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Die Zeitungsschreiber zogen am Montag eine Bilanz des Dramas, und alle taten es auf ihre Weise. Der Chefredakteur des kommunistischen »Vorwärts« titelte: »Göringsche SA-Banditen morden in Basel. Die Basler Polizei ist unfähig gegen Verbrecher, aber scharf gegen Arbeiter. Die grauenhaften Mordtaten finden bisher nichts Ähnliches in den Annalen der hiesigen Kriminalität. Was ist das für ein Geist, wessen Handwerk ist diese mit teuflischer Kaltblütigkeit ausgeführte Kette ungeheuerlicher Verbrechen? Der Schießerlass des Morphinisten Göring ist es, der die Revolver locker macht. Wo es Massenschlächter gibt, soll es keine kleinen Bestien geben? Das wäre verwunderlich!«
Anders das »Katholische Volksblatt«: »Die Rücksichtslosigkeit und Verwegenheit von Sandweg und Velte kennzeichnet die Gemeingefährlichkeit dieser abscheulichen Subjekte in Teufelsgestalt. Derartige Unmenschlichkeit ist ein schlagender Beweis für die Verrohung gegenüber hohen Werten wie Leben und Eigentum, von Sitte und Moral speziell bei der Jugend. Sittenverwilderung, Glaubens- und Gottlosigkeit tragen eine große Schuld an diesem Niedergang.«
Darauf wiederum entgegnete die sozialdemokratische »Arbeiter-Zeitung«: »Ich frage euch: Ist die Achtung vor dem Menschenleben all jenen, die nach Sühne schreien, so heilig? Finden es die Herren Arbeitgeber nicht selbstverständlich, dass der Arbeiter und die Arbeiterin ihr Leben täglich um des Profites des Unternehmers willen und der Lebensnotwendigkeit ihrer selbst willen aufs Spiel setzen? Wenn dann einer sein Leben lassen muss, wo bleibt die Entrüstung?
Wo bleibt die Achtung vor dem Menschenleben, wenn eine Schiffsgesellschaft aus Profitsucht den Kasten hoch versichert und mit einer wertlosen Ladung aufs Meer schickt, in der Annahme, dass er sinkt, um hohe Versicherungsprämien einzusacken, unbekümmert um die Menschen auf dem Schiffe? Ist die Entrüstung ob dem Verbrechen bei jenen echt, die hier den Mord verabscheuen, aber ihn in anderer Auflage oder Art sogar fordern und mitmachen? Wir entsinnen uns noch, wie während der Kriegszeit die Schlachtberichte von einer sensationslüsternen Menschenklasse gelesen wurden, die zwischen Suppe und erstem Gang von 10 000 Gefallenen und 30 000 Verwundeten Kenntnis nahm. Wo bleibt die Entrüstung ob all dem Morden, wo bleibt sie heute, wo die faschistische Presse aus politischem Kalkül zum Mord hetzt?«
Die »Basler Nachrichten«, »Intelligenzblatt der Stadt Basel«, wunderten sich über die Tatsache, dass Sandweg und Velte »sich gegen die bestehende Gesellschaftsordnung auflehnten, obwohl sie dazu gar keinen Grund gehabt hätten, denn ihre Väter waren vermögende und äußerst beliebte Unternehmer. Im übrigen weist das Drama darauf hin, dass ausländische Elemente mit einem höheren Prozentsatz an Verbrechen beteiligt sind. Wenn dem wirklich so ist, erscheint die Flüchtlingsfrage in einem anderen Licht. Es darf nicht sein, dass das Asylrecht die Sicherheit des Landes gefährdet. Ansonsten besteht die Gefahr, dass im Volk eine psychosenhafte Ausländerhetze entsteht.«
Den deutschen Zeitungen war die Angelegenheit eher peinlich. Am 1. Februar etwa schrieb das »Stuttgarter Neue Tagblatt«: »… teilen wir diese neusten Ergebnisse polizeilicher Nachforschungen mit. Allerdings mit einem gewissen inneren Widerstreben, denn es will uns beinahe scheinen, als ob man durch die unausgesetzte Beschäftigung mit den beiden Verbrechern und ihren Verbrechensmotiven den Menschen, um die es sich hier handelt, beinahe zu viel Bedeutung beimesse. Das gilt auch für ihre Aufzeichnungen, die wahrscheinlich als Produkte geistig unreifer und ethisch verdorbener Menschen angesehen werden müssen. Man soll den Fall, der in seiner Brutalität eindeutig genug ist, nicht durch allzu viel Psychologie unnötig komplizieren.«
Und der »Schwäbische Merkur« meinte: »Wenn man sie auf deutschem Gebiet hätte gefangennehmen können, wären sie ja ohnedies unter dem Beil des Scharfrichters geendet. Anders allerdings in der Schweiz, wo es ja die Todesstrafe nicht gibt.«
In der Jugendbeilage der »Basler Arbeiter-Zeitung« schrieb ein junges Mädchen: »Es ist so viel geschrieben, so viel geschrien worden über Velte und Sandweg, von allen Seiten in den gleichen Tönen: Mörder, Bestien, SA-Banditen! Man ist ganz müde davon geworden, ganz traurig, dass die Menschen so eng sind. Gibt es wirklich nichts sonst zu sagen über diese beiden? Haben wir nicht etwas anderes empfunden bei ihrem Schicksal?
Wir, die wir in der gleichen Zeit herangewachsen sind wie sie, die wir diese Welt gleich empfinden müssen wie sie, als eine Welt, die der Jugend keinen Raum gibt, keinen Platz, wo sie ihre Gaben verwerten kann, die nur das eine bietet: Arbeitslosigkeit.
In dieser Welt leben junge Leute, begabt, voller Energie, voller Verlangen, ihre Fähigkeiten zu nützen, einen Platz im Leben zu haben. Die Gesellschaft kann sie nicht brauchen. Ist es nicht verständlich, dass sich ihre Energie gegen diese Gesellschaft wendet?
Velte und Sandweg hatten Mut, Draufgängertum, wollten, dass das Leben einen hohen Einsatz von ihnen fordere. Die Arbeitslosigkeit, die Hoffnungslosigkeit weckte in ihnen den Hass gegen die ganze Umwelt. Gegen diesen Feind setzten sie alle ihre Kräfte ein. Da man ihnen keine Aufgabe bot, schufen sie sich eine Aufgabe, an die sie ihre Energie wenden konnten. Und ist es so unverständlich, dass das Leben anderer nicht mehr so schwer wiegt, wenn man sein eigenes waghalsig aufs Spiel setzt?
Gewiss haben sie den Kampf gegen die Gesellschaft auf ganz falsche, ganz unvernünftige Weise geführt, aber kann eine Welt ohne alle Vernunft Vernunft von den Menschen verlangen?
Kleinere Leute gewöhnen sich langsam an den Irrsinn dieser Zeit und treiben so mit; größere kann sie zum Irrsinn bringen. Der Tod der beiden hat bewiesen, dass sie Menschen von Format waren. Ihr Glaube an das Mädchen hat ihre innerste Güte und Vornehmheit gezeigt.
Jugendgenossinnen und Jugendgenossen! Wir wollen Waldemar Velte und Kurt Sandweg in warmem und verstehendem Andenken behalten. Kämpfen wir mit neuem Ernst gegen diese Gesellschaft, die wertvolle Menschen auf einen irrsinnigen Weg treibt!«
Darauf antwortete ein älterer Genosse am folgenden Tag: »Für mich sind die beiden auch Opfer der Gesellschaft, und zwar der spezifisch deutschen gesellschaftlichen Verhältnisse. Opfer jener furchtbaren militärischen Erziehung, die den Krieg zum Kult macht, die jedem die Aufgabe stellt, von seinen Mitmenschen so viele wie möglich zu erledigen. Hätten Sandweg und Velte in Deutschland Sozialdemokraten erschossen oder ›erledigt‹, anstatt Bankangestellte in Stuttgart oder Basel zu erschießen, sie wären umstrahlt von der Gloriole des Dritten Reiches, sie hätten die Anerkennung der Hitler, Göring und Co. Weil sie das nicht taten, sind sie auch nicht durch ihren Tod ›Menschen von Format‹; voll ›innerster Güte und Vornehmheit‹, die die sozialistische Jugend ›in warmem und verstehendem Andenken bewahren‹ kann.
Gegen eine solche gesellschaftskritisch sein sollende Beurteilung, die in Wirklichkeit eine sentimentale kitschige Verherrlichung und Empfehlung ist, die mir einer Karl-May-Psychose zu entstammen scheint, protestiere ich. Menschen wie Sandweg und Velte sind samt all ihren Opfern zu bedauern, aber diese beiden sind keine Helden der sozialistischen Jugend.
Vielleicht wirft man mich deshalb zu den kleineren Leuten, aber da ich als Sozialist nicht das Leben der Velte und Sandweg führen kann, werde ich auch nicht durch meinen Tod beweisen, dass ich zu den ›Menschen von Format‹ gehöre.«