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Als mein Großvater am folgenden Dienstag mittags vor der Post auftauchte, brachte er keine Rosen mit, sondern eine gerollte Morgenausgabe der »National-Zeitung«, mit der er sich bei jedem Schritt gegen die Hosennaht schlug. Er nahm neben Großmutter auf der Sitzbank Platz, strich die Zeitung auf seinem Schoß glatt, rollte sie wieder zusammen und strich sie erneut glatt.

»Na, heute kein Training?« fragte Großmutter.

»Heute schon Zeitung gelesen?« entgegnete Großvater.

»Ich lese nie Zeitung.«

»Die zwei Mörder sind gestern bestattet worden.«

»Ach ja?«

»In Basel. In anonymen Anatomiegräbern.«

»Aha?«

»Selbstmörder haben kein Anrecht auf ein christliches Begräbnis.«

»Aha.«

»Soll ich’s dir vorlesen?«

Marie gab keine Antwort. Sie blickte starr geradeaus auf die Landstraße, auf der es in der mittäglichen Ruhe nichts zu sehen gab. Ernst schlug die Zeitung auf und las vor: »… hat die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt über Polizeifunk in Wuppertal anfragen lassen, was mit den Leichen Sandwegs und Veltes zu geschehen habe. Beide Familien verzichteten auf eine Heimschaffung. Waldemar Veltes Vater meldete sich zwar zunächst telegraphisch zur Bestattung in Basel an, teilte dann aber auf nochmalige Befragung mit, dass er aus finanziellen Gründen von der Reise absehe. Darauf hob der Staatsanwalt die Beschlagnahme der Leichen auf. Soll ich weiterlesen?«

»Wenn du willst.«

»Nicht unbedingt.«

»Warum willst du’s mir vorlesen?«

»Nur so.«

»Findest du, dass mich das interessieren müsste?«

»Nein«, sagte Ernst.

»Na gut. Wo sind sie begraben – am Hörnli?«

»Wieso am Hörnli?«

»Nur so. Also wo?«

»Moment.« Er schlug die Zeitung auf. »Hier: auf dem Gottesacker Wolf. Keine Ahnung, wo der ist.«

»Aber ich. Zwischen dem Güterbahnhof und dem Fußballstadion.«

»Aha.« Ernst warf Marie einen argwöhnischen Seitenblick zu. »Wieso weißt du das?«

»Eine Tante von mir liegt da.«

»Ach ja?«

»Tante Erna. Ich sollte sie wieder einmal besuchen.«

Ernst glaubte nicht an die Tante auf dem Wolfsacker. Er legte die Zeitung zwischen sich und Marie auf die Bank, dann kraulte er Hassos Fell. Sie fuhr mit dem Daumennagel die Seitennaht ihres Rocks hinauf und hinunter. Bald würde der Postmeister aus dem Mittagsschlaf erwachen, dann wäre die Besuchszeit vorbei. Ernst griff wieder nach der Zeitung.

»Hier steht, dass morgen die Opfer der Mörder bestattet werden.«

»Aha.«

»Auf dem Hörnli.«

»Aha.«

»Eine große Zeremonie. Öffentlich.«

»Hm.«

»Ich habe mir gedacht, wir könnten hingehen.«

»Wer – du und ich?«

»Ja. Möchtest du etwa nicht hingehen?«

»Wieso?«

»Nur so. Wenn du nicht hingehen willst, kannst du es mir sagen.«

»Wieso sollte ich nicht hingehen wollen?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Oder MUSS ich etwa hingehen?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Findest du, dass ich da hingehen MUSS? Nur weil ich EINMAL mit denen spazierengegangen bin?«

»Zweimal. Aber das habe ich nicht gesagt.«

»Ich MUSS da nicht hingehen.«

Dann saßen sie wieder stumm nebeneinander mit trotzig vorgeschobenen Unterlippen. Die Mittagspause neigte sich dem Ende zu. Auch Hasso fühlte das. Er stand auf, gähnte und streckte sich, trottete hinüber zu seinem Wassernapf und trank einen Schluck. Er lief über den Hof zur Landstraße, schaute argwöhnisch erst nach Süden, dann nach Norden und bellte kurz. Dann kehrte er zur Sitzbank zurück und ließ sich wieder zu Füßen von Marie nieder.

»Ich MUSS da nicht hingehen«, sagte sie. »Aber ich sehe nicht ein, wieso ich da NICHT hingehen soll.«

»Natürlich nicht.«

 

*

 

»Beschluss der Staatsanwaltschaft Basel-Stadt vom 27. Juni 1934: Das Strafverfahren gegen Waldemar Velte, preußischer Staatsangehöriger, geboren 4. August 1910, ledig, Techniker, und Kurt Sandweg, preußischer Staatsangehöriger, geboren 3. August 1910, ledig, Schlosser, betreffend:

erstens Mord, begangen an Arnold Kaufmann, Jacques Beutter, Jakob Vollenweider, Alfred Nafzger und Hans Maritz; betreffend zweitens Mordversuch, begangen an Walter Gohl; betreffend drittens rechtswidrigen Gebrauch von Fahrzeugen (1 Auto und 2 Fahrräder), wird eingestellt wegen Todes der beiden Angeschuldigten.

Von den im Zimmer gefundenen Gegenständen bleiben beschlagnahmt: 1 Munitionstasche, 1 Pistolentasche, 1 Dietrich, 1 Pistolenmagazin, 1 Futteral, 2 Taschenlampen, 1 Taschennotizbuch, 1 Totschläger, 14 Fotografien, 1 schwarzer Filzhut. Von den auf der Leiche des Velte gefundenen Gegenständen bleiben beschlagnahmt: 1 Walterpistole, 1 Magazin mit 7 Patronen, 2 Autoschlüssel, 1 Notizbuch. Von den auf der Leiche des Sandweg gefundenen Gegenständen bleiben beschlagnahmt: 1 Pistole DRGM, 1 Schlüsselbund mit 3 Schlüsseln und 6 Autosteckschlüsseln, 1 Dietrich, 1 Lederetui mit 2 Autoschlüsseln. Die übrigen Sachen stehen zur Verfügung der Angehörigen. Der sichergestellte Damenschirm geht zurück an Fräulein Viktoria Schupp, Palmenstraße 23.«

 

*

 

Hilde Velte: »Was mit den Sachen geschehen ist, weiß ich nicht. Wir haben nichts davon haben wollen. Ich glaube, die werden normalerweise dann versteigert. Nein, auch das Reisegrammophon und die Schallplatten wollten wir nicht. Hätten wir die vielleicht abspielen sollen?«

 

*

 

Die Schweizerische Kreditanstalt stellte der baselstädtischen Regierung zehntausend Franken zur Verfügung für die Hinterbliebenen von Jacques Beutter, Arnold Kaufmann, Hans Maritz, Alfred Nafzger, Franz Zellweger und Jakob Vollenweider.

 

*

 

Tausende von Menschen zogen am folgenden Mittwoch auf den Friedhof am Hörnli, zur Totenfeier der drei erschossenen Polizisten – zu Fuß, in überfüllten Autobussen und in langen Reihen von Privatautos. Voran marschierte die Polizeimusik, gefolgt von vierhundert Basler Polizisten, dann Polizeidelegationen aus der ganzen Schweiz, deutschen Ordnungshütern mit Tschako und Pickelhaube sowie französischen Gendarmen mit flachen Mützen, und schließlich die Basler Bevölkerung, scharf beobachtet vom Reporter der »National-Zeitung«. »Ernsthafte Männer und Frauen sah man hier daherschreiten aus dem Gefühl heraus, irgendwie den Opfern und deren Familien ihre Anteilnahme zu bezeugen.«

Unter ihnen schritten auch Marie Stifter und Ernst Walder daher – er aus einem Gefühl schlecht versteckten Triumphs heraus, sie irgendwie bebend vor ebenso schlecht verstecktem Zorn.

Der Weg zum Hörnli war sehr weit.

»Ist dir kalt?« fragte er. »Möchtest du umkehren?«

»Wieso sollte ich umkehren wollen?«

»Nur so. Falls dir kalt ist.«

»Wir haben hingewollt. Jetzt gehen wir hin.«

Als sie am Hörnli anlangten, hatte die Totenfeier schon begonnen. Der Aufgang zur Kapelle war mit Kränzen bedeckt, die Kapelle zum Bersten gefüllt. Ernst nahm Marie am Arm, bahnte sich mit schulmeisterlicher Autorität einen Weg durch die Menge und war erst zufrieden, als sie in der ersten Reihe vor den drei Särgen standen, inmitten von Regierungsräten, hohen Militärs und geistlichen Würdenträgern. Dann begannen die Ansprachen: eine katholische für Jakob Vollenweider, je eine evangelische für Hans Maritz und Alfred Nafzger, gefolgt von einer weltlichen Rede von Polizeidirektor Carl Ludwig namens der Basler Regierung.

Die Feier war sehr lang.

»Ist dir immer noch nicht kalt?« flüsterte Ernst, der seinen Sieg ausgekostet hatte und jetzt gern zur Versöhnung bereit gewesen wäre. »Wir können heimgehen, wenn du willst.«

»Psst!« zischte Marie. »Wieso sollte ich heimgehen wollen!«

Marie und Ernst blieben bis zum Schluss der Feier, und zwar in der vordersten Reihe. Nach einem Vortrag der Gesangssektion des Polizeikorps ehrte die Fahne des Polizeischützenvereins zum letzten Mal die Toten. Dann würdigte der Sprecher des Polizeimännervereins die drei verdienstvollen Beamten, grüßte sämtliche Delegationen auswärtiger Polizeikorps, verdankte und verlas die zahlreichen eingegangenen Zuschriften. Nach einem Choral der Polizeimusik und einem gemeinschaftlichen Gebet wurden Maritz’ und Nafzgers Särge zur Einäscherung ins Krematorium gebracht, jener von Vollenweider hinüber zum Grab gezogen und der Erde übergeben, während die Polizeimusik den letzten Gruß ins Grab sandte.

Langsam flutete die Menschenmenge heimwärts. Damit sie nicht voneinander getrennt wurden, nahm Ernst Marie am Oberarm. Dabei berührte er versehentlich ihre Brust, wofür er sich entschuldigte und sie ihn mit einem Stirnrunzeln strafte.

»Möchtest du schon heimfahren?« fragte er. »Oder wollen wir spazierengehen?«

»Spazieren? Wohin?«

»Zum Rheinhafen. Wenn du magst. Schiffe anschauen.«

»Habe ich schon gesehen. Aber meine Tante habe ich schon lange nicht mehr besucht.«

»Welche Tante?«

»Tante Erna. Auf dem Wolfsacker. Hast du etwas dagegen, dass wir sie besuchen?«

»Wieso sollte ich etwas dagegen haben?«

»Wenn’s dir nicht recht ist, müssen wir nicht hingehen.«

»Wieso sollte es mir …«

 

Undsoweiter.