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Antwerpen, vierundzwanzigster November 1933. Am Hafen duftet es betörend nach verbranntem Diesel, faulem Fisch, Schmieröl und frischer Meeresluft. Die Drehwippkräne greifen wie prähistorische Insekten in den Nebel. Im Wasser liegen Schiffe in allen Größen. Auf den Piers und Kais wimmelt es von Menschen: Matrosen auf Landurlaub, Kaiarbeiter, Schauerleute, Lagerarbeiter, Kranführer, Wäger, Messer, Schlepperleute, Festmacher, Schiffsreiniger und, natürlich, die reichen Passagiere mit ihren Pelzmänteln, ihren steifen Hüten und ihren Kofferträgern. An der Landebrücke erhebt sich schwarz wie ein stählerner Berg ein Linienschiff. Die Schiffsmotoren dröhnen, das Wasser im Hafenbecken sprudelt, zwei Festmacher lösen die Taue. Dann wird der Spalt zwischen dem Pier und der Schiffswand breiter. Hoch oben blicken bleiche Gesichter ins Leere, manche winken dem Alten Kontinent zum Abschied. Die Bordkapelle auf dem Promenadendeck spielt unter bunten Lampions einen Walzer. Die Möwen tragen die Musik kreischend aufs offene Meer hinaus.

Das Schiff fährt ohne Kurt und Waldemar – erstens weil sie nicht über die nötigen Papiere verfügen, zweitens weil Amerika auch ohne sie schon fünfzehn Millionen Arbeitslose hat und drittens weil die tausendzweihundertfünfzig Reichsmark aus dem Banküberfall nirgends hinreichen. Jetzt sitzen sie am Pier auf einer Taurolle und lesen Zeitung.

 

ERSTE SEITE: Aus ganz Nordfrankreich strömen Tausende von arbeitslosen Stahl- und Kohlegrubenarbeitern der Hauptstadt entgegen. Sie marschieren in kleinen Gruppen von zwei bis fünf Mann, weil die Polizei jede Manifestation in geschlossenen Reihen verboten hat. Die Landstraßen von Calais, Lille und Roubaix nach Paris werden streng bewacht.

VERMISCHTE MELDUNGEN: Im schottischen Hochland macht Fotograf Hugh Gray an einem nebelverhangenen See namens Loch Ness als erster Bilder eines saurierähnlichen Wesens.

DEUTSCHLAND: Reichskommissar Hermann Göring forciert den Bau von staatlichen Konzentrationslagern. Er will das Treiben der SA unter Kontrolle bringen, die auf eigene Faust wilde Lager unterhält. In sämtlichen Landesgegenden sind heftige Proteste auch aus national gesinnten Kreisen laut geworden gegen das blindwütige Foltern und Morden.

INTERNATIONAL: In Europa und Nordamerika werden Jahr um Jahr mehr Banken überfallen. Die Räuber profitieren vom technologischen Vorsprung, den ihnen schnelle Automobile gegenüber der schlechtausgerüsteten Polizei verschaffen. Zudem stellt der Abtransport auch großer Summen kein schwerwiegendes Problem mehr dar, seit in der Inflation von 1922/23 Papiergeld zum wichtigsten Zahlungsmittel wurde.

SPORT: Die deutsche Fußballnationalmannschaft schlägt die Schweizer Auswahl im Zürcher Hardturmstadion vor 30 000 Zuschauern zwei zu null. Die Tore erzielen Lachner und Hohmann in den letzten zwanzig Minuten.

UNGLÜCK UND VERBRECHEN: Im Südwesten der USA begeht ein Gangsterpärchen blutige Überfälle auf Banken, Juweliere, Tankstellen und Metzgereien. Am 8. November suchen Clyde Barrow und Bonnie Parker das Lohnbüro der McMurray Ölraffinerie in Arp, Texas, heim. Am 21. November entkommen sie nach einer Schießerei mit dem Sheriff und seinen Deputies bei Grand Prairie in einem gestohlenen Ford V8. Bonnie ist dreiundzwanzig, Clyde vierundzwanzig Jahre alt.

Und hier eine Meldung aus Stuttgart: »Die große und herzliche Anteilnahme weiter Kreise der Bevölkerung an dem furchtbaren Geschick, das die Familie des Ermordeten getroffen hat, gab sich in der Abschiedsstunde am Grab Julius Feuersteins noch einmal in ergreifender Weise kund. Einige tausend Trauergäste umgaben die letzte Ruhestätte. Der Sarg war im Leichenhaus aufgebahrt, vor dem Mitglieder des Turnvereins Gablenberg die Ehrenwache hielten. Dann trugen die Kameraden vom Turnverein den Sarg mit der sterblichen Hülle ihres geliebten Mitgliedes durch den Hauptweg des Friedhofs zwischen den von Turnern gebildeten Ehrenreihen hindurch zum Grabe. Dem Sarge vorangetragen wurden die umflorten Fahnen der Arbeitsfront, und den S. A.-Kameraden folgten die Gablenberger Turner mit ihrer schwarz umhüllten Vereinsfahne, und ihnen schlossen sich viele Kranzträger an.«

Der Ozeandampfer verschwindet aus dem Hafenbecken, Kurt Sandweg und Waldemar Velte gehen auf direktem Weg zurück zum Hauptbahnhof. Noch am selben Abend fahren sie mit dem Nachtzug über Brüssel nach Paris.