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Meine Großeltern mütterlicherseits sind geboren, aufgewachsen und haben ihr ganzes Leben verbracht in einem Dorf im Basler Hinterland, das sich weitab vom Stadtlärm zwischen die letzten sanften Ausläufer des Jura schmiegt. Die Gegend ist berühmt für ihren Kirschenschnaps, und von den Hügeln aus hat man eine schöne Aussicht nach dem Elsass im Westen und in den Schwarzwald im Norden. Wenn Deutschland und Frankreich gerade wieder im Krieg miteinander standen, rollte der Geschützdonner über die Berge, und nachts konnte man das Wetterleuchten der Mündungsfeuer sehen. Leibhaftige fremde Soldaten aber waren im Basler Hinterland seit den Napoleonischen Kriegen keine mehr aufgetaucht.

Mein Großvater hieß Ernst Walder und war der älteste Spross einer wohlhabenden Bauernfamilie, die seit 1848 nebenbei auch das Amt des Dorfschulmeisters innehatte. Mitte der zwanziger Jahre hatte er seinen Vater als Schulmeister abgelöst, weil dieser die ewig gleichbleibende Unwissenheit der Dorfkinder nicht mehr ertrug. Im Lauf der Jahre hatte Ernst vom Vater nacheinander auch das Präsidium des Männerturnvereins übernommen, den Dirigentenstab des katholischen Gesangsvereins und den Sitz im Gemeinderat, der der Familie seit Jahrhunderten zustand. Zu der Zeit, da diese Geschichte spielt, war er zudem Mittelfeldspieler beim Fußballclub, Chef des örtlichen Zivilschutzes und ein beliebter Grabredner – darüber hinaus groß, kräftig, gutaussehend, dreiunddreißig Jahre alt und ledig.

Großmutter war sieben Jahre jünger, drall und rund und blond und einzige Tochter einer ebenso wohlhabenden Bauernfamilie, die seit Menschengedenken nebenbei die Post und das Restaurant »Zur Traube« führte. Marie Stifter konnte Klavier spielen und hatte in Lausanne Französisch gelernt, und früher oder später würde sie eine beträchtliche Menge Bauland erben.

Ernst Walder und Marie Stifter waren im Dorf die attraktivsten Heiratskandidaten ihrer Generation, und zwar mit Abstand – gutgewachsene Sprösslinge zweier alteingesessener Familien, die nicht allzu sehr miteinander verschwägert waren und bisher noch keinerlei Skandal heraufbeschworen hatten. Für das ganze Dorf war klar, dass die beiden füreinander bestimmt waren, und ihnen selbst scheint das auch klar gewesen zu sein, wenngleich auf seltsam freudlose, pflichtbewusste Art. Zwar holte er sie Sonntag für Sonntag zum Spaziergang ab, dann gingen sie Arm in Arm über die Felder; zwar tanzte er am Dorffest ausschließlich mit ihr und sie nur mit ihm; zwar machte er regelmäßig seine Aufwartung auf der Post und in der »Traube«; zwar stand sie hinter dem gegnerischen Tor, wenn der Fußballclub ein Spiel hatte, und vor der Abendunterhaltung des Turnvereins schmückte sie mit den anderen Turnerfrauen den Saal; aber das alles geschah auf allzu zweckmäßige Weise und ohne rechte Begeisterung. Beim Spaziergang fanden sie nie zum wiegenden, harmonischen Gleichschritt eines glücklichen Paares, sondern schlugen beständig mit Ellbogen und Hüftknochen aneinander; auf der Tanzbühne benahmen sie sich derart hölzern und ungelenk, dass man Mitleid mit ihnen haben musste; und wenn sie einander in die Augen schauten, lag in ihren Blicken stets Befremden und Misstrauen. Trotzdem waren sie ein Paar, und beide Familien warteten mit ruhiger Zuversicht darauf, dass er ihr endlich den längst fälligen Heiratsantrag machte. Wenn er es bisher nicht getan hatte, so wohl nur, weil er so viel um die Ohren hatte. Die beiden waren einfach füreinander bestimmt und Schluss.

Ihr Verhältnis gewann auch dadurch nicht an Leidenschaft, dass Marie zur Weihnachtszeit 1933 eine Stelle als Aushilfsverkäuferin in Basel annahm. Überrascht stellte Ernst fest, dass dieses wohlhabende, verwöhnte Mädchen für kleinen Lohn erhebliche Strapazen auf sich nahm: lang vor dem Morgengrauen aufstehen und zu Fuß ins nächste Dorf laufen; von dort mit dem Bus ins Nachbarstädtchen, dann weiter mit dem Zug nach Basel, eingekeilt zwischen tausend anderen Landbewohnern, um von früh bis spät überheblichen Städtern zu Diensten zu sein; und abends denselben Weg wieder zurück.

Ernst Walder war nicht dumm; er verstand, dass die Arbeit im Globus wahrscheinlich die einzige Gelegenheit in Maries Leben bleiben würde, der Enge des Dorfes, der Familie und der Ehe zu entfliehen. Er ließ sie gewähren. Denn erstens waren sie noch nicht formell miteinander verlobt und hatte er also keinerlei verbindliche Ansprüche anzumelden; zweitens ging ihm ihre Abwesenheit nicht allzu sehr zu Herzen; drittens hatte er nichts dagegen einzuwenden, dass sie vor der Hochzeit noch einige Ersparnisse anlegte; und viertens empfand er keine Eifersucht, vielleicht aus Mangel an Vorstellungskraft.

Immerhin wollten es der Zufall und der Personalchef des Globus, dass Marie der Sportartikelabteilung zugewiesen wurde, und dort war Ernst Stammkunde. Es ist überliefert, dass er am vierzehnten Dezember 1933 einen neuen Nabholz-Trainer kaufte, einen schwarzen mit zwei weißen horizontalen Streifen über der Brust. Nachdem er bezahlt hatte, wickelte Marie den Trainer in braunes Packpapier. Ernst stand daneben, bohrte die Fäuste in die Hosentaschen und schaute ihr zu.

»Heute gibt’s übrigens Handballschuhe mit dreißig Prozent Rabatt«, sagte sie.

»Danke höflichst, aber die sind für Handball. Für Fußball kann man die nicht gebrauchen.«

»Das weiß ich. Ich habe nur gedacht, ich sag’s dir.«

»In Ordnung.«

»Sammelst du eigentlich unsere Rabattmarken?«

»Nein.«

»Das solltest du. Es lohnt sich.«

»Wenn du meinst.«

»Sicher. Habt ihr am Sonntag ein Spiel?«

»Nein. Jetzt ist Winterpause. Anfang Februar geht’s wieder los.«

»Ach so.«

»Ja.«

»Übrigens war heute der Dings hier, der Sohn vom Feuerwehrkommandanten.«

»Aha.«

»Der hat ein Fahrrad gekauft, ein teures. Der ist jetzt ein Herr Doktor.«

»Pff, ein Herr Doktor!« An dem Tag, an dem Ernst Walder sich endgültig für seine sichere Lehrerstelle und gegen ein Universitätsstudium entschieden hatte, war in ihm eine tiefe Abneigung gegen Akademiker erwacht. »Was für ein Doktor?«

»Na, ein Herr Doktor halt.«

»Es gibt verschiedene Doktoren, Marie. Es gibt Doktoren der Naturwissenschaften, die befassen sich mit ihrem Handwerk. Dann gibt es Doktoren der Jurisprudenz, die befassen sich mit ihresgleichen. Und dann gibt es Doctores der Philologie, die befassen sich mit blödem Gequatsche.«

»Jaja«, seufzte Marie. »Das hast du schon oft gesagt.«

»Also dann, grüß dich.«

»Grüß dich.«

»Wollen wir zusammen heimfahren?«

»Wenn du magst.«

»Wann soll ich dich abholen?«

»Um sieben. Auf dem Marktplatz. Bei der Tramhaltestelle.«

 

*

 

Zur gleichen Zeit, in der Schallplattenabteilung:

»Fräulein Dorly, da sind Sie ja!«

»Guten Tag, Fräulein Dorly.«

»Guten Tag, die Herren.«

Genau vierundzwanzig Stunden sind vergangen seit der ersten Begegnung in der Schallplattenabteilung des Globus. Dorly gönnt dem Finnen und dem tapsigen Österreicher nur einen kurzen Blick. Haben die ihren Aufenthalt in Basel also tatsächlich um einen Tag verlängert. Heute will Dorly nicht so viel Zeit haben. Die beiden haben sich gestern schon ein bisschen viel herausgenommen mit der Tanzerei und ihrem Gerede von Geburtstagen und Vornamen und Sternzeichen. Sie ist heute sehr beschäftigt mit dem Einräumen der Wareneingänge. Das muss alles erledigt sein, je eher, desto besser, die Adventszeit ist eine strenge Zeit. Die bestellte Schallplatte sucht sie ihnen selbstverständlich heraus, da ist sie schon, bitte. Aber ja, wenn die Herren es durchaus wünschen, kann man die Platte auch gleich hier im Geschäft ein erstes Mal abspielen, allerdings ohne Haftung für irgendwelche Schäden. Dorly legt die Nadel auf die Rille, es knistert und knackt, dann legen fortissimo die Streicher los, begleitet von einem Flügel. Nach drei Takten spielt das Orchester nur noch piano, und der Gesang setzt ein.

 

Ich hab das Leben mir mit angesehen, so wie es war,

Ich fand es immer wieder bunt und schön, so wie es war

Ich ließ mich oft und gern berauschen

Doch heut möcht ich mit keinem tauschen, denn

Seit ich Dir einmal tief ins Herz gesehn,

Fühl ich ganz klar

 

In Deine Hände leg ich mein ganzes Glück

’S ist nur ein kleines Stück, behüt es fein

In Deine Hände, da leg ich Freud und Leid

Zukunft Vergangenheit, mein ganzes Sein

 

Und meint’s das Schicksal gut

Dann bin ich frohgemut

Und meint’s das Schicksal schlecht

Denk ich erst recht

 

In Deinen Händen ruh ich von allem aus

In Deinen Händen bin ich ganz zuhaus

 

Und meint’s das Schicksal gut

Dann bin ich frohgemut

Und meint’s das Schicksal schlecht

Denk ich erst recht

 

In Deinen Händen ruh ich von allem aus

In Deinen Händen bin ich ganz zuhaus.

 

Dorly betrachtet den kleinen Finnen, der mit hängenden Armen und halbgeschlossenen Augen diesem sanften, wehmütig-fröhlichen Tango lauscht. Das also ist seine Musik. Das hätte Dorly nicht gedacht. »Nachdem wir ›In Deine Hände‹ abgespielt hatten, fasste ich Zutrauen zu den beiden, besonders zu Velte. Er schien mir jetzt nicht mehr so düster, sondern im Gegenteil zartfühlend und schutzlos, vielleicht auch etwas verstört.«

Dorly will jetzt nicht mehr, dass die beiden möglichst schnell weggehen. Sie legt eine andere Platte von Willi Kollo auf, dann noch eine und immer noch eine: »Warum hast Du so traurige Augen?«, »Jetzt geht’s der Dolly gut«, »Mach mit mir eine Mondscheinfahrt«, »Ich kenn’ zwei süße Schwestern«, »Lieber Leierkastenmann«.

Viel zu schnell geht die Mittagszeit vorüber. Die Schallplattenabteilung füllt sich mit Kundschaft, Dorly hat keine Zeit mehr. Die Burschen müssen jetzt gehen. »Beim Abschied bestellte Velte eine zweite Schallplatte, die wir aber auch nicht vorrätig hatten; ich glaube, es war dies ›Grüß mir mein Hawaii‹, ebenfalls von Willi Kollo. Wir verabredeten wiederum, dass er sie am folgenden Tag abholen könne.«

Es kommt hin und wieder vor, dass junge Männer auffällig lange bei ihr in der Schallplattenabteilung bleiben. Dorly weiß, was denen an ihr gefällt: ihre geraden Schultern, die schmale Taille und die Tatsache, dass sie nicht den lieben langen Tag blöde hinter dem Tresen hervorlächelt. Vor ein paar Jahren noch hat Dorly zwei oder drei Mal Einladungen angenommen zu einem Spaziergang oder einem Kaffee. Aber jetzt nicht mehr. Es ist doch immer dasselbe und hat nichts zu bedeuten, und wenn es doch einmal etwas zu bedeuten hätte, so würde Dorly das nicht wollen. Die zwei Jahre Ehe mit Anton reichen ihr vollauf. Dieser kleine Deutsche aber ist anders. Der sagt, was er will, nicht mehr und nicht weniger.

»Bitte, Fräulein Dorly, ich möchte mich gern länger mit Ihnen unterhalten. Wollen Sie sich heute Abend mit uns treffen?«

»Mit Ihnen beiden?« fragt Dorly belustigt. Die zwei Burschen scheinen unzertrennlich zu sein.

»Ja.«

»Warum nicht. Nach Ladenschluss, um sieben Uhr. Auf dem Marktplatz, bei der Litfaßsäule.«

»Wir werden da sein.«

»Ich werde vielleicht eine Freundin mitbringen, wenn’s recht ist. Ich weiß noch nicht, ob sie mitkommt, ich werde fragen.«

Die Freundin ist Aushilfsverkäuferin in der Sportartikelabteilung. Freundin – das ist vielleicht ein bisschen übertrieben. Aber von allen Verkäuferinnen gefällt ihr dieses polternde Landmädchen bei weitem am besten. Die ist nicht so langweilig wie diese Stadtbasler Zimtzicken, die nichts als Seidenstrümpfe, Liebesschwüre und Brautkleider im Kopf haben.

Zwei Stunden nach Einbruch der Nacht ist Ladenschluss. Dorly Schupp und Marie Stifter treten hinaus auf den weihnachtlich glitzernden Marktplatz. Männer und Frauen tragen Geschenkpakete in allen Größen heimwärts. Der Sankt Nikolaus vom Kaufhaus Rheinbrücke ist mit seinem Doppeldecker weggeflogen, die Kinder sind längst zu Hause. Fräulein Freundlich wärmt ihre klammen Glieder im nächsten Kaffeehaus, und ihr gegenüber sitzt der Reklamechef. Oder der Abteilungsleiter.

 

*

 

An der Straßenbahnstation steht Ernst Walder. Er beobachtet, wie seine Marie am Arm einer fremden Frau auf zwei unbekannte Männer zugeht, die bei der Litfaßsäule stehen. Gutangezogene junge Männer in Knickerbockers. Richtige Lackaffen. Ernst wundert sich: Hat Marie ihn denn nicht gesehen, hat sie ihre Verabredung vergessen? Soll er ihr winken, ihr hinterherlaufen? Nein. Er sieht es an ihrem steifen Hals, dass sie ihn weder vergessen noch übersehen hat und dass es sie viel Kraft kostet, nicht zu ihm hinzuschauen. Ernst wartet ab, was weiter geschieht.

 

*

 

»Hallo, Fräulein Dorly! Schön, dass Sie gekommen sind, noch dazu in Begleitung.« Dorly schüttelt beiden die Hand, dann stellt sie ihnen Marie Stifter vor. Wieder spricht nur der Große, der Kleine mit den grünen Augen steht düster daneben. Der ist Marie unheimlich. Sie wundert sich, dass Dorly Schupp es auf den abgesehen hat. Ein bisschen bereut sie schon, dass sie mitgegangen ist, obwohl der große Dünne ganz nett zu sein scheint. Und morgen werden die beiden ja schon weit weg sein, hat Dorly gesagt, in Spanien oder noch weiter fort. Da kann nicht viel passieren.

»Dürfen wir Sie zu einem Kaffee einladen?«

»Möchten Sie etwas essen?«

»Hätten Sie Lust, ins Kino zu gehen?«

»Ins Theater?«

»Zum Tanz?«

»Auf den Rummelplatz?«

»Ein Konzert vielleicht?«

»Wollen wir in unserem Hotelzimmer Schallplatten hören?«

Das gefällt Marie Stifter. Sie würde am liebsten gleich alle Einladungen annehmen, und zwar gleichzeitig oder in egal welcher Reihenfolge. Aber Dorly lehnt alles ab.

»Ich wollte von Anfang an nichts mit den beiden Deutschen unternehmen, was auf ein sogenanntes Verhältnis hätte hinauslaufen können«, wird Dorly im Verhör sagen. »Ich hatte keinerlei Absichten und wünschte mir, dass es auch bei ihnen so bleibe. Zudem wusste ich ja, dass sie am nächsten oder übernächsten Tag wieder abreisen würden.«

Also machen die vier sich auf zu einem unverfänglichen Spaziergang. Kurt und Marie gehen voraus, Dorly und Waldemar ein paar Schritte hinterher.

 

*

 

Ernst Walder bleibt an der Tramhaltestelle stehen und schaut ihnen hinterher, bis sie in der Eisengasse verschwunden sind. Er weiß, dass es nichts gibt, was er jetzt anständigerweise unternehmen könnte. Schließlich ist er mit Marie offiziell weder verlobt noch verheiratet. Daran ist niemand anders schuld als er selber, und deshalb hat er auch kein Recht, ihr jetzt hinterherzulaufen.

 

*

 

Seit Tagen wütet der sibirische Wind in Basel; Brunnen und Bäche frieren zu, über den Rhein schießen waagerecht Milliarden von nadelspitzen Eiskristallen. In der Eisengasse sind Dorly, Marie, Kurt und Waldemar noch einigermaßen geschützt, aber auf der Mittleren Brücke schlägt ihnen der Nordwind ins Gesicht, zerrt an Mützen und Mänteln, schlägt gegen Rock und Hosen und zerzaust die Frisuren, und die Eiskristalle dringen in Ohren, Nasen und Münder.

»Kurt Sandweg war ein fröhlicher Geselle, ich nannte ihn Bajazzo. Am ersten Abend zum Beispiel ist er mitten auf der Brücke drei oder vier Schritte vorausgelaufen, hat sich zu uns umgedreht und seinen Mantel weit aufgerissen. Dann hat er Waldemar Velte, Marie Stifter und mich aufgefordert, unter seine Fittiche zu schlüpfen. Da er fast zwei Meter groß war, hat uns sein Mantel tatsächlich bestens vor dem Wind geschützt. Wir sind dann alle vier rückwärts gegen den Wind über die Brücke marschiert – Marie und ich zu Sandwegs Linken, Waldemar Velte an seiner Rechten.«

In Kleinbasel am nördlichen Rheinufer bläst der Wind weniger stark als auf der Brücke. Es wird ein langer Spaziergang. Sie gehen nicht über den Uferweg, sondern auf den zwanzig Meter breiten Kiesbänken, die sich in diesem Winter gebildet haben, weil der Rhein ungewöhnlich wenig Wasser führt. Es ist, als sei das Wasser ausgewandert. Im Flussbett liegen überkrustete Toilettenschüsseln, verrostete Mordwaffen und algenbewachsene Fahrräder, und die Kieselsteine sind glitschig und aneinandergefroren und duften nach Meer. Beidseits des Flusses ist das Ufer befestigt mit Mauern aus gewaltigen Kalksteinquadern, die in der Nacht weiß leuchten.

Dorly und Waldemar gehen nebeneinanderher wie zwei Kutschpferde. Hin und wieder werfen sie einander kurze Blicke zu. »Velte gab mir an, sie befänden sich auf der Durchreise. Sein Vater sei Bauunternehmer, sie müssten nach Spanien reisen wegen bevorstehender baulicher Unternehmungen. Hier in Basel hätten sie ihre Reise unterbrochen, weil sie noch auf einen Bericht warten müssten, der alltäglich eintreffen könne. Mir genügte diese Auskunft, weiter habe ich nicht gefragt. Dass beim ersten Treffen im Globus noch von einer sofortigen Weiterreise die Rede gewesen war, hatte ich vergessen.«

Kurt nimmt Marie bei der Hand und läuft mit ihr voraus. Er führt sie über einen Landesteg auf ein vertäutes Ruderboot und lässt es schaukeln, bis Wasser über die Bootswände schwappt; er bringt sie mit einem Schubser aus dem Gleichgewicht und fängt sie auf, bevor sie ins Wasser fällt, und dann hält er sie eine Sekunde zu lange im Arm; er ahmt den Lockruf der Enten nach, winkt zu Dorly und Waldemar hinüber und kehrt zurück ans Ufer, lässt flache Kiesel übers Wasser tanzen und versucht das Marie beizubringen; er steigt hinauf auf die Dreirosenbrücke, die gerade im Bau ist und deren Stahlträger in der Mitte des Flusses abrupt abbrechen, und immer fliegt Marie neben ihm her; dann klettern die beiden auf den Derik-Kran, der auf dem Brückenstumpf steht, und nur mit Mühe kann sie ihn davon abhalten, auch noch dessen Auslegearm zu besteigen.

Marie weiß nicht, wie ihr geschieht. So einen Spaziergang hat sie noch nie erlebt. Dieser Deutsche führt sie ganz selbstverständlich durch die Nacht, und gleichzeitig scheint er immer im voraus zu wissen, ob sie nach links oder rechts abbiegen oder stehenbleiben will; wenn sie daran denkt, ihr Taschentuch hervorzunehmen, so reicht er ihr schon eines, und zwar ein sauberes, und wenn sie auf den glitschigen Kieseln einen Misstritt tut, ist er blitzschnell da, um sie zu stützen. Und reden kann der. Gelegentlich setzen sie sich auf eine vereiste Bank, um zu verschnaufen. Dann holen Waldemar und Dorly sie ein und setzen sich zu ihnen. Es ist kalt und spät, der Wind beißt, die Füße schmerzen. Die Fenster der Bürgerhäuser erlöschen eins ums andere.

»Fräulein Dorly«, fragt Kurt, »langweilen Sie sich nicht zu sehr?«

»Wir unterhalten uns gut, keine Sorge.«

»Erzählt er Ihnen wenigstens etwas? Sag, erzählst du Fräulein Dorly etwas? Oder gaffst du einfach die ganze Zeit ins schwarze Wasser hinein?« Kurt legt den Arm um Waldemars Schultern und drückt ihn kräftig an sich. »Machen Sie es wie ich, Fräulein Dorly: mit roher Gewalt. Sonst ist da nichts zu machen. Quetschen Sie ihn über irgendetwas aus, zum Beispiel über die Wuppertaler Schwebebahn. Da weiß er Bescheid. Gehen wir weiter, Fräulein Marie? Soll ich Sie dann zum Bahnhof begleiten?«

Kurt Sandweg nimmt Marie an der Hand und verschwindet mit ihr in die Nacht hinaus. Dorly und Waldemar bleiben allein auf der Bank zurück. Lang ist es still.

Dann flüstert Dorly: »Gibt es in Wuppertal eine Schwebebahn?«

Waldemar scharrt mit den Füßen im Kies. »Die ist weltberühmt, zumindest in Wuppertal. Ein horizontaler Eiffelturm sozusagen. Als kleiner Junge war ich schwer fasziniert. Die Schwebebahn war meine persönliche Modelleisenbahn. Ich kannte alle technischen Daten. Die Fahrpläne. Die Entstehungsgeschichte. Alles.«

»Und jetzt?«

Waldemar zuckt mit den Schultern. »Jetzt ist es einfach eine Bahn. Die fährt vom einen Ende Wuppertals ans andere und wieder zurück. Hin und her, hin und her. Jetzt mag ich lieber Zeppeline. Wenn ich einen Zeppelin hätte, würde ich mit Ihnen nach Spanien fliegen, Fräulein Dorly. Vorerst.«

 

*

 

»Waldemar Velte berichtete mir in schwärmerischen Worten erst von Wuppertal und dann von Spanien, das eine Republik sei; dass dort der Ackerboden unter die armen Bauern verteilt werde und dass die Frauen Stimmrecht hätten. Ich entgegnete ihm, er solle mir die Schweiz in Frieden lassen. Ich hatte oft das Gefühl, dass er zugleich an Fernweh und Heimweh litt.«

 

*

 

Dann schlägt die Uhr vom Münster Mitternacht. Dorly muss nach Hause, die Mutter wartet. Die sitzt Stunde um Stunde in ihren schwarzen Witwenkleidern kerzengerade auf dem Sofa und häkelt und schaut zur Wanduhr mit rotgeränderten Geieraugen, und keinesfalls will sie ins Bett, bevor das Mädchen in den Federn ist. Das ist immer so. Dorly hat alles Reden längst aufgegeben.

»Velte begleitete mich über die Wettsteinbrücke und durch die Rittergasse zum Globus, wo wir Abschied nahmen. Er wie auch sein Freund machten mir einen sehr guten Eindruck, sie waren höflich, gut gekleidet, besaßen gute Umgangsformen und benahmen sich nicht aufdringlich, in keinem Fall frech. Bei mir handelte es sich nicht um ein ernstes Verhältnis. Ich fand Sympathien an beiden, besonders aber an Velte. Er sagte mir, er müsse vorerst noch große Reisen machen und sehen, wie sich seine Sache entwickle. Er komme dann später wieder und dann wolle man sehen. Es handelte sich bei uns wohl an jenem Abend schon, wie man so sagt, um eine platonische Liebe. Ich hatte den Eindruck, dass Marie Gefallen an Kurt Sandweg gefunden hatte, jedoch hat sie mir gegenüber nichts Derartiges verlauten lassen.«

Es ist fast ein Uhr, als Dorly leise die Wohnungstür aufstößt. Tatsächlich sitzt die Mutter auf dem Sofa und häkelt an einer Spitzendecke. Sie schaut nicht auf, als die Tochter eintritt. Dorly schlüpft aus den Schuhen, die innen durchnässt sind und außen gefroren, und massiert sich die Füße, die ihr schon längst nicht mehr wehtun; der Schmerz wird erst in ein paar Minuten zurückkehren und alles nachholen, wenn die Wärme in die Knochen dringt.

»Ich erzählte der Mutter, dass ich den Abend verbracht hätte mit zwei jungen Herren, die sich nur mit Vornamen vorgestellt hätten, da sie ihre Familiennamen aus politischen Gründen geheimhalten müssten. Da äußerte sie den Verdacht, dass es sich um Mädchenhändler handle. Auf keinen Fall sollte ich die beiden je nach Hause bringen. Ich erwiderte, dass sich das erübrige, da sie bald abreisen würden.«