine der steilen, kleinen Brücke und der Umhang, der im Wasser rings um sie schwamm. Außerdem war unsere Beziehung nie von altmodischen Beschränkungen bestimmt gewesen. Fortzublicken wäre nun ein Verrat gewesen. Wir standen uns zu nahe, wußten zuviel voneinander. Sie wußte, daß ich da war, und sie zog ohne Umschweife ihren Umhang aus und ließ ihn in der Strömung forttreiben. Der Stoff fing sich im Schilf unter der Brücke, wurde dann fortgezerrt und verschwand unter dem niedrigen Steinbogen. Ihre Unterkleidung folgte… Nun, der Körper einer vierundvierzigjährigen Frau gilt eigentlich nicht als schön. Um so weniger der Körper einer zeitweise gelähmten, halluzinierenden Vierundvierzigjährigen, die ein Todessyndrom hat. Tatsachen sind schließlich Tatsachen. So will ich hier nur ein für allemal sagen, daß in jenem Augenblick und an jenem Ort der Anblick Katherine Mortenhoes, wie sie ihre Schenkel, ihre Arme, ihre Schultern, ihre Brüste wusch, etwas Stimmiges für mich hatte. Sie war vielleicht nicht schön, aber ihr Aussehen stimmte. Was nach meiner Überzeugung eine ganz gute Definition für Schönheit ist.
Das Wasser hatte einen kalten Biß, reinigte sie in seiner Kälte. Ihr Zittern war herrlich, kein Schüttelfrost, sondern die unschuldige Reaktion ihres Körpers auf das wirbelnde, sonnenerhellte Wasser. Während sie sich wusch, bemerkte sie, daß ihre Brustwarzen in der Kälte stark angeschwollen waren. Sie verbarg sie nicht vor dem seltsamen, jungen Mann, der sich über den Zaun lehnte und ihr zusah. Er war mehr als nur ein Mann, und sie war nicht nur eine Frau. Sie beide waren Menschen – und ganz plötzlich fand sie das irgendwie großartig. Es wäre eine Beleidigung gewesen, sich abzuwenden. Also blieb sie im Wasser, bis sie die Kälte nicht mehr aushielt, stieg dann wieder ans Ufer und zog sich an. Anschließend frühstückten sie im Gras neben dem Wagen.
Es war eine seltsame Mahlzeit, in einem Tischtuch von Coryton Rondavels Party gestohlen: Roggenbrot, Räucherlachs, Rindfleisch, Pate, eine Flasche Wein, Pfirsiche. Als sie fertig waren, blieb noch genug für das Mittagessen übrig.
»Wieviel Geld haben Sie noch?« fragte er.
Sie zog ihre Handtasche aus dem Rucksack im Wagen und zählte. Nach der gestrigen Cafémahlzeit hatte sie nur noch sieben Pfund sechzig. »Egal«, sagte er, »ich habe genug, daß wir durchkommen.«
»Haben Sie auch Geld gestohlen?«
Er zögerte, schüttelte dann den Kopf. »War wohl dumm von mir, aber der Gedanke an Geld kam mir irgendwie ungehörig vor. Außerdem wußte ich nicht, wo ich hätte suchen müssen.«
»Dann haben Sie also eigenes Geld. Ein Niemand sind Sie, haben Sie gesagt. Haben Niemande Geld?«
»Lassen wir das Thema.«
»Aber, Rod…«
»Ich habe gesagt, wir wollen das Thema lassen.«
Sie sah ihn an und schwieg. Sie lächelte und zuckte die Achseln, doch die Zurückweisung tat weh, und er wußte es. »Katherine…« Er wandte sich ab. »Katherine, Sie wissen nichts von mir. Erwarten Sie nicht zuviel. Und wahren Sie Ihre Geheimnisse.«
»Ich habe keine Geheimnisse, nicht hier, nicht in diesem Zustand.«
»Na, ist das nicht ein Glück für Sie?«
Er war nun wütend, was sie ihm nicht übelnahm. Sie waren Kinder, die ein Spiel mit der Wahrheit spielten. Sie wechselte das Thema. »Die Polizei wird nach dem Wagen suchen.«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, Rondavel meldet den Diebstahl sicher nicht. Nicht nach gestern abend. Er scheut die Publizität.«
Sie erinnerte sich, daß er so etwas gesagt hatte, aber die Erinnerung war wie ein Traum. Ihr ganzer Aufenthalt in dem Haus war seltsam unwirklich. »Ein Wagen, der zwanzigtausend Pfund gekostet hat?«
»Günstiger Preis.«
Wieder blieben Dinge unausgesprochen, und wieder mußte sie ihn drängen. »Sie haben gesagt, ich bin nicht vergewaltigt worden. Was aber ist gestern nacht geschehen? Wovor hat Mr. Rondavel Angst?«
»Er… er hat keine klare Erinnerung mehr. Wenn man high genug ist, verschwimmen die Konturen.«
»Aber…«
»Nicht weitersprechen, Katherine. Ich verspreche Ihnen, niemand hat Sie berührt. Also brauchen Sie nicht weiter zu fragen.«
In diesen Worten lag eine andere, eine sanftere Zurückweisung, eine, die nicht weh tat. Sie sah zu, wie er die Überreste des Essens wieder in die Tischdecke wickelte. Irgendwie stimmte sein Interesse an ihr nicht. Sie gab ihm keine Macht, sie gab ihm keinen Sex, auch ihre Krankheit schien ihn nicht anzuregen. Es war fast, als erkläre sie ihm etwas, das er sein ganzes Leben hatte wissen wollen. Etwas, das seine Berechtigung in sich trug. Sie nahm sich zusammen, damit die Sentimentalität von vorhin nicht zurückkehrte. Da war ihre Nacktheit die akademische Nacktheit des Leichenschauhauses gewesen. Deshalb war es nicht darauf angekommen.
»Fahren wir weiter?« rief er vom Wagen herüber. Sie ging um das Fahrzeug herum und stieg neben ihm ein.
»Wohin denn?«
»Das ist eine gute Frage.« Er wühlte in der Seitentasche der Tür. »Ah – hatte ich doch recht, daß uns Rondavel nicht enttäuschen würde.« Er brachte einen Stapel Landkarten zum Vorschein, wählte eine davon und breitete sie auf ihren Knien aus. Nach kurzem Suchen fand er ihren Aufenthaltsort, den Weg, die Brücke, die dünne, blaue Linie des Baches. »Hier gibt’s eine Kommune«, sagte er. »Hier auf dem alten Flughafen. Knapp dreißig Meilen.«
»Ich will nicht in eine Kommune.«
»Ich weiß, das haben Sie schon mal gesagt. Aber Sie brauchen ein Dach über dem Kopf und ein richtiges Bett.«
»Wir haben doch den Wagen.«
»Und wenn sich jemand um Sie kümmern muß?«
»Bringen Sie mich bitte zum Meer.« Sie zeigte auf die Karte, auf die nahe Küste. Sie hatte ihn nur zum Schweigen bringen wollen, so wie sie in einem anderen Leben Tasmanien eingesetzt hatte, um Harry zum Schweigen zu bringen. Doch kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, erkannte sie, daß die See wirklich ihr Ziel war. Sie hätte ihn nicht wie Harry behandeln dürfen. Er war soviel mehr.
Er faltete die Karte zusammen, steckte sie fort und ließ den Motor an. Als er gerade losfahren wollte, umklammerte sie seinen Arm. »Wie lange habe ich noch?« fragte sie fast unhörbar.
»Was für eine Frage! Woher soll ich das wissen, zum Teufel?«
Sie schämte sich. Die Frage war ein Aufschrei aus einer Tiefe gewesen, die sie überwunden geglaubt hatte. Und als sie zu zittern begann, ging sie – vermeintlich stumm – ihre private Litanei durch: Schüttelfrost, Lähmungen, Schweißausbrüche…
»Ich fahre dann weiter, ja?« Sie hatte ihn völlig vergessen und ließ seinen Arm los. »Sagen Sie Bescheid, wenn ich anhalten soll.«
Der Wagen setzte sich in Bewegung, fuhr über die kleine Brücke und den Weg entlang. Sie schloß die Augen, um die grellen Bäume und den Himmel verschwinden zu lassen. Dinge doppelt zu sehen war keine amüsante Neuheit mehr.
Ich hatte eine schlimme halbe Stunde hinter mir. Warum mußte sie wegen des Geldes auf mir herumhacken? Natürlich hatte ich Geld – welcher erfahrene Mediamann würde sich ohne gutes Handgeld auf den Weg machen –, aber so zwang sie mich zu der alten Sie-kennen-mich-doch-gar- nicht-Masche. Vincent dachte bestimmt, ich sei verrückt geworden, und vielleicht stimmte das auch. Ich war hier, um ihre Geheimnisse bloßzulegen, nicht um sie zu begraben.
Und dann ihre Fragen über die Party. Wollte sie wirklich wissen, daß sie laut gebrüllt und ihre Kleidung hochgerafft hatte, bis es sogar in dieser gar nicht pingeligen Gruppe keinen mehr gegeben hatte, der sie anfassen wollte? Daß die Partygäste gelacht hatten und ihnen das Lachen dann in der Kehle steckengeblieben war, daß sie ihre Sachen zusammengerafft hatten und gegangen waren? Daß ich Katherine schließlich gesäubert und festgehalten hatte, bis sie sich beruhigte?
Der Weg wand sich zwischen gewaltigen, hellgrünen Weizenfeldern dahin. Bald stieß er auf eine der alten Straßen, die zum Meer führten und jetzt fast verlassen dalagen, nachdem sich der Verkehr auf die Schnellstraße konzentrierte. Am windigen Himmel begannen sich Wolken aufzutürmen. Katherine neben mir schwieg, machte ihre eigenen Kämpfe durch. Es war ein ruhiger Moment – leider ein Moment des Nachdenkens.
Nach diesem Job der nächste. Und dann ein weiterer. Und alle voller Augenblicke, auf die andere Reporter ein ganzes Leben warteten. Was hatte ich doch für ein Glück! Schließlich war ich ja, was ich immer sein wollte: ein Reporter. Der Reporter. Ich trat wütend und überflüssigerweise aufs Gaspedal, und das Tempo stieg. Ich war kein Reporter, sondern eine Übertragungsmaschine. Ich war die fleischgewordene, morbide Neugier der Welt.
Ich dachte an Tracey. Wenn ich den Mut aufbrachte, ließ sich Katherine Mortenhoes Tod vielleicht zu einem Ende gestalten und nicht zu einem Anfang… Als das erste Motorrad vorbeiraste, warf ich instinktiv einen Blick auf den Tachometer und verlangsamte die Fahrt. Es war natürlich zu spät – ich war über neunzig Meilen in der Stunde gefahren. Weitere Motorräder huschten vorbei, bis vier Gestalten vor mir fuhren und mich an den Straßenrand winkten. Im Rückspiegel sah ich weitere zwei Maschinen hinter mir. Es war keine Polizei. Die Motorräder waren schwarz, und die Männer trugen Karnevalsmasken aus Plastik unter den Helmen – natürlich Totenschädel. Ich wollte überholen, doch sie versperrten mir die Durchfahrt und winkten mir weiter höflich zu. Ihre Höflichkeit war wohl das Bedrohlichste ihres Tuns. Ich stoppte den Caravan und wartete.
»Tut mir leid, Sie zu stören, Sir. Und Madam. Wir sind die Sammler. Wir sammeln für die Gesellschaft zur Förderung der Grausamkeit gegenüber jedermann. Eine schrecklich gute Sache.«
Ein dummer Scherz, der jedoch die Lage ziemlich genau umriß. »Da habt ihr einen schlechten Tag erwischt«, sagte ich. »Ich bin selbst ziemlich knapp dran.«
»Sie werden’s nicht glauben, Sir, aber das sagen alle.« Seine Stimme lächelte zum Grinsen der Totenkopfmaske. Meine Tür wurde aufgerissen. »Sie scheinen über etwas gestolpert zu sein, Sir.«
Ich rappelte mich auf. »Sehen Sie mich doch an. Glauben Sie wirklich, ich hätte viel Geld bei mir?«
»Aber Ihr Wagen paßt nicht zum zerlumpten Aussehen. Vielleicht eine Art Maskerade…«
»Oder ein gestohlener Wagen?«
Das war ein neuer Gedanke. Er blickte von mir zum Auto und zurück, sah sich Katherine an. »Sie ist krank«, sagte ich hastig. »Sehr krank.«
»Ausgeflippt?«
Ich nickte knapp. Sie hatte ihren Schüttelfrost überwunden und saß nun seitlich da, die Falten ihres Umhangs mit gekrümmten Händen betastend. Offenbar hatte er sie nicht erkannt. Wahrscheinlich waren diese Knaben nicht gerade Fernsehfans.
Die Burschen machten sich inzwischen daran, unsere Sachen aus dem Wagen auf die Straße zu zerren. Da ich nicht zusehen wollte, schloß ich mich dem Anführer an. Sicher wollte Vincent meine Aufnahmen an die Polizei weitergeben.
Einer der Suchenden rief etwas. Ich drehte mich um, rechnete schon damit, daß sie meinen Rucksack gefunden hatten. Doch sie drängten sich um die Tür auf der Fahrerseite. Wir eilten hinüber. In der Tür hatte sich eine Verkleidung geöffnet und ein kleines Waffenarsenal freigelegt: Tränengas und Farbspray, eine kleine Pistole, ein gewichtiger Schlagstock, ein Messer, Handschellen… Wenn ich je so reich wurde wie Coryton Rondavel, würde ich mich bestimmt auch so ausstatten. Ein Grund mehr, nicht so reich zu werden wie Coryton Rondavel.
Mein Begleiter steckte die Pistole ein und warf die anderen Sachen in eine Hecke. »Du solltest besser aufpassen, welche Wagen du klaust«, sagte er. »Eines Tages kommst du noch mal in Teufels Küche.«
Auf der anderen Wagenseite versuchten einige Burschen, Katherine ins Freie zu zerren. Sie vermochte sich nicht zu helfen und begann unverständliche Laute auszustoßen. Ich marschierte um die Kühlerhaube herum, doch die Knaben wichen bereits vor Katherines Gewimmer zurück – wie erschreckte Kinder. Wie gewisse Partygäste, die ich noch gut in Erinnerung hatte. Ich richtete Katherine auf und küßte sie auf die Stirn.
»Sehr rührend. Fängt sie jetzt an zu kotzen?« Er war mir gefolgt.
»Weiß ich nicht«, sagte ich. »Sie hat solche Anfälle öfter.«
Sie nahmen natürlich Katherines Handtasche und durchwühlten sie. Sie fanden unsere Lebensmittel und warfen sie fort, konnten aber zum Glück wegen der Masken nicht davon essen. Andere Wagen kamen vorbei und verlangsamten die Fahrt, doch niemand hielt. Unweigerlich stießen die Kerle auch auf meinen Rucksack. Und ebenso unvermeidlich auf den neutralen braunen Umschlag, der ganz unten lag. Er wurde geöffnet, und die Zehn-Pfund-Noten wurden gezählt. Der Anführer sah mich staunend an, ließ mich die Taschen leeren und addierte dann säuberlich den Rest meines Wohlfahrtsgeldes, Katherines sieben Pfund sechzig und Vincents fünfhundert Pfund – und quittierte mir den Betrag.
»Ein schlechter Witz«, sagte ich.
»Weiß ich. Ist eben Montagmorgen.«
Sie fuhren weiter, und ich sammelte die Sachen von Rondavels Margaret von der Straße auf und tat sie wieder in den Wagen. Katherine beobachtete mich bei der Arbeit, ihre Fragen, ihre Ängste unausgesprochen. Ich dachte an den Schmerz. Ihr Dr. Mason hatte versprochen, daß sie keine Schmerzen haben würde. Ich fragte mich, ob er wirklich so mächtig war.
Als ich alles zusammengepackt hatte, stieg ich ein. Die Stille zwischen uns mußte gebrochen werden. Irgendwie. »Das Geld ist nicht wichtig«, sagte ich. »Wir werden nicht verhungern. Und wir haben noch immer den Wagen.«
Warum es unwichtig war, daß wir all unser Geld losgeworden waren, und wieso wir nicht verhungern würden und was es ausmachte, daß wir den Wagen noch hatten – all dies hätte ich ihr nicht erklären können. Auch hatte ich keine Geschichte, keine Lüge parat, die Vincents fünfhundert Pfund erklärten. So, wie mir jetzt zumute war, hätte ich ihr die Wahrheit gesagt, wenn sie mich gefragt hätte. Was eine gefahrlose Großzügigkeit war, da sie mich gar nichts fragen konnte.
Ich fuhr weiter und ließ ihre Handtasche in der Hecke zurück, wohin die Sammler sie geworfen hatten, und tat, als verstünde ich ihre Töne und zuckenden Bewegungen nicht, mit denen sie mich darauf aufmerksam machen wollte. Ich hatte das vage Gefühl, daß sie bald froh sein würde, keinen Radiosender mehr bei sich zu haben. Ich war mir noch nicht sicher, wie oder wann – aber bald würde ich sie verlassen müssen. Das letzte Eindringen in das Leben anderer Menschen war zugleich eine Beeinträchtigung meiner Existenz. Und damit mußte es ein Ende haben.
Dr. Mason blickte auf, als Vincent den Monitorraum betrat. »Eben hat es einen Überfall gegeben«, sagte er. »Sollen wir die Polizei verständigen?«
Vincent schaltete den anderen Monitor an und ließ sich das Band vorspielen. »Ich möchte lieber warten. Wir wollen doch nicht, daß Roddie jetzt von der Polizei bedrängt wird und Aussagen machen muß – womöglich auch über Rondavels Wagen und so.«
»Die Bande darf also entwischen?«
Vincent seufzte. Auf diesem Mann, der kein Kämpfer war, konnte er herumhacken – doch es machte ihm keinen Spaß. »Hören Sie, warum rufen Sie die Polizei nicht an, wenn Sie sich so große Sorgen machen?«
»Sie haben mich in der Hand. Das wissen Sie.«
»Mein lieber Doktor – das Gewissen ist unsere Privatsache.«
Ein langes Schweigen trat ein. Auf dem Gegenwartsschirm glitt langsam die Straße unter Roddies Wagen dahin. Von Zeit zu Zeit sah er Katherine von der Seite an. Sie schien wieder munter zu werden. Der Überfall hatte ein paar gute Action-Szenen gebracht… Nachdem sicher war, daß der Arzt nichts weiter vorzubringen hatte, daß er seine Lage begriff, war ein Kompromiß möglich. »Wir werden die Behörden natürlich vor der Sendung verständigen müssen. Wenn sie sich wegen der Verzögerung aufregen, können wir es immer auf Dawlish schieben. Nach dem Aushang hat er bis neun Uhr Dienst.«
Dr. Mason schwieg. »Ihr zweiter Anfall in sechs Stunden«, sagte er. »Ich weiß nicht, wie lange wir das noch riskieren dürfen.«
»Sie glauben wirklich, daß sie stirbt, nur weil Sie es ihr gesagt haben?«
»Haben wir sie nicht deshalb ausgewählt?«
»Vielleicht haben Sie recht… Wissen Sie, eigentlich macht mir mehr Sorgen, daß Sie Ihre Abhandlung nicht schreiben könnten, wenn sie wirklich stirbt.«
Mason sackte in seinem Stuhl zusammen. »Eines Tages treiben Sie’s zu weit, Mr. Ferriman.«
Das bezweifelte Vincent, doch er wollte es jetzt noch nicht auf die Spitze treiben. »Ich glaube, wir schneiden die Entdeckung der Waffe heraus«, wechselte er energisch das Thema. »Dem Vorsitzenden ist das bestimmt lieber so. Er hat sich am Telefon fast in die Hosen geschissen, da können wir’s uns leisten, großzügig zu sein. Auch große Männer haben ein Recht auf ihre kleinen Geheimnisse.« Er puffte Dr. Mason freundschaftlich gegen die Schulter. »Die Essenz einer guten Reportage, Doktor, ist ein gehöriger Respekt vor der Wahrheit. Anstand und Respekt erfordern es manchmal, daß man den Blick abwendet.«
Aber Dr. Mason hatte nichts übrig für Epigramme. Er beobachtete die Straße, die langsam unter Coryton Rondavels Wagen dahinglitt.
Das Fenster herabzudrehen erforderte große Konzentration. Doch die Mühe lohnte sich, denn der hereinwehende Wind bestätigte ihr Empfinden, daß sie sich dem Meer näherten. Die Brise trug den Geruch nach Ferien heran, nach Strandschuhen und Schlafzimmern in Pensionen und stinkenden Algen, die unter den Füßen knackten und glitschten.
Sie hatte sich nur kurz über Rods vieles Geld gewundert. Er war ja viel reicher als sie. Die Verwunderung über den Kuß, den er ihr sanft auf die Stirn gedrückt hatte, hielt viel länger an. Vielleicht wieder ein Traum. Nun war wohl alles möglich. Doch der Vorgang paßte seltsamerweise zu seiner übrigen Fürsorge. Sie bewegte ihre Seesternfinger und blickte nach unten, sah, daß sie sich nicht verändert hatten, obwohl sie sich rot und dick und schuppig anfühlten. Diese Finger würden nun niemals ihr Buch schreiben. Es tat ihr nicht leid.
Sie erreichten die Vororte der Stadt, fuhren unter einer Brücke hindurch und dann auf die Schnellstraße. Es war nun fast halb neun, und der Verkehr strömte zähflüssig dahin. Die erhöhte Schnellstraße übersprang die Vororte, bot einen langsamen, unwirklichen Panorama-Schwenk auf die fernen Terrassen und Bögen der Altstadt, der Vorzeigestadt, und auf das Meer dahinter. Rod stieß Katherine mit dem Ellbogen an und wies darauf, doch sie hatte es schon gesehen. »Ist es nicht herrlich?« fragte sie und war plötzlich sehr glücklich.
Es war immer herrlich. Dieser erste Blick war immer schön in seiner Bedeutung. Zwischen Dächern hindurch, unerwartet hinter einem Hang, am Ende eines städtischen Parkplatzes, unter blauem oder grauem Himmel – eines der aufregendsten Dinge, die sie kannte. Das Meer war schön in seiner Verheißung, und sie konnte sich nicht erinnern, daß diese Verheißung einmal nicht wahr geworden wäre. Und deshalb – das wußte sie jetzt – hatte sie Rod gebeten, sie hierherzubringen.
Die Schnellstraße senkte sich zu einem gewaltigen Verkehrskreisel hinab, der sich zur Hälfte über das Wasser erstreckte. Sie ließ Rod zweimal herumfahren, damit sie sich die alte Promenade anschauen konnte, die hohen, weißen, georgischen Häuser und den Zuckerguß-Pier und die Straßen voller Himmel. Dann bogen sie ab und suchten etwas außerhalb einen Parkplatz. Sie hatten Glück – es war wohl ihr Glückstag – und fanden fast sofort eine Stelle, dicht an der Grenze zur Altstadt; ein anderer Wagen fuhr gerade weg… Es war sogar aufregend, kein Geld für die Parkuhr mehr zu haben. Sie bündelten alle Sachen und den Schlafsack zusammen, nahmen Rods Rucksack und das Tischtuch voller Nahrungsmittel und liefen den Kieselstrand entlang. Der Benzintank war ohnehin fast leer. Der Wagen, ihr fliegender Teppich, mochte er dort stehenbleiben und Strafzettel ansetzen. Der lächelnde Eigentümer würde ihnen ein Mandat mehr oder weniger kaum übelnehmen.
Sie war atemlos und lachte und ließ auf den Steinen Handtücher und andere Dinge hinter sich fallen. Ein Hund schloß sich der Jagd an, zerrte an herabhängenden Ärmeln, bellte sie an. Rod fand eine geschützte Vertiefung nahe einer Buhne, und sie höhlten die Stelle aus, stapelten die glatten Kiesel zu einer schützenden Mauer auf. Der Hund hockte sich hin und wedelte mit dem Schwanz und bellte, bis Rod ihm Steine zum Apportieren zuwarf. Schließlich begann sich das Tier zu langweilen und verschwand. Sie legten sich in ihr Lager und starrten zum Himmel empor.
»Wissen Sie«, sagte Rod, »es ist gar nicht warm, sondern verdammt kalt.«
Sie wickelten sich in die Sachen von Rondavels Margaret.
»Ich möchte wissen, was Harry gerade macht«, sagte Katherine, als ihr der Gedanke durch den Kopf zuckte.
»Ihr Mann? Wahrscheinlich fragt er sich, wie er all das Geld ausgeben soll.«
Sie stemmte sich auf einen Ellenbogen hoch. »Woher wissen Sie, daß Harry mein Mann ist?«
»Ich weiß alles über Sie. Geburtstag, Kinderkrankheiten, die Romane, die Sie geschrieben haben, ehe Sie bei Computabuch anfingen.«
Ein Windhauch strich über die Kieselmauer und ließ Katherine erschauern. »Ich hätte nicht gedacht, daß Randtypen Zeitungen lesen«, sagte sie.
»Aber ich bin kein Randtyp. Ich hab’s Ihnen gesagt. Ich bin ein Niemand. Der echte Außenseiter.« Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Wissen Sie, das hat man mir wirklich mal gesagt; ein Mann, der es eigentlich wissen müßte. Er hieß Klausen. ›Sie sind der typische Außenseiter‹, sagte er. ›Und Sie suchen nach jemandem, dem Sie die Schuld zuschieben können.‹«
Wieder erschauerte sie. Wenn sie etwas haßte, dann Leute, die über ihre Gesundheit redeten. Und er würde ihr noch andere Dinge sagen, Dinge, die bereits schmerzten. Keine angenehmen Dinge. Sie stand auf und streckte ihm die Hände hin. Er erhob Einwände. »Hören Sie, Katherine…«
»Nein. Idiotisch, sich hier hinzukauern und zu frieren. Kommen Sie! Sie können mir alles unterwegs erzählen.«
Aber die Kiesel waren zu laut, und das Gehen fiel zu schwer, und das Meer war zu aufregend, wie es ihre Füße umzischte und daran knabberte.
Trotz des Windes und der Wolken belebte sich der Strand. Rod blieb an ihrer Seite, doch etwas auf Abstand, als hätte er noch Angst, sie könnte erkannt werden. Vielleicht war er nur taktvoll, denn sie war nicht mehr die Frau vom Sonntag, geschweige denn die vom Samstag oder Freitag. Der Südwester war fort, und ihre Kleidung stammte aus New York, und die Motorradbrille hatte einer Sonnenbrille aus dem Wagen Platz gemacht. Vielleicht war er also nur taktvoll, falls sie stürzte oder sich sonstwie daneben benahm.
Sie ließen die Altstadt mit ihren zu schönen Promenaden und dem strahlenden Pier zurück, gingen am Strand entlang auf den Sportpavillon und ein Schwimmbecken zu. Sie kamen an einem Kasperletheater vorbei, das gerade aufgebaut wurde. Drei gelangweilte Kinder saßen davor und warteten auf den Beginn der Vorstellung. Im Schwimmbecken kraulte ein einzelner Mann entschlossen von einem Ende zum anderen, während ein zweiter Mann in weißem Flanellanzug am Rand brüllend hin und her lief. Ein Schild unter den Sprungbrettern zeigte die Meeresverseuchung des Tages an. Hinter dem Schwimmbecken befand sich ein Betonpier für kleine Jachten, und dahinter eine Reihe hölzerner Wellenbrecher, die bis zu einem alten und verwahrlosten Pier reichten. Sie beschlossen, bis dorthin zu gehen und dann umzukehren. Sie wurden allmählich hungrig.
Der Pier war verrostet und endete abrupt etwa zehn Meter über dem Wasser in einem halb abgetragenen Tanzpavillon. Auf dem Sand unter dem Pier hatte jemand einen ausgedehnten Windschutz errichtet, hinter dem Leute zu kampieren schienen. Der Strand war hier wieder sauberer.
»Hätte ich mir eher überlegen sollen«, sagte Rod. »Meerblick, kein fließendes Wasser, höchst wünschenswert. Was meinen Sie?«
Er wandte sich an Katherine, und sie nickte. Sie war aufgeregt und zugleich ängstlich. Sie war entweder viel zu alt, um am Strand zu schlafen, oder nicht alt genug. Die Steine würden hart und der Wind kalt sein, und das Meer ein erschreckender Nachtgefährte. Aber sie war ja nicht allein. Und wenn ihre letzten Stunden hier vergehen sollten, gab es eigentlich keinen besseren Ort. Die Kieselsteine waren real – ebenso wie sie. Und mit Rod als Gesprächspartner war sie nicht allein.
Er war weitergegangen und im Schatten des Piers verschwunden. Sie lief hinter ihm her.
Wie erwartet, hatte auch hier jemand die Zügel in der Hand. Wir leben im Zeitalter der Führernaturen, die von der Gewöhnung an feste Strukturen zehren. Sie sprießen aus dem Boden, und man nimmt sie hin; dabei geht es ihnen gewöhnlich nur um Geld. In diesem Falle handelte es sich um eine Frau, eine kleine, hagere Gestalt, die sich sehr wichtig vorkam. Sie trug einen dunkelbraunen Pullover und fummelte mit einem Strickzeug herum. Sie baute sich dicht vor mir auf, so daß meine Körpergröße irgendwie zum Nachteil wurde.
»Ja?«
»Ich hoffe, hier ist noch Platz für uns beide«, sagte ich fröhlich.
»Wir mögen keine Randtypen«, erwiderte sie, selbstgefällig lächelnd.
»Wir sind eigentlich keine Randler.«
»Sie vielleicht nicht, aber Ihre Freundin.« Von ihren Schützlingen horchten bereits einige auf. »Wir mögen keine Randtypen.«
Ich wollte nicht mit ihr streiten, nahm Katherines Arm und begann mich zu entfernen.
»Wenn’s aber nur eine Nacht ist«, sagte die Frau, »schicken wir niemanden weg, auch wenn’s Randler sind.«
Ich sah Katherine an, und sie nickte. Sie versuchte ein Lachen zu unterdrücken.
»Da drinnen am mittleren Pfeiler.« Sie hob ihr Strickzeug. »Ist ein bißchen undicht – beten Sie um gutes Wetter. Heiße Baker, Missis.«
Ich starrte in die Dunkelheit. »Vielen Dank, Mrs. Baker.«
»Die letzten müssen den Strand sauberhalten. Das seid ihr beide. Und Toilette gibt’s oben an der Promenade. Kein offenes Feuer nach Einbruch der Dunkelheit, keine Haustiere, kein Herumgrölen. Und keine Orgien.«
Und hinterlassen Sie bitte das Bad so sauber, wie Sie es vorzufinden wünschen… Ich fragte mich, welches Schicksal Mrs. Baker um die Pension gebracht hatte, die sie so offenkundig verdiente. Vermutlich ein betrunkener und zügelloser Mr. Baker. »Klingt alles ganz vernünftig«, sagte ich. »Meinen Sie nicht auch, Katherine?«
Aber Katherine war bereits zum Mittelpfeiler gegangen und betastete dort die Kiesel, prüfte das Bett. »Bestens, Mrs. Baker. Vielen Dank. Wir gehen nur unser Gepäck holen, und dann…«
»Ich habe einen Besen. Ihr seid ja zu zweit, und die meiste Arbeit gibt’s bei Ebbe.«
Wir dankten ihr nochmals und zogen ab. Sie blieb mit klickenden Stricknadeln stehen und sah uns nach. Solange wir ihre Position anerkannten, würde sie uns mögen. Sie war ein richtiger Fund – und genau das brauchte Katherine. Mit meinem egoistischen Geständnisversuch hatte ich ihr fast alles verdorben, den Strand, das Meer, die dumme Freiheit, die sie für uns ersonnen hatte.
Einige hundert Meter weiter stürzten wir uns in den Windschutz einer Buhne und begannen zu lachen. Wir ruhten uns aus und wiederholten die komischsten Sätze von Mrs. Baker und lachten lauthals. Dann rappelten wir uns auf und machten uns auf den Rückweg.
Im Schwimmbecken zog noch immer der Mann seine Bahn, doch sein Freund hatte das Gebrüll aufgegeben und lehnte an einem der Sprungbretter. Weiter hinten hatte die Kasperlevorstellung begonnen, und Katherine zog mich hinüber.
Es war alles schrecklich volkstümlich. Der Kasper hämmerte auf einem Polizisten herum und kreischte wie ein verrückter Diktator. Im Wind war nicht zu verstehen, was er brüllte, doch seine Absicht war auch so erkennbar und unerklärlich komisch. Wir sahen uns an und lächelten. Als sich gleich darauf der Kopf des Polizisten löste und über die Bühne rollte, lachten wir laut auf. Die drei Kinder drehten sich um und starrten uns an. Da mußten wir noch mehr lachen – jetzt über ihre feierlichen Gesichter und vielleicht auch wieder über Mrs. Baker.