20

Sonntagabend, zweiundzwanzig Uhr zehn. Dorly Schupp hat sich das ganze Wochenende zu Hause verschanzt. Die gnadenlose Kummermiene der Mutter war zwar schwer zu ertragen – die faltig zusammengepressten Lippen, die konzentrisch um die Augen vorstehenden Adern, das Schweigen, das Ticken der Wanduhr; noch schwerer zu ertragen gewesen wären aber die neugierigen Blicke der Nachbarn, das mitfühlende Geschwätz der Arbeitskolleginnen, das Getuschel von Unbekannten auf der Straße. Es ist Zeit, zu Bett zu gehen. Dorly steht im Nachthemd vor dem Waschtisch und kämmt ihr Haar, als das Läutewerk im Flur schellt. »Ich wusste sofort, dass das nur Sandweg und Velte sein konnten. Ich schickte meine Mutter zu den Nachbarn im zweiten Stock, damit sie die Polizei alarmiere, während ich in den dritten Stock zum Apparat der Familie Herzog stieg. Es war also meine bestimmte Absicht, die Polizei zu alarmieren. Meine Mutter vorgeschickt habe ich, um keine Zeit zu verlieren.«

 

Abschrift des Telefongesprächs zwischen Viktoria Schupp und Kurt Sandweg, abgehört am Sonntag, 21. Januar 1934, 22.13 Uhr, von Det.-Kpl. M. Werner:

»Hallo, hier Viktoria Schupp.«

»Ach ja, Sie sind es, Fräulein Dorly.«

»Kurt! Das ist doch schrecklich, das ist furchtbar!«

»Aber, Dorly, regen Sie sich nicht auf. Das ist nichts Furchtbares, das ist gar nichts.«

»Du Blödian! Wo seid ihr?«

»Ganz nah. Im großen Park hinter dem Bahnhof.«

»Was? Hier in Basel?«

»Ja.«

»Seid ihr wahnsinnig? In welchem Park?«

»Na, der hinter dem Bahnhof.«

»Der mit der Kunsteisbahn?«

»Ja, genau.«

»Ist Waldemar auch da?«

»Nicht direkt, aber in der Nähe. Hier im Park. Hören Sie zu, Fräulein Dorly. Würden Sie uns bitte etwas zu essen bringen?«

»Was?«

»Wir haben schrecklichen Hunger.«

»Das ist doch … na gut. Wo soll ich euch treffen?«

»Am Höhenweg, beim Astronomischen Institut. Ich werde dann pfeifen.«

»Was soll ich bringen?«

»Irgendwas. Egal. Ein Brot.«

»Also gut.«

»Fräulein Dorly?«

»Ja?«

»Wie lange wird es dauern?«

»Na, eine ganze Weile. Ich wollte grad zu Bett gehen. Erst muss ich mich anziehen, und für den Weg brauche ich auch meine Zeit. Ihr müsst halt warten, bis ich komme.«

»Verstehe. Es tut mir leid, dass wir Ihnen Umstände bereiten. Sie werden es wohl wissen, wir werden verfolgt.«

»Ja. Dann werde ich mich jetzt bereitmachen.«

»Ja. Vielen Dank, Fräulein Dorly.«

»Bis gleich.«

»Bis gleich.«

 

»Ich hatte gerade genug Zeit, mich anzuziehen, als schon ein Polizeiwagen vor dem Haus hielt, um mich abzuholen. Nachdem ich verschiedentlich gefragt worden war, ob ich mich zu den beiden in den Park begeben wolle, bejahte ich, nicht etwa deshalb, weil ich die beiden nochmals sehen wollte, sondern weil ich damit rechnete, auf diese Weise der Polizei behilflich zu sein, der Mörder habhaft zu werden. Ich verließ in der Margarethenstraße den Wagen, begab mich via Gundeldingerstraße zum Batterieweg, und als ich zur südlichen Eingangstür des Parks kam, die neben dem Höhenweg liegt, hörte ich einen leisen Pfiff und die Worte: ›Fräulein Dorly, kommen Sie in den Park.‹ Die Zugangstür war offen. Ich stieg die hölzerne Treppe, die von der Eingangstür in den Park hineinführt, hinab und sah dann die beiden auf dem Fußweg direkt unterhalb der Treppe nebeneinanderstehen. Beide hielten ihre Pistolen in der Hand und starrten mich an. Sie waren durchaus verwahrlost und hatten die Mäntel gewechselt, Sandweg trug den dunklen Mantel, Velte den graugesprenkelten. Velte glotzte mich nur an und blieb vollständig stumm. Ich übergab dann mein mitgebrachtes Päcklein, das ein Pfundlaibli Schwarzbrot darstellte, dem Velte. Dieser nahm es stillschweigend an sich. Es trifft zu, dass ich das Brot ins Extrablatt der ›National-Zeitung‹ eingewickelt hatte, in dem ausgiebig über den Mord an der Sperrstraße berichtet wurde. Ich wollte ihnen damit vor Augen führen, was sie getan hatten. Ich machte sie auf die Zeitung aufmerksam, jedoch nahmen sie keine Notiz davon.

Ob sich die beiden überworfen hatten, kann ich nicht sagen. Velte schnitt eine düstere Miene, Sandweg war freundlich, ich konnte bei ihm sogar ein Lächeln bemerken. Im allgemeinen herrschte eine düstere Stimmung, und sie schienen seelisch stark mitgenommen. Ich bekam den Eindruck, insbesondere von Velte, dass sie sich für verloren hielten. Rückblickend bin ich mir sicher, dass sie zu jenem Zeitpunkt jede Hoffnung aufgegeben hatten, den Margarethenpark lebend zu verlassen.

Ich redete sie nun in leisem Ton an mit den Worten: ›Aber, aber, was habt ihr getan!‹, worauf Velte erwiderte: ›Seien Sie ruhig, Fräulein Dorly. Haben Sie keine Polizei gesehen?‹ ›Nein‹, entgegnete ich, ›ich bin von hinten herauf gekommen und habe niemanden gesehen.‹ Sandweg sagte zu mir, indem er mir mit der Hand, in der er die Pistole hielt, auf die Schulter klopfte: ›Das ist lieb von Ihnen, dass Sie gekommen sind.‹

Ich frug Sandweg, wieso sie die Mäntel getauscht hätten. Darauf antwortete er, Velte habe in seinem durchnässten Mantel so sehr gefroren, da habe er ihm seinen gegeben, da dieser noch ein bisschen trockener gewesen sei. Dabei hatte Sandweg seine Blicke Richtung Binningen inne, also zum Rand des Parkes hin. Plötzlich muckte er auf und rief ziemlich laut: ›Auh, die Polizei!‹ Er fasste Velte am Arm, und sie rannten zusammen den Fußweg hinunter in den Park. Der Umstand, dass sie sich beim Flüchten am Arm hielten, ließ den Schluss zu, es herrsche zwischen den beiden noch der vorherige Frieden.

Ich blieb stehen, bis ich sie nicht mehr sehen und ihre Schritte nicht mehr hören konnte. Dann stieg ich wieder die hölzerne Treppe hoch und trat hinaus auf den Höhenweg. Dortselbst wurde ich von mehreren Polizeimännern in Empfang genommen. Da ich erschöpft war, legte ich mich hinter dem Polizeikordon für einige Zeit auf die Wiese.«

 

*

 

Dorly liegt im spröden Gras vom letzten Sommer und sieht hinauf in den Nachthimmel, den der Westwind aufgerissen hat; die Wolkenränder leuchten weiß vom Licht des Mondes, in den schwarzen Löchern dazwischen blinken ein paar Sterne. Am Rand des Parks steht hinter jedem Baum ein uniformierter Polizist. Jeder trägt einen Stahlhelm auf dem Kopf und ein Gewehr in der Hand, und jeder starrt hinein ins Dunkel des Parks und wartet auf die Dämmerung. Von Zeit zu Zeit huscht ein ziviler Beamter von Baum zu Baum, von Polizist zu Polizist, und gibt flüsternd Anweisungen. Einer wird auf Dorly aufmerksam und kommt auf sie zu. Es ist der Erste Staatsanwalt, Doktor Stephan Hungerbühler. Er weist Dorly darauf hin, dass der Boden gefroren sei und sie sich den Tod hole, nimmt sie an der Hand und versucht sie hochzuziehen. Aber Dorly entwindet ihm die Hand und bittet ihn, sie noch einen Augenblick liegenzulassen. Darauf verschwindet der Staatsanwalt und kehrt mit zwei Wolldecken zurück. Eine breitet er neben Dorly aus, die zweite legt er am Kopfende bereit.

»Um nicht undankbar zu erscheinen, ließ ich mich auf der einen Decke nieder und breitete die andere über mir aus. Wenige Augenblicke später fielen ganz kurz nacheinander zwei Schüsse; ich glaubte im ersten Moment sogar, dass es nur einer sei. Die Schüsse fielen vielleicht zehn oder fünfzehn Minuten nach meiner gehabten Unterredung mit Sandweg und Velte. Die Schüsse erschütterten mich stark; dies nicht etwa nur wegen meiner platonischen Liebe zu Velte und der Freundschaft zu Sandweg, sondern grundsätzlich wegen des Gedankens, dass in meinem Beisein Bleikugeln gegen Menschen abgefeuert wurden.«

Dorly Schupp zieht sich die Decke über den Kopf, dreht sich zur Seite und zieht die Knie an. Die vorbeigehenden Beamten betrachten das Bündel Mensch unter der Decke mit hochgezogenen Brauen, verlangsamen ihre Schritte und gehen dann rasch weiter. In der Stadt schlägt die erste Kirchturmuhr Mitternacht, dann stimmen alle anderen Kirchturmuhren ein. Als es wieder still ist, fallen erneut zwei Schüsse. Diesmal sind es eindeutig zwei Schüsse. Ein Schuss, Stille, dann noch ein Schuss.

»Nach den neuerlichen Schüssen war ich mit meinen Kräften am Ende. Ich stand auf, faltete die Decken zusammen, brachte sie dem nächststehenden Beamten und bat darum, nach Hause gefahren zu werden. Dieser Wunsch wurde mir umgehend gewährt. In meinem Zimmer ließ ich mich aufs Bett fallen, ohne dass ich vorgängig Schuhe und Mantel ausgezogen hätte, und verfiel in einen tiefen Erschöpfungsschlaf, aus dem ich erst am Nachmittag des folgenden Tages erwachte. In den ersten Minuten erinnerte ich mich kaum an die Ereignisse der vergangenen Nacht, und als ich sie endlich präsent hatte, erschien mir alles ganz unwirklich.«

 

*

 

»Au, die Polizei!« hatte Kurt gerufen, und dann waren die beiden in die Tiefe des Parks geflohen, Kurt mit der Pistole in der Hand, Waldemar das Brot fest an die Brust gepresst. Außer Sichtweite, hatten sie sich auf eine Parkbank fallenlassen, und Waldemar hatte noch einmal sein Wachstuchheft zur Hand genommen.

 

»lb. Dorly! Verzeih, wenn ich Dir das antun musste. Wir haben das Rechte gewollt. Die Welt ist zu schlecht für uns. Begrabt mich auf dem Hörnli. Kurt grüßt auch. So war es also das letzte Mal, dass ich auf dieser Welt in Deinen Armen lag. Wir sehen uns wieder. In dem Maße, wie uns die anderen schlechtheißen, waren wir gut. Auf Wiedersehen, mein Letztes, lebe wohl! Wir zwei gehören zusammen. Du größtes Glück meines Lebens. Einziger Sonnenschein für mich.«

 

Während einen Steinwurf entfernt der Staatsanwalt neben Dorly Schupp eine Wolldecke ausbreitet, stehen Sandweg und Velte von der Parkbank auf. Dorly nimmt auf der Decke Platz, Kurt und Waldemar ziehen ihre Pistolen aus den Manteltaschen und halten sie einer dem anderen an die rechte Schläfe. Dorly breitet die zweite Wolldecke über sich aus. Waldemar und Kurt zählen bis drei und drücken ab. Dabei ist Waldemar Velte einmal mehr eine Spur entschlossener, aufs Ganze zu gehen.

 

»Es ist genau fünf Minuten nach Mitternacht. Mein Kopfschuss sitzt nicht. Ich habe Kurt noch einen dazu und einen Herzschuss gegeben.«

 

Als Dorly Schupp die Wolldecken faltet und ins Polizeiauto steigt, sitzt Waldemar wieder auf der Parkbank, Sandwegs zuckenden Körper zu Füßen, das in Zeitungspapier gewickelte Brot neben sich auf der Bank. Eine Stunde sitzt er so da, ohne das Brot anzurühren, eine zweite, dritte, vierte, fünfte und sechste Stunde. Kurz vor sieben Uhr graut der Morgen zwischen den nackten Bäumen. Dorly schläft tief und fest, als Waldemar Velte unter den Blicken von achthundert Polizisten aufsteht, den Mantel aufknöpft, in die Tasche greift, die Pistole zieht, sie zur Brust führt und abdrückt.

 

*

 

Otto Beck, Polizeimann, stationiert am Claraposten: »Ich sprang mit anderen Polizisten zu der Ruhebank, vor der die beiden Mörder am Boden lagen, und da sah ich, wie die Hände des daliegenden Velte noch krampfartig zuckten und dessen Pistole rechts vom Körper am Boden lag.«