Auf zu neuen Wassern
Der Mineralwasserweg im Engadin
Arsen – das ist der Stoff, aus dem viele Kriminalgeschichten entstehen. Agatha Christie, Georges Simenon und Mario Simmel haben sich des Giftes gern bedient. Und auch bei ihren Lesern verfehlte es selten seine Wirkung.
Im bündnerischen Scuol sind noch die meisten Menschen eines natürlichen Todes gestorben. Der einstige Kurort im Engadin ist schon seit dem Mittelalter als ausgesprochen gesundes Pflaster bekannt. Nicht trotz, sondern wegen seiner Quellen, von denen einige arsenhaltig sind. Denn das Halbmetall hat neben seiner giftigen auch eine heilende Wirkung, als Mittel gegen Fieber und Rheuma. Es kommt einzig auf die Dosis an. Das wusste auch die gelernte Pharmazeutin Agatha Christie.
Scuol hätte ihr gefallen. Allein in der Region Scuol-Tarasp-Vulpera entspringen mehr als zwanzig Mineralquellen, hier sprudelt trinkfertiges Tafelwasser ebenso wie kräftiges Mineralwasser. Heilwirkung wird ihnen allen nachgesagt. Neun sind gefasst, analysiert und für Trink- und Badekuren in Gebrauch. Sie gelten als die mineralreichsten der Schweiz, anzuwenden bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Stoffwechselstörungen und Magen-Darm-Beschwerden, Blutkrankheiten und Gelenkbeschwerden.
Für Europas höchstgelegenes dauerhaft bewohntes Tal sind die zahlreichen Quellen ein Luxus. Die Engadiner Stiftung Fundaziun Pro Aua Minerala hat einen Mineralwasserweg zum Wandern und Fahrradfahren entwickelt. Auf ihm lernen Besucher nicht nur die schöne Wald- und Berglandschaft in Höhenlagen zwischen sechzehnhundert und achtzehnhundert Metern kennen. Die Stiftung will auch das Bewusstsein für die Bedeutung des Wassers als Lebenselixier und gesunden Durstlöscher wecken.
Die Hauptstrecke umfasst zwölf Quellen, darunter die bekannten Bonifazius, Luzius, Sfondraz, Vi, Clozza und Stron. Weitere kamen etappenweise dazu, die vier Stationen Fuschna, Suolper, Jan Jon Dadaint und Cotschna und die sechs Arsenquellen im Val Sinestra. Der etwa fünfzehn Kilometer lange Weg führt mit Schlaufen und Abschweifungen nach Scuol, Ftan und Vulpera. Tafeln erklären an den Stationen auf Deutsch und Rätoromanisch die Quelle, den Quelltyp, die wichtigsten Inhaltsstoffe und Verwendungszwecke. Manche liegen an idyllischen, fast versteckten Stellen im Wald, etwa die Bonifazius-Quelle mit ihrem verwunschenen Brunnenhäuschen. Ihr calciumhaltiges Wasser empfehlen einheimische Ärzte gegen Osteoporose. Oder die Lischana-Quelle, eine der magnesiumreichsten im Alpenraum, die viele Sportler anzieht. Auf Knopfdruck fließt das frische Quellwasser aus dem Brunnen. »Tägliche Schlückchen vom kostbaren Mineralwasser aus der Tiefe können manch teure Magnesium- oder Calcium-Pille aus der Apotheke ersetzen«, sagt die Mineralwasserstiftung.
Die Clozza-Quelle hat ein Sichtfenster und Beleuchtung, die den Blick auf die sprudelnde Felsquelle freigibt. Nur provisorisch gefasst sind die Vi-, die Fuschna-, die San Jon Dadaint- und die schwefelhaltige Suolper-Quelle, die landschaftlich besonders idyllisch liegen und deren Wasser direkt aus dem Boden dringt. Die Cotschna-Quelle ergießt sich wie ein kleiner Wasserfall aus dem roten Fels. Und aus dem Brunnen am Dorfeingang von Sent fließt das Wasser sogar synchron – aus einer Röhre kommt Leitungswasser, aus der anderen Wasser aus der Stron-Quelle, das stark eisenhaltig ist. Damit es den traditionellen Holztrog nicht rostrot verfärbt, setzten die Baumeister in den vorhandenen Brunnen ein quadratisches Betonbecken hinein – ein schicker Kontrast zwischen Alt und Neu.
In Unterscuol steht der Büglgrond-Brunnen, aus dessen Hahn die calciumhaltige Chalzina-Quelle fließt. »Heilwässer sind ein Wunder der Natur«, meint die junge Frau, die gerade zwei Eimer mit Wasser volllaufen lässt. Der Brunnen ist einer von fünfen in Scuol, die mit Mineralwasser gespeist werden. »Für meine Kartoffeln«, lacht sie und verschwindet in einem der großen Bauernhäuser, in denen Bauern und Vieh früher unter einem Dach lebten. Ihre Schönheit verdanken sie der Sgrafitto-Technik, einfach, aber effektvoll. Tier- und Pflanzenmotive werden dabei aus dem rohen weißen Kalkanstrich herausgekratzt. Der Büglgrond-Dorfplatz mit seinem malerischen Ensemble Engadiner Häuser aus dem 17. Jahrhundert gilt als einer der schönsten in der Schweiz.
Mineralwasser direkt aus dem Brunnen, Gesundheit für jedermann zum Nulltarif. So arm das Hochtal an Bodenschätzen auch ist, von dem elementaren Schatz Wasser hat es im Überfluss. Schließlich fließen nicht überall die Quellen wie im Schlaraffenland. Im Engadin entstehen sie, indem Schmelz- und Regenwasser durch Klüfte, Brüche, Poren und Karst-Öffnungen in den Untergrund der Erde eindringen. Abhängig von der Geologie einer Gegend, dem Weg, den das Wasser sich sucht, der Aufenthaltsdauer im steinigen Erdreich und der Tiefe, reichert es sich mit Mineralien an und tritt wieder zu Tage – als »gewöhnliches« Trinkwasser oder als »heilendes« Mineralwasser, kalt oder heiß, manchmal erst nach Jahren oder Jahrzehnten.
Der Quellenreichtum rührt von der besonderen Lage im so genannten »geologischen Fenster des Unterengadins«. Erosion trug im Laufe der Zeit die Gneis- und Granitschichten der Silvretta-Decke und der Engadiner Dolomiten ab und legte den darunter liegenden Bündner Schiefer frei. Auf seinem Weg zur Oberfläche mischt sich das Wasser mit Kohlendioxid, der aus dem Schiefer austritt, und löst unter dem gewaltigen Druck des Gases Stoffe wie Natrium, Kalzium, Magnesium, Kalium, Eisen, Chlorid und Sulfat aus dem durchflossenen Gestein heraus. Das Ergebnis ist so vielfältig wie die unterirdischen Prozesse: unter den neun gefassten Quellen sind drei alkalische Glaubersalzquellen, fünf alkalische Eisensäuerlinge und ein alkalisches Bitterwasser. Allerdings verliefen die Pläne, das Engadiner Mineralwasser als Tafelwasser abzufüllen, im Sande.
Also, auf zu neuen Wassern. Mit der Renaissance des Mineralwassers besinnen sich die Engadiner ihrer alten Bädertradition. Badekuren sind jedoch längst nicht mehr angesagt. Das war früher anders. 1369 wurde die glaubersalzhaltige Luzius-Quelle entdeckt, und bald nutzten die Engadiner ihre Quellen zum Trinken und Baden. Zunächst noch für sich allein. Doch mit dem Bau der Talstraße 1853 kam der Bädertourismus in Schwung. Trinkhallen, Trinkpavillons, Badehäuser und Hotels boomten. Scuol wurde zum Treffpunkt des europäischen Adels und des betuchten Bürgertums.
Zu den Kurgästen zählten auch Zar Nikolaus II. und Carola Königin von Sachsen. Ein Kurgast notierte humorig 1857 über die Kur-Gesellschaft: »Der elegante Fabrikherr mit galligem Teint und Glacéhandschuhen, Freund Staatshämorrhoidarius, neben ihm der stämmige Bündner Bauer, tyrolische Klostergeistliche, der regsame lombardische Kaufmann, eine starke Vertretung des schönen Geschlechts in rauschendem Seidenkleid wie in der anspruchslosen Tracht der Unterengadinerin.«
Auch der Odol-Erfinder Karl August Lingner aus Dresden zählte zu den Gästen, er kaufte sich nach erfolgreichen Trinkkuren und Wannenbädern 1900 Schloss Tarasp, um sich die Nähe zu den gesunden Quellen auf Dauer zu sichern. Wissenschaftliche Untersuchungen belegten die Heilkraft der Mineralwässer. Bald nannte Scuol sich die »Bäderkönigin der Alpen« und zeitweise auch »Bad Scuol«. Die Nachbargemeinde Bad Tarasp exportierte die Wässerchen damals sogar nach Berlin, New York und Sydney. Es kostete zwar ein Vermögen, aber der Glaube an die heilende Wirkung schien den Preis zu rechtfertigen. Nach zwei Weltkriegen, der Wirtschaftskrise und dem rasanten Fortschritt der Medizin verloren Trinkkuren ihre Bedeutung. Wer Schmerz empfand, griff zur Tablette, nicht zum Wasserglas. Fruchtsäfte, Cola und Wellnessdrinks traten an die Stelle des Mineralwassers.
An die alte Blütezeit erinnert wenig. Da ist die renovierte Trinkhalle »Büvetta Tarasp« im Kurhaus, erbaut 1867, in der die beiden hochmineralisierten Quellen Luzius und Emerita gefasst sind. Die Büvetta Sfondraz gleich gegenüber gehört zu einem Gartenlokal. Im einstigen Badehaus Nairs am linken Inn-Ufer erstand ein Kulturzentrum, in dem die Carola-Quelle fröhlich sprudelt. Ein bisschen Belle Époque hat sich erhalten – sichtbar am Grandhotel »Schweizerhof« in Vulpera und dem »Scuol Palace«. Doch die meisten Bäder sind neuzeitlichen Ursprungs, etwa das »Bogn Engiadina Scuol«, ein Wellnessbad, wo der Gast in Mineralwasser schwimmt, gespeist aus den Quellen Sotsass, Vi und Clozza.
Am Schluss steht eine Geschichte, die womöglich doch noch Stoff für Miss Marple, Sherlock Holmes oder Kommissar Maigret liefern könnte. Im Ruheraum des Bades erzählt ein Wanderer die Geschichte vom geheimnisvollen Grab in Tarasp. Auf dem Stein des Trafoier-Sepp stand »Speck gessen, Wasser trunken, hi gwesen«. Dieser hatte nach der Kur plötzlich das Zeitliche gesegnet, angeblich nach übermäßigem Mineralwassergenuss. Womöglich von der Arsenquelle? Nichts ist bewiesen, und vor allem: Es ist vier Jahrhunderte her.