Über alle Berge
Auf dem Pfad der Sehnsucht: Via Spluga
»Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn, im dunklen Laub die Gold-Orangen glühn? (…) Dahin! Dahin möchte ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn.« Lange vor Johann Wolfgang von Goethe, dem wir diesen abgewandelten Ausspruch von 1786 verdanken, gingen Menschen seit der Antike aus den unterschiedlichsten Gründen auf Reisen. Sie suchten mühsam nach geeigneten Pfaden, um als Säumer, Fuhrleute, Händler, Pilger, Legionäre oder Romantiker weiter zu kommen. Manchmal dauerte es Jahre, ehe sich eine Strecke etablierte, und viele waren nur mit Saumtieren zu passieren.
Ein Gebirge wie die Alpen bildete eine schwer überwindbare Barriere. Hier hausten nach dem Volksglauben Geister, Drachen oder gar der Leibhaftige selber. Freiwillig zog es niemanden dorthin. Gab es denn keine Wahl, war ein Übergang, der nur einmal des anstrengenden Anstiegs bedurfte, günstig. Oben war das Ziel in Sicht, die Hälfte des Weges geschafft. Lieber wählte man einen besonders hohen Pass, anstatt womöglich über zwei Berge ziehen zu müssen.
Der Splügenpass ist so ein Übergang, bei dem die Reisenden auf zweitausendeinhundertdreizehn Metern aufatmeten. Neben dem Großen St. Bernhard im Wallis entwickelte er sich zur wichtigsten Alpenroute. Rund zweitausend Jahre, nachdem dieser Transitweg gefunden worden war, lässt er sich als Kultur- und Weitwanderweg über fünfundsechzig Kilometer nachwandern. Die »Via Spluga« führt von Thusis auf der Alpennordseite über den Splügenpass ins italienische Chiavenna, genauer: von Graubünden in die Lombardei und umgekehrt.
Thusis, der größte Ort der Region, ist der Startpunkt auf der Schweizer Seite. Zwischen Tannen- und Lärchenwäldern geht der Via-Spluga-Wanderer mit dem einstigen und dem modernen Verkehr auf Tuchfühlung. Denn bevor er ins Grüne kommt, folgt er der Kantonsstraße, verfolgt mit Augen und Ohren die Autobahn A13, die die Ortschaften 1967 vom Durchgangsverkehr erlöste, dem Verlauf der alten Route aber folgt.
Kein Weg führt an der Viamala-Schlucht vorbei. »Böser Weg« heißt das sechs Kilometer lange Wegstück durch eine Schlucht mit teils senkrechten, überhängenden Schieferwänden von siebzig Metern Tiefe und stellenweise nur drei Metern Breite, das seit der Römerzeit begangen wird. Nicht wenige bezahlten das Abenteuer auf den schmalen Serpentinen und wackeligen Brücken mit dem Leben. Christen bauten auf jeder Seite eine Kapelle, in denen die Wagemutigen vor der Brückenbegehung wahlweise den Allerhöchsten, die Muttergottes, die Heiligen Antonius oder Wendelin um Schutz und Hilfe anriefen und diesen, wenn sie gewährt worden waren, auf der anderen Seite dafür dankten. Erst 1738 gelang der Bau zweier Bogenbrücken. Von da an wurde die Viamala regelmäßig benutzt. Um 1820 wurde der Saumweg zur Fahrstraße ausgebaut.
Der Via-Spluga-Wegweiser führt zum Hinterrhein, wo eine hochmoderne Spannbandkonstruktion Wanderern die Überquerung des reißenden Flusses erlaubt und über einen Waldweg nach Reischen bringt, einem kleinen Dorf mit Logenplatz über der Wiesenlandschaft des Schamsertals. Unten liegt die alte Saumtierwechselstation Zillis. Die Alpenroute mag versiegt sein, das Dreihundertfünfzig-Seelen-Dorf ist ein Pilgerziel geblieben. Wegen der weltberühmten vollständig bemalten Holzdecke von St. Martin rennen die Besucher Pfarrerin Marianna Iberg die romanische Bude ein, rund zweihundertfünfzigtausend im Jahr. Spiegel zur Genickstarre-freien Deckenbewunderung liegen in der Kirche aus. Es lohnt, sich für die hundertdreiundfünfzig kunstvollen Bildtafeln, auf denen das Leben Christi erzählt wird, reichlich Zeit zu nehmen. Denn hier im Hause des Soldatenheiligen helfen sie, die Religiosität des Mittelalters und den Mythos der Via Spluga zu verstehen.
Nach Zillis war Andeer auf neunhundertzweiundachtzig Metern die nächste Wechselstation. Da die Viamala 1473 sicherer wurde, begann der Fernverkehr langsam zu florieren. Waren wie Getreide, Reis, Salz, Früchte, Weine, Häute und Leder, Seide, Damast, Silberwaren, Werkzeuge und Rüstungen, Farbstoffe und Öl wechselten etappenweise die Transporteure. Die Säumer, wie diese Grenzhändler hießen – und die eigentlich hauptberuflich Bauern waren –, schlossen sich zu »Porten« zusammen, Genossenschaften, die für bestimmte Strecken das Transportmonopol besaßen, Ställe wie Warenlager, sogenannte »Susten«, unterhielten.
Auch in Andeer. Vom gut organisierten Fuhr- und Saumwesen vergangener Zeiten zeugen die prächtigen Palazzi, die sich fast lückenlos entlang der Veia Granda, der gepflasterten Hauptstraße, durch das Dorf ziehen. Der wohl schönste Stadtpalast, das Haus Padrun von 1500, prahlt mit reicher Sgraffito-Malerei, die für die Bündner Gegend so typisch ist: Auf einem weiß gekalkten, rohem Grundputz wurden Tier- und Pflanzenmotive herausgekratzt. Auch Schlösschen Clopath, Haus Conrad oder Haus Nicca erzählen vom Wohlstand der Speditionsunternehmer.
»Bun gi!«, rufen zwei Andeerer Damen mit Brötchentüten im Arm dem frühen Wanderer zu, was auf Rätoromanisch »Guten Morgen« heißt. Gern zeigen sie am Dorfbrunnen die Via-Spluga-Schilder zur Rofflaschlucht, der kleinen Schwester der Viamala, die allerdings nie begangen wurde. Die alten Pfade sind nun weitgehend verschüttet, so dass der Wanderer auf dem Weg zu einer der höchst gelegenen Alpensiedlungen auf vierzehnhundertfünfundsiebzig Metern dem modernen Verkehr nicht immer ausweichen kann. Wilde, romantische Passagen fehlen beim Aufstieg nach Splügen trotzdem nicht. Das Dorf, das dem bedeutenden Pass den Namen gab, ist der letzte Halt vor der Grenze nach Italien. 1716 brannte es fast völlig nieder, doch die Spuren des Transitverkehrs sind so gut erkennbar wie an kaum einem anderen Ort. Mächtige mehrstöckige Patrizierhäuser prägen den alten Dorfkern um den Sustenbach. Sie werden auch »Schorschhäuser« genannt, weil sie den einflussreichen Familien der Schorsch’, Albertinis und Zojas gehörten. Gegen diese Giganten aus Stein nehmen sich die sonnenverbrannten Holzhäuser der Walser sehr bescheiden aus, sind aber ein optisches i-Tüpfelchen. Die Walserhäuser wurden von aus dem Wallis eingewanderten Kolonisten und Soldaten gebaut, die entlang der Wegstrecke Arbeit gefunden hatten.
Die Blütezeit der Splügenroute setzte gegen 1650 ein. Um 1700 gingen gut sechstausend Saumlasten pro Jahr über den Pass – eine Saumlast bedeutete pro Pferd eine Gewicht von hundertfünfzig Kilogramm. Fünfzig Jahre später waren es bereits dreißigtausend Saumlasten, also gut das Fünffache. Die Zojas fingen 1720 damit an, das schon für damalige Verhältnisse kolossale »Bodenhaus«, eine Art Lager, dem moderner werdenden Verkehr entsprechend zum »Posthotel« umzuwandeln. Da das Reisen bei immer mehr betuchten Leuten in Mode kam, stellten sie sich auch auf adlige Gäste ein. Um 1800 zählte Splügen zehn Gasthäuser, doppelt so viele wie heute. 1859 erreichte der Warenumschlag mit siebenundzwanzigtausendeinhundert Tonnen den Höchststand. Erst als 1882 der Gotthardtunnel für die Eisenbahn eröffnet wurde, sank der Stern der Splügenroute.
Brauchte der Reisende im Mittelalter von Augsburg bis nach Mailand noch gut sieben Wochen, hat der Via-Spluga-Wanderer heute den Pass in zwei Tagen erreicht. Der Trail über die Berge dauert nach wie vor am längsten. Im Zickzack führt die Asphaltstraße zum zweitausendeinhundertdreizehn Meter hohen Pass hinauf. Die alte steinbesetzte Wegstruktur ist hier noch gut erhalten. Oben auf dem Splügenpass ist der Aufstieg gemeistert. Der Wanderer kann aufatmen. Vor ihm liegt Italien, das Land der Sehnsucht, das Land, wo die Zitronen und Orangen blühn.