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Bald ging das Leben in Basel wieder seinen gewohnten Gang. Zwar spielten die Kinder in den Schulhöfen noch monatelang »Sandweg und Velte«, und jeder wollte Räuber und keinesfalls Polizist sein; zwar unterstellte die Stadt Waffenbesitz einer strikten Bewilligungspflicht und ersuchte die Landesregierung um sofortige Verstärkung des Grenzschutzes; zwar machte die Polizei noch eine Weile strenge Personenkontrollen in der Innenstadt – aber es sollte Jahrzehnte dauern, bis in Basel wieder auf Polizisten geschossen wurde.
Und sonst?
Der mausgesichtige Kontorist Lindner blieb der Gablenberger Bank bis zuletzt treu. Elf Jahre lang duckte er sich unter dem Nachfolger des erschossenen Filialleiters, der ein genauso strammer Volksgenosse war wie Feuerstein. 1944 wurde er beim Bombardement Stuttgarts von einer herunterstürzenden Betondecke erschlagen.
Waldemar Veltes Bruder, der kleine Lothar mit dem Fahrtenmesser, erhielt kurz vor Kriegsende noch Gelegenheit, sich im Kampf zu bewähren. Er kehrte mit einem Bauchschuss zurück, der nie wieder ganz heilen sollte, nach dem Krieg verließ er Deutschland, »um die Sache mit Waldemar zu vergessen«, wie seine Schwester Hilde sagte. Er verbrachte sein Leben als Ingenieur in Persien, kehrte 1966 mit Darmkrebs nach Deutschland zurück, ließ sich operieren, starb 1971 und wurde beigesetzt in der Ruhestätte der Familie Velte. Der Friedhof liegt idyllisch zwischen einer Pferdeweide und einem Wäldchen. Wenn im Winter die Bäume kahl sind, kann man ihn vom Wohnzimmer der Veltes aus sehen.
Bonnie und Clyde überfielen zwei weitere Banken in Lancaster und Kansas und erbeuteten dabei insgesamt 6800 Dollar. Am ersten April 1934 erschossen sie in Grapevine, Texas, zwei Polizisten auf Verkehrsstreife, fünf Tage später einen Beamten in Miami, Oklahoma. Dann wurden sie verraten von ihrem Bandenmitglied Henry Methvin, den sie am sechzehnten Februar aus dem Gefängnis befreit hatten und der sich für den Verrat zuvor eine mildere Gefängnisstrafe ausgehandelt hatte. Am Morgen des dreiundzwanzigsten Mai 1934 lauerte eine Spezialeinheit von Texas-Rangers und FBI-Agenten an der Landstraße bei Arcadia, Louisiana. Als der sandfarbene Ford V8 um Viertel nach neun Uhr auftauchte, eröffneten die Beamten ohne Warnung mit schweren Maschinengewehren das Feuer. Bonnie und Clyde wurden getroffen von 167 Kugeln. Den durchlöcherten Wagen mit den beiden Leichen schleppten die Polizisten ins Städtchen, als Spektakel für die Menge. Die rechtmäßige Besitzerin forderte ihn zurück und vermietete ihn für zehn Dollar pro Woche als Attraktion für Grillpartys, Geschäftseröffnungen und Rodeos. Heute steht der Ford V8 in Whiskey Pete’s Casino Hotel in Stateline, vierzig Meilen südlich von Las Vegas. Mit ausgestellt ist ein zerfetztes und blutdurchtränktes Hemd, das Clyde Barrow an seinem Todestag getragen haben soll.
Waldemar Veltes kleine Schwester Hilde hatte schwer unter den Taten ihres Bruders zu leiden. In der Schule zeigten die Kinder mit dem Finger auf sie, Freundinnen wandten sich von ihr ab, Vereine schlossen sie aus. Sie blieb zeitlebens ledig und wohnte stets im Elternhaus, wo sie nacheinander Vater und Mutter bis zu deren Tod pflegte. Es war für sie ein schrecklicher Moment, als ich sie ausfindig machte und schriftlich um ein Gespräch bat. »Ich hatte gehofft, dass nach dieser langen Zeit endlich Gras über die Sache gewachsen sei«, sagte sie mir Tage später am Telefon. Dann fragte sie, was ich denn wissen wollte, und wir redeten eine gute Stunde lang.
Die Basler Banklehrlinge Haitz und Siegrist wurden kurz nach dem Überfall arbeitslos, da die Wever-Bank Konkurs ging. Siegrist rettete sich in die Rekrutenschule, fand danach eine Stelle an der Basler Universitätsbibliothek und kehrte nie mehr ins Bankgeschäft zurück. Der kleine Haitz verlagerte seine Interessen von den Mädchenbeinen hin zur Nationalökonomie und brachte es bis zum Basler Staatskassier.
Kurt Sandwegs und Waldemar Veltes Gräber wurden bei der Umgestaltung des Friedhofs 1959 ausgehoben. Der Humus wurde auf einem rechteckigen Grundstück zwischen vier Fußwegen verteilt, und der Friedhofsgärtner säte Rasen an.
Willi Kollo sang »In Deine Hände« ab 1933 im Berliner »Kabarett der Komiker«. Telefunken entdeckte das Lied und nahm es mit dem berühmten Tenor Marcel Wittrisch auf. 1934 hörte man es aus allen Fenstern und über alle Radiosender Deutschlands, der Schweiz und Österreichs; ab 1936 in der englischen Version – unter dem Titel »My Heart Was Sleeping« – auch im übrigen Europa, in Kanada und den USA. Dank des Lieds fand Kollo ein Auskommen bis nach dem Krieg. Als politischer Kabarettist hatte er seit Januar 1933 Berufsverbot.
Die Pension der Hedwig Vetter an der Sperrstraße wurde im März 1934 aus gesundheitspolizeilichen Gründen geschlossen. Ohne Gäste konnte die Wirtin die Pacht nicht mehr zahlen, musste aus dem Haus ausziehen und stand im Alter von siebenundfünfzig Jahren mittellos auf der Straße. In ihrer Not nahm sie die Einladung eines alten Stammgasts an, der sich in einem gemütlichen kleinen Chalet am Titisee zur Ruhe gesetzt hatte. Sie besorgte ihm den Haushalt und ließ sich von ihm den Hof machen, heiratete ihn und lebte glücklich bis ins hohe Alter.
Die junge Wirtin Johanna Furrer hingegen verkaufte ihre Pension im Juli 1934 aus freien Stücken. Sie fuhr auf einem Rheinschlepper nach Rotterdam und schlug sich dank Glück, Charme, Geld und einwandfrei arischem Äußeren durch bis nach Vancouver an der Westküste Kanadas. Dort eröffnete sie eine Konditorei und war mit ihren Schweizer Spezialitäten derart erfolgreich, dass sie innert weniger Jahre, übers ganze Land verstreut, achtzehn Zweigniederlassungen gründete. Sie blieb ledig und wurde bei bester Gesundheit sehr alt. Zuletzt lebte sie auf Vancouver Islands in einer komfortablen Seniorenresidenz am Rand eines Waldes, in dem es tausendjährige Mammutbäume, mannshohen Farn, Pumas und Schwarzbären gab. Vom Balkon ihrer Wohnung aus hatte sie Sicht auf den Pazifischen Ozean; bei den großen Felsen am nördlichen Ende des Strandes zog jeden Nachmittag um zehn nach zwei Uhr eine Herde Orca-Wale vorbei.
Polizeidetektiv Walter Gohl verbrachte lange Monate im Spital, bis die Chirurgen seinen zerschmetterten Unterkiefer wiederhergestellt hatten. Er quittierte den Polizeidienst und ging in Rente.
Dem mutigen Reporter von der »National-Zeitung« kam im Lauf der Zeit allmählich und ohne äußeren Anlass die Freude erst am Beruf und dann auch am Leben abhanden – ein Unglück, das früher oder später vielen widerfährt, die die Welt ständig durch die Schießscharte betrachten. Er nahm irgendeine Stelle beim Staat an und soff sich ziemlich schnell zu Tode.
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Marie Stifter und Ernst Walder gingen nach der Totenfeier auf den Gottesacker Wolf, wo Marie das Grab ihrer Tante Erna zwar nicht finden konnte, trotzdem aber triumphierend lächelnd ihren Verlobten zu einem endlos langen Spaziergang zwischen den frischen Gräbern nötigte. Am dritten Sonntag nach Ostern 1934 heirateten sie abmachungsgemäß. Sie zeugten zwei Töchter, bauten ein Haus, pflanzten zahlreiche Obstbäume und verfolgten einander lebenslang mit nie erkaltendem Hass. Im Laufe der Zeit entfernten sie sich nicht etwa voneinander, sondern rückten im Gegenteil näher zusammen. Großmutter ging nach der Geburt der Töchter kaum mehr aus dem Haus, und auch Großvater verbrachte immer mehr Zeit daheim, da er nacheinander die Fußballschuhe an den Nagel hängte und den Dirigentenstab, das Präsidium im Turnverein sowie die politischen Ämter in jüngere Hände legte. Die zwei Mädchen flohen vor der vergifteten Atmosphäre des Elternhauses, kaum dass sie volljährig waren, worauf sich Großvater 1956 in Paris für 960 000 alte französische Francs einen Citroën DS mit hydropneumatischer Federung bestellte – und zwar nicht etwa das Basismodell, sondern die apfelgrüne Luxusausführung mit auberginefarben abgesetztem Schiebedach und karamelbraunen Ledersitzen.
Im Alltag war der Wagen nicht zu viel nütze, denn im Dorf war alles Wichtige nah: das Schulhaus, die Bäckerei, die Molkerei, die Metzgerei, die Post, das Wirtshaus »Zur Traube«. Aber wenn die Schulferien anbrachen, packten meine Großeltern den Kofferraum voll und flohen vor dem häuslichen Krieg, nur leider miteinander. Die ersten paar Jahre ging die Fahrt stets nach Italien, mit jedem Mal ein bisschen tiefer in den Süden, später auch nach Spanien, nach Großvaters Pensionierung sogar nach Jugoslawien und Griechenland. Er saß über Tausende von Kilometern am Steuer, sie auf dem Beifahrersitz; er knackte mit den Kiefergelenken und schwieg, während sie mit großer Ausdauer seinen Fahrstil kommentierte. Grimmig entschlossen stampften sie durch den Circus maximus und die Uffizien, erbarmungslos gondelten sie Seite an Seite durch die Kanäle Venedigs, holperten auf Eselsrücken hinauf zur Akropolis, ritten auf lahmenden Wildpferden durch die Camargue; voller Hass begleiteten sie einander zu Stierkämpfen, Vulkanausbrüchen und Opernaufführungen, und all das nahm erst im November 1985 ein Ende, als meine Großmutter plötzlich an Herzschwäche starb. Großvater lebte noch zehn weitere Jahre. Als seine Sehkraft nachließ, schenkte er den Citroën DS meiner Mutter, welche ihn wiederum mir überließ, der ihn mangels Geld für den Unterhalt ziemlich schnell zuschanden ritt. Großvater pflegte weiter seinen Apfelhain und versank immer tiefer in Bitternis und Einsamkeit, woraus weder Töchter noch Enkel ihn je befreien konnten.
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Die Geburt des Citroën DS 1955 war übrigens ein revolutionäres Ereignis in der Automobilgeschichte. Er hatte vier Zylinder und zwei Liter Hubraum, 75 PS bei 4500 Umdrehungen pro Minute, Scheibenbremsen an allen vier Rädern und eine unverwechselbare Karosserie von zeitlos eleganter Schönheit. Dank Vorderradantrieb, hydropneumatischer Aufhängung und Servolenkung gewann er nach Behebung einiger Kinderkrankheiten zahlreiche Rennen, 1959 etwa die Rallye Monte Carlo in der Zweiliterklasse, die Adria-Rallye, die Wiking-Rallye, die Rallye Akropolis, den Alpenpokal, Lüttich-Rom-Lüttich und die Deutschland-Rallye.
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Dorly Schupp hatte nach dem Drama im Margarethenpark eine schwere Zeit. Dreimal in den folgenden zehn Nächten flogen Steine durch ihr Schlafzimmerfenster. Jeden Morgen lagen in ihrem Briefkasten anonyme Schmähbriefe, und tagsüber besichtigten die Gaffer Dorly in der Schallplattenabteilung.
»An die Kriminalpolizei der Stadt Basel! Die Freundin von Sandweg&Velte – Das brave Mädchen, die Befreundete v. Sandweg&Velte, mit dem abgrundtiefen gegenseitigen Vertrauen und dem widerspruchsreichen Verhalten hat nicht vorsätzlich zur Spur dieser beiden Freunde verholfen. Sie tat das, was ihr das Gebot der Stunde eingab. Sie wusste, dass ihr im Park nichts geschah, denn die beiden rechneten auf ihre bisherige Treue in Sachen ihrer Mitwisserschaft. Nein, das brave Mädchen ist nicht schuld, dass sie beim ersten Sichkennenlernen Verbrechern in die Arme fiel, aber es folgte hörig & berechnend ihrem Ränkespiel von Pension zu Pension & lebte mit von dem blutbespritzten Gelde ihrer Getreuen. Ihr Verhalten ist genau dasjenige, dass sie Mitwisserin der verbrecherischen Tätigkeit ward & gerne hätte sie ausgewichen, aber die Stunde gebot, sich als Unbeteiligte aufzuspielen. Polizei, bist Du mit den Lobhudeleien an das brave Mädchen so verkauft, dass Du nicht mehr den Finger auf das verdächtige Geschwür zu legen getraust, um nicht blamiert zu sein? Wenn die Polizei nichts merken will, dann besorgen dies andere. Gezeichnet: ein Freund.«
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Die »National-Zeitung« hielt schützend die Hand über Dorly Schupp: »Aus einer konfusen Romantik heraus behaupten einige, namentlich Frauen, sie hätte nicht in den Park hineingehen sollen, um ihre ›Freunde‹ zu verraten. Im Kino ist dies freilich anders. Aber vergegenwärtigen wir uns doch den vorliegenden Fall. Die Frau hatte sich nicht mit Velte und Sandweg befreundet, weil sie sie für mehr oder weniger edle Räuber hielt, zu denen man durch dick und dünn bis in den Tod hinein Treue halten muss. Nein, sie war im guten und berechtigten Glauben gewesen, es mit anständigen, wohlerzogenen, gebildeten jungen Männern zu tun zu haben. Als sie diese Illusion verlor, was für sie ein harter Schlag war, da gab es für sie nur noch eines: unseren Behörden bei der Ergreifung der Unholde behilflich zu sein, soweit es in ihrer Kraft lag.«
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Dorly Schupp bewohnte weiter ihr Mädchenzimmer und lebte zusammen mit der Mutter an der Palmenstraße 23. Im Globus stieg sie im Laufe der Jahre zur Ersten Verkäuferin der Schallplattenabteilung auf. Ihre Spur verliert sich am dreiundzwanzigsten Dezember 1942, zwei Monate nachdem die Mutter beim Wäscheaufhängen an Herzversagen gestorben war. Laut Auskunft der Einwohnerkontrolle Basel hat Viktoria Schupp sich abgemeldet nach Genf, Route de Rhône 72. Dort aber ist nie eine Person dieses Namens registriert worden.
Ende