Adlerauge, sei wachsam
Ein Robin Hood der Natur im Gomstal
Es ist vier Uhr dreißig. Das Telefon klingelt. »Holzer, Werner, der Wildhüter, ist dran«, sagt eine muntere, feste Stimme. »Schon wach?«, fragt er vorsichtig. Während andere um diese Uhrzeit noch schlaftrunken in den viel zu jungen Tag tapsen, ist Werner Holzer fit wie ein Turnschuh. In aller Herrgottsfrühe aufzustehen, ist eine seiner leichtesten Übungen.
Punkt fünf Uhr steht der Waidmann ohne Jagdpassion und Repetiergewehr vor der Tür, um mich zur Wildbeobachtung abzuholen. »Später geht’s nicht«, sagt der braun gebrannte Mann mit dem grauen Schnauzer und dem grünen Federfilzhut fast mitleidig. »Um acht ist das Rotwild verschwunden«, versichert er. »Wenn erst die Sonne aufgegangen ist, wird es zu heiß für sie. Die Fliegen fangen an zu plagen, und dann verbergen sich die Tiere im Schatten der Erlensträucher.« In der Natur hat alles einen triftigen Grund, und Holzer kennt sich aus.
Wir steigen in den mattroten Wagen ein, ein einfacher Fiesta, der mit guter Pflege noch ein paar Jahre halten wird. Äußerlichkeiten sind Holzer fremd, Landjunker und Champagnertrinker ist er auch nicht. Hinter dem Dorf Grafschaft mit den nostalgischen Walliser Holzhäusern biegt er auf den holprigen, kurvigen Waldweg in sein Wildbeobachtungsrevier im Gomstal. »Ich liebe die Natur, weil sie eine klare Linie hat«, sagt Holzer. »Das ist wie Mathematik.« Überhaupt ist Präzision seine Sache. Bis vor zwei Jahren sorgte der gelernte Maschinenzeichner in einem Feinmechanikerbetrieb, der Medizinalsägeblätter für die Chirurgie herstellt, für die Qualitätssicherung. Mit fünfundfünfzig Jahren hängte er den Beruf an den Nagel, um sich ganz der Natur zu verschreiben. »Die Dinge, auf die es im Leben ankommt, lernt man nicht am Schreibtisch, sondern draußen im Wald.«
Dafür nahm er erhebliche Einbußen bei der Rente hin. Das nötige Kleingeld hatte er sich in den Jahren davor zur Seite gelegt. »Wenn ich etwas anfange, dann richtig!« So wie er das sagt, nimmt man ihm es ab. Früher hat auch er bei der Jagd Testosteron und Frustration abgebaut. Mehrere Hirschgeweihe unter dem Giebel seines mit Geranien geschmückten Hauses erzählen davon. Doch die Waffen sind längst eingemottet: Heute trägt er nur noch den Feldstecher bei sich.
Der Ruhestand machte ihn zum Hilfswildhüter – ein unbezahlter Fulltimejob. Er ist einer der sechs Robin Hoods der Natur, die es nur zwischen Furkapass und Binntal gibt. Auch wenn an erster Stelle gute Forstfähigkeiten und Kenntnisse von Flora und Fauna Voraussetzung für den Posten sind, kommt man an das Ehrenamt nur durch Ernennung. Die Aufgaben gleichen denen des Wildhüters. Der Assistent unterstützt diesen in der Wildhege und -pflege und bei den Bestandszählungen, er kontrolliert den Waldzustand und führt zu seinem Privatvergnügen Wildbeobachtungen.
»Die Natur kann ohne uns leben. Doch wir nicht ohne die Natur«, erklärt der gebürtige Gommer sein Engagement. Auch darin vertritt er gern eine klare Linie, weshalb er immer wieder aneckt. Ihn stört das nicht. Er spricht offen aus, was er denkt und was ihm nicht passt. Besonders bei der Jagdlobby. »Viele Jäger legitimieren die Jagd immer mit der angeblich notwendigen Bestandsregulierung, mit Wald- und Kulturschäden. Doch das stimmt so nicht.« Den vehementesten Verfechtern geht es selten um die Erhaltung des natürlichen Gleichgewichts, sondern um das eigene. Trophäen sind nur ein Ausdruck dafür. »Man erkennt das daran, dass sie Raubwild wie etwa Füchse praktisch gar nicht erlegen. Obwohl sie die schlimmsten Überträger von Tollwut und Fuchsräude sind.« Doch der Staat zahlt pro Stück nur eine Prämie von fünfzehn Schweizer Franken. »Manche Jäger nehmen sich nicht einmal die Zeit, das Fell abzubalgen. Das Abziehen dauert eine gute Stunde, wenn man es richtig macht.« Vor der Anti-Pelz-Kampagne hatte ein guter Fuchsbalg an die hundert Franken gebracht. Heute lassen die Jäger den erlegten Fuchs einfach liegen.
Wir stapfen durch das taunasse Gras und über einen Gebirgsbach zum Beobachtungsposten. Holzer kennt jedes Kraut am Wegesrand mit Namen. Hier der blau blühende Storchenschnabel und der Ehrenpreis, dort die roséfarbene Ackerkratzdistel. Hinter der Bieliger Alm postiert er sich auf einer schattigen Erhebung, von der wir eine gute Sicht auf den Berghang gegenüber, in den Taleinschnitt und auf den rückwärtigen Hang haben. Sehen, aber nicht gesehen werden, heißt die Devise, »auch um das Wild nicht zu stören«, betont er, während er das dreibeinige Spektiv, das sechzigfach vergrößert, aufstellt. Eine hochkarätige Ausstattung, die kein billiges Vergnügen war. Fernrohre und seine Bergschuhe mit der wasserabweisenden Doppelzunge – für Holzer ist das eine Investition fürs Leben. »Durch Militär- und Gleitschirmflieger wird das Rotwild bei der Äsung so sehr gestört, dass Hirsche fast schon Nachttiere geworden sind.«
Er setzt seinen Feldstecher an, um sich an die Beobachtungsprojekte heranzupirschen. »Da!«, ruft Holzer und zeigt auf eine Lichtung am Berg gegenüber. »Ein kapitaler Hirsch!« Die ganze Bewunderung des Naturfreunds spricht. Holzers Arm ist vom Zeigen schon ganz lahm. Er gibt Orientierungspunkte vor, doch das ungeübte Auge erkennt das Rotwild nicht. »Reine Übungssache«, tröstet Holzer. Wichtig ist, Geländeabschnitte abzusuchen, einen Punkt zu fixieren, einen Felsvorsprung, eine Tannengruppe oder einen Bach, lautet der Rat des Routiniers. Nach einstündigem Training hat sich das Laienauge an den Feldstecherblick gewöhnt. Und plötzlich steigen aus den grünen Erlenbüschen rotbraune Punkte, drehen und wenden sich und springen davon. Zwischen Felsen und Lärchen bieten Hirsche, Rotwildherden, Gemsen und Murmeltiere faszinierende Anblicke.
Die wachsimprägnierte, aber ungeeignete Outdoor-Jacke hat ihr Bestes gegeben. Jetzt ist die Kälte bis auf die Haut gekrochen, das Schuhleder vom Tau durchnässt. Der Forst-Gentleman hilft mit seinem molligen Thermomantel aus und zückt die Thermosflasche mit heißem Tee. Er ist im Survivaltraining in den Bergen geübt. Als das Zähneklappern aufgehört hat, räsoniert Holzer noch einmal über die Widersinnigkeit mancher Jägerideen. »Jetzt soll sogar das Abschießen der Muttertiere erlaubt werden«, sagt er zerknirscht. Er findet das grundfalsch. »Von ihnen lernen die Rotwildkälber das soziale Verhalten. Das ist für ihr Überleben, für jede Familie und jede Gesellschaft wichtig. Man darf nicht nur an das Wildbret denken.«
Nach der Wildbeobachtung braucht auch Holzer Werner zuerst einmal einen guten Kaffee. »Ich bin eine Kaffeetante«, sagt er schmunzelnd, trinkt und zieht die Bilanz: Mindestens dreißig bis vierzig Stück Rotwild, dreißig Gemsen und vier Murmeltiere sind die optische Ausbeute des Tages. Er ist zufrieden, auch wenn er keinen Steinadler, von denen es immerhin noch zehn im Gomstal gibt, sichten konnte. »Es war zu windig für ihn.« Ein triftiger Grund, denn in der Natur hat alles einen Grund. »Vielleicht heute Abend«, sagt er und freut sich auf eine neue Chance.