18
Sonntag, einundzwanzigster Januar 1934, acht Uhr. Der Morgen graut, Laufen erwacht. Genagelte Polizistenstiefel poltern übers Kopfsteinpflaster, Motoren laufen warm, es riecht nach Kaffee in Blechtassen. Auf dem Feld vor dem Städtchen steht ein Doppeldeckerflugzeug, dessen Propeller den Rauhreif von den Grashalmen reißt und hochwirbelt. Vor der Maschine stehen zwei Polizeioffiziere und der Pilot. Die Polizisten grüßen militärisch, der Flugpionier tippt nachlässig an seine Ledermütze, klettert in die Kanzel und zieht am Gashebel. Der Doppeldecker holpert über die Wiese und hebt ab, zieht eine Schleife über dem Städtchen und fegt dicht über die Wipfel eines Tannenwäldchens hinweg. Die Tannen biegen sich, Schnee fällt hinunter auf den Waldboden, auf dem Kurt Sandweg und Waldemar Velte schlafen. Sie liegen Bauch an Rücken auf Waldemars Mantel, Kurts Mantel dient ihnen als Decke. Der von den Wipfeln fallende Schnee weckt Waldemar. Er löst sich aus der Umarmung seines Freundes, kriecht zwischen den Mänteln hervor und zieht ein kleines schwarzes Wachstuchheft aus der Tasche.
»Letzter Tag meines Lebens – Sonntag, 21. 1. 1934. Es ist im Moment 8:10 Uhr. Nach übermenschlichen Strapazen, halbverhungert, todmüde, sind wir 2 in Laufen angelangt. (Gestern Abend.) Holten hier eine Kleinigkeit zu essen und waren dann auch gleich erkannt. Sehr zum Nachteil zweier Polizisten. Haben dann im Wald bei Frost übernachtet, nachdem wir eingesehen hatten, dass ein Fortkommen unmöglich war. Wir rechneten also mit dem Tod. Es war uns schon recht, er bedeutete für uns das höchste Glück. Endlich werden wir aus diesem Jammer und Elend erlöst. Es musste ja alles so kommen.
Wir 2 sind von Natur aus mit einem feinen Rechtsempfinden begabt und haben uns früh bemüht, logisch zu denken und konsequent zu handeln, anstatt immer im Lauf der Jahre unser feines Gewissen zu ersticken, wie es die liebe menschliche Gesellschaft muss, um leben zu können.
Wir haben unser Rechtsempfinden und Suchen nach objektiver Wahrheit noch vertieft, und ebensolche Denkart, die zudem die einzig richtige ist, musste uns zwangsläufig mit der ›lieben menschl. Gesellschaft‹ in Konflikt bringen. Wir waren uns über unseren Weg ganz im klaren.
Der bisherige Verlauf unserer Handlungen und die sich daraus ergebenden Folgerungen sind nicht immer ein Zoll anders. Wir haben also nichts zu bereuen und sind auch nicht enttäuscht. Ganz im Gegenteil, wir sind erfreut, dass wir die Kraft hatten, für den einzig wahren Lebenszweck zu kämpfen. Wir werden nicht noch einmal in diese Hölle, genannt ›Welt‹, zurückkehren müssen. Wir werden erlöst werden.
In dem Maße, wie man den Finger gegen uns gehoben hat, um ein Mehrfaches werden sie leiden müssen. Wer das Gute und Ideale hütet, der tötet Gott. Also, Ihr Herren Staatsführer, Juristen, Staatsanwälte, Richter, Polizeipräsidenten, habt Ihr schon einmal darüber nachgedacht, dass Ihr für Euren Beruf mal schrecklich leiden müsst, dass Ihr noch sehr oft auf diese ›schöne‹ Erde zurückkommen dürft? Hättet Ihr auch nur ein wenig natürlichen Verstand, Ihr würdet über Euch weinen. Auch Ihr müsst mal unsern Weg gehen! Das ist so sicher wie ein Evangelium. Viel Glück, Ihr Schwerstverbrecher, ein harmloses Wort für Leute von Eurem Schlag. Nur schade, dass Ihr uns noch nicht über den Weg gelaufen seid, Ihr Schlauberger, wir hätten uns gerne etwas über Politik unterhalten, ›tüchtige Männer‹! Aber werdet schon Eure Qualen haben! Ein Naturgesetz. Es bringt zum Nachdenken und damit zur richtigen Erkenntnis!
Wir haben es hinter uns. Wenn weniger Menschen auf der Welt wären, ließe es sich noch leben; aber überall, wo die erbärmliche Kreatur Mensch ihre Hand im Spiel hat, da ist alles verhunzt und verhauen. Nicht genug, dass sie sich selbst der ärgste Feind sind, nein, der schönste Flecken Natur ist ihnen nicht heilig für ihre Schandtaten. Und dabei fällen sie durch ihr Verhalten sich selbst den Richterspruch. Ihr Leben und Ende richtet sich ganz nach ihrem Verhalten. Je unnatürlicher ihr Leben, je unnatürlicher ihr Ende. Sie werden alle noch oft wiederkommen müssen, bis sie die richtige Erkenntnis besitzen.
Wie man sich bettet, so schläft man.
Anstatt ihren Verstand dazu zu benützen, sich zu erlösen, haben sie sich eine Welt des Scheins, des Wahnsinns aufgebaut, an dem sie eines Tages alle zugrunde gehen müssen. Ebenweil bisher zu wenig Menschen da waren, die bereit waren, für ihre Erkenntnis das Leben zu lassen, ebendeswegen sind sie alle heute so schlecht und von dem wahren Lebensziel weiter denn je entfernt. Aber sie müssen ihren Weg gehen; und wären sie vernünftig, sie würden dafür sorgen, dass er so kurz wie möglich ist. Aber Irrsinn regiert die Welt. Auf der einen Seite baut man Kunstpaläste, auf der andern Seite hungern und darben unzählige Tausende und verkommen im größten Elend. Hier rächt sich schon die Unnatürlichkeit der Masse, denn wäre sie auf dem rechten Weg geblieben, die Herren ›Volksführer‹, besser -verführer, hätten nie gewagt, so frevelhaft an der Natur zu sündigen. Man hätte sie kurzerhand umgebracht. Im Gegenteil, sie ist so wahnsinnig, Leute, die gegen solche Schandtaten sich widersetzen – und damit auch für Wohl auf Umwege eintreten –, zu verfolgen – und festzunehmen – alles wegen der ›lieben Gerechtigkeit‹ in Gestalt einer Belohnung.
Ihr dummen Polizeibeamten – wisst Ihr jetzt, welches Verbrechen Ihr an Euch begangen habt?? Dass Ihr praktisch nichts anderes tut, als ja Sorge zu tragen, dass Euer Ende wahnsinnig ausläuft? Ihr solltet Euch lieber aufhängen, als das Werkzeug von ›Kreaturen‹ zu sein, die Euch und Euresgleichen täglich belügen und betrügen. Aber auch Euch bleibt der jammervolle Weg nicht verschont, den Eure ›Meister‹ gehen müssen.«
Dann beginnt Waldemar Velte eine neue Seite.
»Bitte im Todesfall an meine Eltern in Wuppertal schicken.
Ihr Lieben! Meine Stunde hat nun bald geschlagen. Ich bin froh, ich habe die Menschen satt, und weil eben in der Hauptsache Menschen hier auf der Welt sind, hat sie auch keinen Reiz für mich mehr. Wie werdet Ihr über mich urteilen? Ich weiß es schon jetzt. Ihr habt mich ja nie verstanden. Zu Eurem Unglück, denn jetzt ist für Eure Begriffe etwas so Entsetzliches passiert, dass Ihr eigentlich nicht mehr weiterleben könnt. Es ist nicht meine Schuld. Ich kann nicht, mit Rücksicht auf Euch, etwas Falsches tun. Erzieht mir ja Hilde und Lothar in meinem Sinn auf, dass ihre Qualen kurz seien, sonst wird auch ihr Leben eine Dauer von Qual, Erniedrigung und Gemeinheit sein. Sie müssen ja doch einmal, wie Ihr, meinen Weg gehen. Also denkt daran. Wir sehen uns hier nicht mehr wieder. Ich werde immer um Euch rum sein! Auf ein besseres Leben im Jenseits. Lebt wohl!! Die ›Werkzeuge‹ sind schon ganz in der Nähe und suchen uns. Sie möchten die Belohnung verdienen, die Gerechten – es wird nicht so einfach sein. Lebt wohl. Grüßt alle Verwandten. Sie möchten nicht so leichtsinnig urteilen.«
Kurt Sandweg erwacht, während Waldemar Velte am Schreiben ist. Er lässt sich das Wachstuchheft und den Bleistift reichen.
»Liebe Mamma, Bald sind wir in einer besseren Stätte. Mach Dir nichts draus, wir gehen gerne, das weißt Du ja. Wir sehen uns dort wieder! Lass die Menschen reden; sie hätten besser helfen sollen, denn wir taten es nicht gerne. Vielen Dank für alles Gute, leider kann ich es Dir nicht gutmachen. Dein Kurt«
Dann schreibt auch Waldemar Velte an Kurt Sandwegs Mutter.
»Liebe Frau Sandweg! Jetzt ist die letzte Stunde gekommen. Wir haben unseren Lebenszweck scheinbar erfüllt. So enden ideale Menschen! Oder man muss mit den Weltverbrechern ins selbe Horn blasen. Unsere Ehrlichkeit hielt uns hiervon ab. Wir sterben gerne. Diese Hölle bietet uns keinen Reiz. Vielen Dank für alles Gute, das Sie mir erwiesen haben. Ich hätte es gerne wieder gutgemacht. Es ist mir nicht vergönnt. So scheiden ich und Kurt von Ihnen in ewiger Erinnerung. Wir sehen uns alle auf einem besseren Stern wieder. Hoffentlich sind nicht so viele elende Menschen da. Auf Wiedersehen!«
Während Kurt und Waldemar auf den Ansturm der Uniformierten warten, geschieht am Waldrand etwas Erstaunliches: Die Soldaten brechen ihre Geschützstände ab, die Polizisten heben ihre Nagelbretter von der Straße auf, die Grenzwächter nehmen ihre Hunde an die kurze Leine, und dann steigen sie alle in ihre Autos, Motorräder und Lastwagen und fahren weg. Fort. Die Blockade ist aufgehoben. Die Einsatzleitung ist zu dem Schluss gekommen, dass den Bankräubern im Schutz der Nacht die Flucht durch den Polizeikordon gelungen sein muss.