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Am achten Januar 1934 schreibt Waldemar Dorly eine Ansichtskarte aus Lyon.
»Lb. Dorly! In aller Eile herzl. Grüße aus Lyon von Deinem Freund Waldemar. Sind gerade im Zug nach Marseille. Brief folgt. Mein Freund Kurt grüßt ebenfalls herzl.«
Im Globus ist die Hektik des Weihnachtsgeschäfts vorbei, jetzt ist die Zeit des Umtauschens da. Dorly nimmt die Schallplatten entgegen, die da den Weg zurück zu ihr finden: das große Wagner-Album, das ein Gymnasiast errötend gegen drei ganz schlimme Jazz-Platten eintauscht; die Préludes von Chopin, die ein junges Mädchen für etwas Spitzenunterwäsche hergibt; George Gershwins Rhapsody in Blue, die ein älterer Herr gegen Bachs Goldberg-Variationen eintauscht. Und gelegentlich kommt es vor, dass das junge Mädchen die Tochter des älteren Herrn ist und der Gymnasiast ihr Bruder und dass sich alle gegenseitig Schallplatten zu Weihnachten geschenkt haben; womöglich verpassen die drei einander nur um ein paar Minuten, wodurch ihnen eine peinvolle Familienzusammenkunft erspart bleibt. Dorly schweigt diskret und hört sich murmelnd vorgetragene Lügengeschichten an; sie berechnet Preisdifferenzen und Lieferfristen, stellt Gutscheine aus und packt ein, und nach Feierabend verlässt sie das Geschäft durch den Personalausgang und geht vorbei an der Litfaßsäule, an der jetzt niemand mehr wartet. Die Abende sind lang zu Hause, wenn die Mutter Stunde um Stunde an ihrer Handarbeit sitzt und das Ticken der Wanduhr das einzige Geräusch ist.
Am zwölften Januar trifft ein Brief aus Südfrankreich ein. Sie wird ihn drei Wochen später einem Reporter von der »National-Zeitung« überlassen, damit der endlich Ruhe gibt.
»Marseille, 10. Januar 1934. Liebe Dorly, wir sind wieder zurück in Marseille! Unsere Reise ist und bleibt ein unglückseliges Unterfangen. An der spanischen Grenze hat uns ein goldbetresster Operettenzöllner die Einreise verweigert, weil ihm unsere Papiere nicht passten. So haben wir umkehren müssen und noch mal durch diese Operettenlandschaft von einem Südfrankreich reisen, das mit seinen Palmen, Rebbergen, Luxushotels und Wildpferden genauso aussieht, wie sich deutsche Pensionisten Südfrankreich vorstellen.
Und jetzt also wieder Marseille. Immerhin bin ich nun wieder etwas näher bei Basel und bei Dir, liebe Dorly. Kurt ist in diesem Augenblick unten am Hafen und schaut sich Schiffe an. Er mag Schiffe. Ich schreibe Dir hier auf der Sonnenterrasse eines Kaffeehauses, und es ist schon fast ein bisschen Frühling. Wir müssen jetzt überlegen, wie es weitergehen soll – noch einmal die Einreise nach Spanien versuchen, eine andere Route wählen? Die Lust auf die Reiserei ist mir in letzter Zeit so recht abhandengekommen. Schließlich, wozu sich abmühen? Die ganzen Scherereien um Pässe und Visa und Transitgenehmigungen und Fahrpläne, dieses ewige Geldwechseln – Mark in Francs, Francs in Franken, Franken wieder in Francs, Francs in Peseten, Peseten in Francs, ohne Ende – mit welchem Resultat? Mit der Erkenntnis, dass die Welt eine einzige Festung ist. Ein Gefängnis, ein Alcatraz ohne Fluchtmöglichkeit. Da müsste man schon eine Mondrakete zur freien Verfügung haben, ein Zeppelin ist da nicht viel besser als eine Schwebebahn.
Wer reicher ist als Kurt und ich oder auch gerissener und rücksichtsloser, der schafft es vielleicht nach Spanien und sogar noch weiter, aber es bleibt doch immer eine Flucht von einer Gefängniszelle in die andere, von Zelle Frankreich nach Zelle Spanien, und dahinter folgt immer die nächste Zelle, Marokko, Libyen, Ägypten, Indien und so weiter. Das ist mir jetzt klar. Wenn man wirklich fliehen möchte und nicht einfach nur davonlaufen von einer Zelle in die nächste, dann müsste man weiter gehen, viel weiter – bis zu den letzten weißen Flecken auf der Landkarte, die es immer irgendwo gibt. Aber weiße Flecken haben geradeeben die Eigenart, dass sie unerreichbar sind. Sonst wären sie nicht weiß.
Liebe Dorly, alle reden von Amerika. Aber sag, was soll ich dort? Kürzlich habe ich in der Zeitung von den sogenannten Court-Restaurants in Chikago gelesen, wo feine Leute sich den Nervenkitzel leisten, zur gleichen Stunde mit einem Hinzurichtenden im gleichen Haus das gleiche Abendbrot zu essen. Soll ein Ort, an dem solche Dinge geschehen, das Ziel meiner Träume sein? Sag, Dorly, verstehst Du mich? Ja, Du verstehst mich, da bin ich ganz ruhig.
Vielleicht sollten Kurt und ich hübsch leise heimkehren nach Wuppertal und uns zum Arbeitsdienst melden. Was meinst Du? Das wäre doch auszuhalten für eine Weile. Man müsste halt Augen, Ohren und Mund zusperren, freitags Lotto spielen und sich um nichts als um sich selbst kümmern. In ein paar Monaten würde sich schon eine Technikerstelle finden in einem Stahl- oder Kohlewerk. Der obligatorischen NS Reichsfachschaft Deutscher Industrietechniker müsste man halt beitreten, aber eine Dreizimmerwohnung könnte man sich schon leisten. Dann könntest Du nachkommen, und wir würden alle drei zusammen leben. Was meinst Du, Dorly? Es gibt auch in Wuppertal Kaufhäuser, weißt Du? Da würdest Du bestimmt eine Stellung finden.
Aber nein, das geht alles nicht, das wäre ein Irrsinn. Es besteht doch eine göttliche Ordnung – muss bestehen! –, der wir uns nicht entziehen können. Das Leben ein Irrsinn? Zwecklos? Nein, abermals nein! Es hat einen Sinn! Wir müssen weiterkämpfen, uns befreien. Und wenn Gott es will, werden Du und ich bald wieder vereint sein, wo und unter welchen Umständen auch immer. Und meint’s das Schicksal gut, dann bin ich frohgemut, und meint’s das Schicksal schlecht, denk ich erst recht: In Deinen Händen ruh ich von allem aus – in Deinen Händen bin ich ganz zuhaus. Dein Freund Waldemar.«
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Auf dem Basler Kriminalkommissariat sitzt ein Mann mit gewaltigen Pranken und kräftigen Kiefermuskeln. »Ich, Karl Kaufmann-Langenegger, geboren 1896, Schlosser, wohnhaft in Füllinsdorf, Baselland, setze hiemit für Angaben, die zur Ermittlung der Täterschaft führen, eine Belohnung von Fr. 1000, – aus. Der in der Wever-Bank ermordete Kaufmann Arnold war mein Bruder. Vorgelesen und unterzeichnet: Basel, den 12. Januar 1934. Kaufmann Karl.«
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»Schweizerischer Polizeianzeiger«, Bern: »Es lassen die Nebenumstände des Stuttgarter und des Basler Banküberfalls einen Zusammenhang immerhin möglich erscheinen, obschon die vorhandenen Gestaltsbezeichnungen über die Täter in wesentlichen Punkten auseinandergehen. Zudem haben die Sachverständigen festgestellt, dass in Stuttgart alle Schüsse aus einer Waffe abgegeben, in Basel aber aus zwei verschiedenen Waffen geschossen wurde und dass Identität zwischen der Stuttgarter und den Basler Pistolen nicht besteht. Alle drei Waffen sind Selbstladepistolen Kaliber 7,65 mm, deren System jedoch mangels genügender Merkmale nicht feststellbar war. Als festgestellt kann jedoch gelten, dass es sich um zwei jüngere Männer handelt, von denen der eine etwas größer ist als der andere, dass beide rasche und gewandte Bewegungen haben und entschlossen sind, ›aufs Ganze‹ zu gehen.
Wenn die Annahme eines Tatzusammenhangs zwischen Stuttgart und Basel richtig ist, wird damit zu rechnen sein, dass die Räuber bald wieder unter ähnlichen Umständen in anderen Städten auftreten, da sie in Basel nur etwa 350 Franken Silbergeld erbeuteten. Es wird deshalb um besondere Beachtung dieser Vorgänge und schleunigste Mitteilung sachdienlicher Wahrnehmungen an Kriminalpolizei Stuttgart und Basel gebeten. In beiden Fällen sind für Aufklärung der Verbrechen hohe Belohnungen ausgesetzt.«
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Der Banklehrling Werner Siegrist hat es schwer in den Tagen nach dem Banküberfall. Tag und Nacht fahren Seitenwagen-Motorräder der Polizei bei seinem Elternhaus vor, um ihn für eine Gegenüberstellung mitzunehmen. Man schleppt ihn von der Arbeit weg, und fast jede Nacht wird er aus dem Schlaf gerissen. Er verliert den Appetit, leidet unter Schlaflosigkeit und wird schwermütig. Als aber eines Abends Familie Siegrist beim Abendessen in der Küche sitzt und es schon wieder an der Wohnungstür klingelt, faltet der Vater seine Serviette nach Art des gewissenhaften Eisenbahners, der er ist, legt sie auf den Tisch und sagt: »So, jetzt ist aber Schluss. Der Bub fängt mir ja noch an zu spinnen.« Er geht zur Tür und schickt den Polizisten weg, und als dieser ihm mit Drohungen kommt, wird Vater Siegrist laut und zeigt dem Beamten mit ausgestrecktem Arm, wo der Zimmermann das Loch gemacht hat. Am nächsten Morgen verreist Lehrling Siegrist per Bahn zur Kur nach Montreux, wo die Eisenbahnergewerkschaft ein Hotel betreibt. Die Kosten übernimmt die Wever-Bank.
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Samstag, dreizehnter Januar 1934. Dorly muss Überstunden abbauen und darf nicht zur Arbeit gehen. Das kommt ihr ungelegen, denn im Globus verginge die Zeit schneller als zu Hause bei der Mutter. In drei Stunden wird es genau eine Woche her sein, seit Kurt Sandweg und Waldemar Velte abgereist sind. Da schellt im Flur die elektrische Glocke. Dorly und ihre Mutter haben kein eigenes Telefon, aber sie dürfen gegen ein geringes Entgelt jenes der Familie Herzog im dritten Stock benützen. Erst kürzlich hat Dorly das Läutewerk im Flur einrichten lassen, damit die Herzogs sie ohne unnötiges Treppenlaufen ans Telefon rufen können.
Dorly steigt die Treppe hoch. Sie wird nicht oft angerufen. Meist sind es Arbeitskolleginnen, für die sie einen freien Tag opfern soll. Aber diesmal ist Waldemar am Apparat. »Velte sagte mir, sie seien wieder in Basel. In Spanien habe man sie auch in einem zweiten Anlauf nicht einreisen lassen, da sie kein Visum hätten vorzeigen können. Dieses müssten sie jetzt in Berlin einholen. Wir verabredeten uns für 14 Uhr beim Brausebad. Dann gingen wir spazieren wie gewohnt.«