13
»Fräulein Dorly, wo ist eigentlich in Basel der Friedhof?«
»Es gibt mehrere. Sehr berühmte Leute werden im Münster beigesetzt.«
»Und normale Menschen?«
»Auf dem Hörnli-Friedhof. Der ist aber weit weg. Immer flussaufwärts bis zur deutschen Grenze.«
»Wollen wir hingehen?«
»Nein, das wollen wir nicht!« Kurt Sandweg dreht sich heftig um und hebt die flache Hand wie ein Verkehrspolizist. »Nicht wahr, Fräulein Dorly, das wollen wir nicht?«
*
»Es war dies das erste Mal, dass ich Sandweg so aufbrausend erlebte. Da aber Velte von seinem Wunsch, den Hörnligottesacker zu besichtigen, nicht abzubringen war, führte ich die beiden hin. Wir liefen lange zwischen den Grabreihen hindurch, das Hörnli ist ja der größte und modernste Friedhof der Schweiz. Mir fiel auf, dass Sandweg ungewöhnlich beklommen schien, während Velte aufgeregt und fröhlich war. Er zeigte großes Interesse für alle möglichen Grabsteine, blieb stehen und las Sandweg und mir Grabinschriften vor. Manche fand er sehr lustig, so dass er lachen musste und sich kaum mehr beruhigen wollte. Einmal sagte er, am Hörnli möchte er begraben sein, dann wäre er mir immer nahe.«
*
Am sechzehnten Januar 1934 befreien Bonnie Parker und Clyde Barrow unter Einsatz von Maschinengewehren die Gangster Ray Hamilton und Henry Methvin aus der Eastham Prison Farm, Texas. Dabei erschießt Clyde einen Wärter, der ihre Flucht zu verhindern sucht.
*
Kurt und Waldemar nehmen ihren Basler Alltag wieder auf. Mittags besuchen sie Dorly im Globus und kaufen eine Schallplatte; den Nachmittag verbringen sie auf ihrem Zimmer und spielen auf dem Reisegrammophon eine Platte um die andere ab; bei Anbruch der Dunkelheit nehmen sie in ihrem Stammlokal, dem Restaurant »Markthalle« beim Centralbahnhof, ein frühes Abendessen ein. Bei Ladenschluss stehen sie auf dem Marktplatz an der Litfaßsäule und warten auf Dorly, und dann gehen die drei am Rhein spazieren. Das geht so am Montag, Dienstag, Mittwoch und Donnerstag. Auch der Freitag, neunzehnter Januar, folgt dieser Routine – aber nur bis um achtzehn Uhr dreiundzwanzig.
Zu diesem Zeitpunkt ist Detektivkorporal Hans Maritz auf Zivilstreife am Centralbahnhof unterwegs. Er hat sich vor den Fahrkartenschaltern in der längsten Schlange angestellt, um unauffällig nach zwei jungen Burschen Ausschau zu halten, von denen der eine etwas größer ist als der andere und die entschlossen scheinen, aufs Ganze zu gehen. Maritz gilt »dank seinem Spürsinn als einer der besten baslerischen Kriminalbeamten«, wie Pfarrer Hans Baur eine Woche später bei der Totenfeier am Hörnli es ausdrücken wird. Einem aufmerksamen Beobachter würde auffallen, dass Maritz als einziger in der ganzen Bahnhofshalle ein Hemd mit altmodischem Stehkragen trägt. Maritz ist kinderlos verheiratet und fünfundvierzig Jahre alt, ältester Sohn eines Monteurs am Basler Gaswerk, gelernter Mechaniker, seit zwanzig Jahren Polizist und Oberschützenmeister der Polizeischützen. Immer weiter rückt er in der Schlange vor. Als er vor dem Fahrkartenschalter steht und die Reihe an ihm wäre, schert er aus und geht hinüber zum Kiosk. Dort bemerkt er »… zwei verdächtige Individuen, auf die das Signalement der Wever-Bankräuber hätte zutreffen können und von denen der größere eine Tafel Schokolade kaufte. Bei der nachfolgenden Personenkontrolle stellte ich fest, dass es sich um deutsche Staatsbürger handelte, und nahm sie zur Überprüfung auf den Posten der Bahnhofspolizei mit. Da sie sich aber ordnungsgemäß ausweisen und den Zweck ihres Aufenthalts in Basel (Geschäftsreise im Baugewerbe) einwandfrei darlegen konnten, hatte ich keinen Anlass zu weiteren Überprüfungen.«
*
Auf dem Marktplatz regnet es in Strömen. Dorly steht seit zehn Minuten bei der Litfaßsäule unter ihrem Regenschirm und wartet. Endlich kommen Kurt und Waldemar angerannt, quer über den Platz und mit fliegenden Mantelschößen.
»Fräulein Dorly! Gott sei Dank, Sie sind noch da!«
*
»Sie waren stark erregt und erklärten, sie seien am Centralbahnhof von der Polizei angehalten, auf den Posten genommen und zur Vorweisung ihrer Reisepässe veranlasst worden. Es sei aber alles in Ordnung befunden worden, man habe sie unbehelligt gelassen. Trotzdem sei es eine peinliche und unangenehme Sache gewesen. Dass sie an jenem Abend Schokolade bei sich hatten, kann ich bestätigen. Sandweg bot mir davon an, ich lehnte aber ab, weil mir Süßes grundsätzlich zuwider ist. Es war, wenn ich mich recht erinnere, eine Nussschokolade von Lindt in blauweißer Verpackung. Velte sagte, sie müssten jetzt so schnell als möglich nach Berlin fahren, um ihre Visa für eine neuerliche Reise nach Spanien einzuholen, wenn möglich noch am selben Abend, sonst am nächsten Morgen in der Früh.«
*
Die Züge nach Deutschland gehen nicht vom Centralbahnhof ab, sondern vom Badischen Bahnhof am nördlichen Stadtrand. Waldemar und Kurt drängen sich links und rechts unter Dorlys Schirm. Sie überqueren den Rhein auf der Mittleren Brücke, gehen vorbei an der Klarakirche und geradeaus weiter bis zum Badischen Bahnhof. Waldemar und Dorly setzen sich unter den gewaltigen Bögen der Schalterhalle still auf eine Bank, und Kurt tut geschäftig, notiert Abfahrtszeiten, kauft Fahrscheine und Reiseproviant und wechselt Geld. Ihr Zug fährt am nächsten Morgen um acht Uhr fünfundvierzig.
»Ich wunderte mich, dass Sandweg Fahrkarten nach Köln kaufte, da dies meines Wissens nicht am Weg nach Berlin liegt. Auf meine diesbezügliche Frage sagte mir Velte, sie müssten zuerst nach Hause fahren, da sie fast kein Geld mehr hätten und er dem Vater Bericht erstatten müsse. Weil starker Regen fiel, verblieben wir über 2 Stunden am Badischen Bahnhof in der Eingangshalle. Später begaben wir uns nach der Pension an Sperrstraße 83, wo ich dann ein erstes und einziges Mal mit ihnen aufs Zimmer ging. Sie packten ihre Sachen in die Koffer, und nach etwa 20 Minuten Zimmeraufenthalt entfernten wir uns. Die beiden begleiteten mich auf dem Heimweg; an der Schiffslände aber verabschiedete sich Kurt Sandweg mit Hinweis auf den starken Niederschlag. Velte begleitete mich weiter. Tramfahren wollte er nicht, überhaupt sind wir nie Tram gefahren, sondern immer zu Fuß gegangen, auch bei der größten Kälte, bei Regen und Schnee. Vor der Tür unseres Hauses an der Palmenstraße 23 nahmen wir Abschied, wobei Velte weinen musste. Ich tröstete ihn mit aufmunternden Worten. Zu körperlichen Zärtlichkeiten ist es auch bei dieser Gelegenheit nicht gekommen, auch hat Velte diese nie von mir gefordert. Ich anerbot ihm meinen Regenschirm, er lehnte ab und meinte, er könne mir denselben doch nicht mehr zurückbringen. Ich gab ihm den Rat, den Schirm mitzunehmen und in der Pension zu deponieren, wo ich ihn gelegentlich holen werde. Das hat er dann getan.«