Balgerei im Sägemehl
Auf der Rigi ringen Männer um Eichenlaub
»Schwinger-Chkooffi!?«, »Schwinger-Chkooffiiii!?«, rufen die ambulanten Austräger, die heißen Kaffee mit Apfel- oder Birnenschnaps aus der Thermoskanne verkaufen. Die Sitzreihen der Open-Air-Arena unterhalb des achtzehnhundert Meter hohen Rigi-Gipfels füllen sich mit Zuschauern. Holzbänke sind um drei kreisrunde Felder aus gelbem Sägemehl aufgestellt. Ein Logenplatz, vor dem die Innerschweiz ihr herrliches Bergpanorama ausbreitet. Auf dem Festgelände sind Alphornbläser und Fahnenschwinger im Einsatz. Die Schweizer Flagge flattert im Föhn, neben ihr ragt ein geschmücktes Bergkreuz auf. Im Hintergrund verkehrt die rote Rigi-Zahnradbahn, die im Sondertakt Besucher nach oben bringt.
Ob der Berg zwischen Luzern und Schwyz namens Rigi nun die oder der Rigi heißt, darüber sind viele uneins. Der Dichter Mark Twain schrieb immer der Rigi. Die britische Queen Victoria, die viele Sommer hier verbrachte, machte es sich leicht und sagt einfach the. Vermutlich ist die richtig, weil Rigi sich von »reginam montium« ableitet, Königin der Berge. Seit der Romantik steht dieser hohe Aussichtsberg am Vierwaldstätter See im Ruf, dass der Sonnenaufgang nirgends schöner sei als hier. Nur, wie kam man rechtzeitig vor der Sonne hinauf?
Der deutsche Ingenieur Niklaus Riggenbach löste das Problem mit seiner patentierten Zahnradbahn, die 1871 von Vitznau bis Staffelhöhe in Betrieb ging. Vier Jahre später folgte die Arth-Rigi-Bahn und 1968 die Luftseilbahn Weggis–Kaltbad. Die Träger, die die Touristen zuvor in Tragsesseln den Berg hochgeschleppt hatten, wurden mit der modernen technischen Errungenschaft endgültig arbeitslos.
Jeden ersten Sonntag im Juli fährt die erste Bahn schon um 5.55 Uhr in Vitznau ab. Trotz der Frühe sind die Waggons voll belegt mit Touristen und jungen Kerlen, hünenhaften Gestalten mit stämmigem Körperbau, die nichts so leicht umhaut. Auch diese durchtrainierten Muskelpakete sind froh, dass sie in dreißig Minuten hinaufkommen, ohne nur eine Zehe zu bewegen. Denn alle wollen zum jährlichen Schwing- und Älplerfest auf den Rigi Staffel, dem berühmten Bergfest mit Schwingwettkampf, Steinstoßen und dem Alpaufzug der Sennen.
Die Besucher haben Sitzkissen für das harte Holz dabei, Schirmmützen und Picknickkörbe. Männer, Frauen, Jugendliche und Familien belegen die Plätze. »Grüezi!«, »Salut!«, ist zu hören. Man kennt einander hier. Das Bergschwinget auf der Rigi, das über die »Wägsten und Besten« unter den Bärenstarken aus der Innerschweiz, der Südwestschweiz und dem Kanton Bern entscheidet, bringt mehrere Tausend Besucher auf die Beine. Denn das siebenhundert Jahre alte Sennen- und Hirtenspiel ist urnational: Schwingen rangiert in der Beliebtheit bei den Schweizern gleich nach Fußball und Skilaufen.
Mehr als hundert Schwinger treten an – allesamt Recken von bestimmt einem Meter achtzig und um die hundert Kilo schwer. Während das Schwingen früher ein Zeitvertreib der Bauern war, messen sich heute auch Handwerker, Kaufleute, Ingenieure und sogar Bänker auf dem Sägemehl. »Es gibt unter den Schwingern höchsten noch fünf Prozent Bauern«, meint Daniel von Euw, ein promovierter Agronom, aber »ohne blaues Blut«. Er misst einen Meter fünfundachtzig, bringt hundertzwölf Kilo auf die Waage und zählte zu den aktiven Spitzenschwingern, bevor er im Jahr 2008 Präsident des Eidgenössischen Schwingerverbandes wurde. Als Schreibtischarbeiter müsse man natürlich etwas häufiger trainieren, bekennt er. »Wer wirklich gut sein will, geht bis fünfmal die Woche zum Training«, sagt auch Martin Grab, der langjährige Publikumsliebling der Innerschweiz. Der Zwei-Meter-Mann, Jahrgang 1979, schwingt seit seinem elften Lebensjahr, wiegt hundertsiebzehn Kilo und kennt an die hundert Schwünge: »Man muss an die hundert Wurftechniken und Griffe beherrschen, um richtig angreifen und parieren zu können«, erklärt der mehrfache Schwingerkönig.
Das wichtigste Utensil ist die Schwinghose, eine kurze Überhose aus starkem Leinen und mit Ledergurt, wie sie schon seit 1794 verwendet wird. An den Oberschenkeln wird sie grifffest fast bis zur Hüfte zum Gestöss aufgekrempelt. Die hobbymäßigen Sennenschwinger sind am traditionell karierten Hemd und der langen dunklen Hose zu erkennen, die Turnerschwinger, die aktiv im Verein schwingen, am weißen Hemd und der weißen Hose. Eigentlich wären die breiten Sportlerrücken ideal für Namen wie Nestlé oder Credit Suisse. Doch Sponsorenwerbung ist verboten – alles läuft völlig unkommerziell ab.
Nach einer Art »Kraft-Gerechtigkeit« stellen die Kampfrichter für jeden der drei Spanplätze ein Kampfpaar auf. Die Schwinger geben einander die Hand – und damit das Versprechen, fair zu kämpfen. Sie stellen sich breitbeinig voreinander auf und beugen sich vor. Eine Hand greift in den Gurt am Gegnerrücken, die andere Hand ins Gestöss von dessen Schwinghose. »Los!«, ruft der Schiedsrichter. Und los geht die wilde Balgerei. Sägemehl spritzt, Beine fliegen, die Arme hintendrein. Gelb besprenkelt liegen die Athleten am Boden.
Jeder will den Gegner möglichst im Plattwurf auf den Rücken werfen, so dass er mit den Schulterblättern oder dem Gesäß im Sägemehl landet. Aber auch Kampfeslust entscheidet bei der Punktvergabe, korrektes und grifffestes Schwingen, Vielseitigkeit und Technik. Wer zu defensiv ist, wird verwarnt. Jeder Gang dauert fünf Minuten.
Plötzlich geht ein Rumoren durchs Publikum. Die Favoriten Martin Grab aus der Zentralschweiz und Roger Brügger aus dem Kanton Bern betreten das Gelb. Im Nu haben einander beide fest im Griff, sind kurz vorm Knoten ineinander verknäult und ihre Gesichter in die Knautschzone verrutscht. Behände befreit sich Grab, stellt ein Bein zwischen die Beine von Brügger, hebt ihn auf sein Knie, bringt ihn aus dem Gleichgewicht und schüttelt ihn ab. »Ein ›Churz‹!«, raunt Holzbank-Nachbar David, der selbst hobbyhalber schwingt. Doch Brügger greift wieder an, stellt blitzschnell sein rechtes Bein zwischen die Gegnerbeine, dreht, greift mit dem Arm über die Schulter in den Lendengurt, eine unmögliche Verrenkung, erwischt mit dem Fuß das gegnerische Bein und wirft ihn mit einem kräftigen Ruck kopfüber auf den Rücken. »Das war der ›Brienzer‹«, erklärt der Fachmann zur Rechten.
Ein neuer Angriff: Grab springt mit der Hüfte tief unter die von Brügger, fasst von oben ins Gestöss, zieht ihn mit Wucht hoch, schwingt ihn im Kreis – daher muss das Spiel seinen Namen haben –, beugt sich vor und wirft ihn mit einem Ruck kopfüber platt auf den Rücken. »Der ›Hüfter‹ ist der spektakulärste Wurf überhaupt«, begeistert sich David. Insgesamt gebe es mehr als hundert Schwünge, doch die häufigsten seien Kurz, Brienzer und Hüfter. Punktsieg für Grab. Der strahlende Sieger hilft dem Unterlegenen beim Aufstehen und putzt ihm das Sägemehl vom Rücken. Ein liebenswürdiges freundschaftliches Ritual.
Pause für die Schwinger. Jetzt steht das Unspunnen-Steinstoßen auf dem Programm, eine Disziplin aus dem bäuerlichen Rasenkraftsport, die noch älter als das Schwingen sein soll. Zwischen zwanzig und vierzig Kilo wiegt der Steinblock, der fuß- oder meterweit gestoßen wird. Der berühmteste Unspunnenstein, das Schweizer Symbol für Urkräfte, wog zweiundneunzig Kilo und wurde beim ersten Steinstoßwettbewerb 1805 bemerkenswerte zehn Fuß gestoßen. Danach verschwand der Stein auf ungeklärte Weise, tauchte aber irgendwann wieder auf. Seither hielt der Turnverein Interlaken den Unspunnenstein unter Verschluss. Trotzdem wurde der legendäre Granitbrocken am 20. August 2005 aus einer Ausstellung, am helllichten Tag und unter mysteriösen Umständen, erneut gestohlen. Der »grand caillou«, der große Kiesel, wie er liebevoll genannt wird, blieb verschollen. Die Kopie des verlorenen Originalsteins wiegt nur noch dreiundachtzig einhalb Kilo. Jahrzehntelang blieben die Bestweiten unter der Vier-Meter-Marke, weil der Koloss aus dem Stand geworfen werden musste. Dann wurde das Reglement geändert, und nun kann man den Wackerstein mit Anlauf stoßen. Im Jahr 2006 flog der »große Kiesel«, den ein Normalsterblicher keinen Zentimeter vom Fleck bewegen könnte, durch die Luft und auf sensationelle vier Meter elf. Im Anschluss an das Steinstoßen folgt ein folkloristischer Alpaufzug der Rigi-Alphirten in ihren Festtrachten, dem mit Blumen geschmückten Vieh und der Sennfamilien mit Fahrhabe und den Gebrauchsgegenständen der Älpler.
Dann sind die Schwinger wieder an der Reihe. Nach fünf Gängen steht der Schwingerkönig fest. Den »Wägsten und Besten« winkt als Preis ein Kranz aus Eichenlaub, der noch dem vierschrötigsten Burschen etwas Prinzessinnenhaftes verleiht – und eine riesige Kuhglocke. Kein Wunder, dass die Kämpfe so sportlich und fair verlaufen: Es geht nicht um Geld oder millionenschwere Sponsorenverträge, sondern nur um die persönliche Ehre und die Freude an der Sache. Das macht das Bergfest so sympathisch.
Viele Besucher streben schon in Richtung Rigi-Bahnen. Denn nun wird der Kampf vom Sägemehl auf den Perron verlegt. Wer keinen Platz mehr im Waggon bekommt, der findet in einem der Hotels ein Bett und kann am nächsten Morgen bequem den Rigi-Sonnenaufgang beobachten – wie einst Queen Victoria und wie Mark Twain.