Geheimnisse an der Wand
Karolingische Fresken erklären die Welt
Etwas abseits der einst belebten römischen Via Claudia Augusta nahe der Grenze zwischen der Schweiz und Südtirol liegt auf gut zwölfhundert Metern Höhe das Münstertal. Zwischen den Berghängen öffnet sich ein weites, fast unverbautes Tal. Bergbäche schlängeln sich durch den dichten Arven- und Lärchenwald. Im Sommer blühen romantisch die Wiesen.
In diesem Tal mitten in den Graubündner Alpen gründeten fünfundvierzig Benediktinerbrüder zur Zeit Karls des Großen ein Kloster, vermutlich im Auftrag des Kaisers selbst oder des Churer Bischofs. Als »monasterium tuberis« ist es um 824 zum ersten Mal urkundlich erwähnt. Später gab das Münster auch Dorf und Tal ihre Namen – Müstair, Mistèr oder Mistail, abhängig vom jeweiligen rätoromanischen Idiom. Kaum beachtet, ist Müstair mit seinen wenigen Einwohnern das größte Dorf im Tal und das letzte vor der italienischen Grenze. Das Kloster St. Johann liegt am östlichen Dorfrand, obwohl es seit Jahrhunderten seine Mitte darstellt.
Diese äußerlich fast unscheinbare Klosteranlage zählt zu Europas großen Kulturdenkmälern. Dort lagert der größte erhaltene karolingische Freskenzyklus, ein einzigartiges Bilderbuch aus der Gründungszeit des Klosters um 800. Durch ihn erlangte Müstair seine Bedeutung. Unter der Nummer 164 befindet es sich seit 1983 in der Liste des UNESCO-Welterbes und in bester Gesellschaft mit den Pyramiden von Gizeh und dem Schloss von Versailles – nur, dass es nicht so bekannt ist.
Der Benediktinerorden gehört aufgrund seiner Ordensregel »ora et labora« – bete und arbeite – zu den reichen Kongregationen. Allerdings wäre St. Johann unbedeutend geblieben, hätte es nicht die römische Alpenstraße gegeben, über die zur Frankenzeit die Mitteleuropäer den gesamten Nord-Süd-Handelsverkehr abwickelten. Sie führte vom italienischen Verona über den Reschenpass und Landeck zur damaligen Handelsmetropole Augsburg. Von Ost nach West querte die Achse über den Umbrailpass. Das strategisch wertvolle Münstertal war eines der wirtschaftlich und politisch bedeutendsten Durchgangsgebiete.
Im Kloster herrschte im Mittelalter ein reges Treiben. Außer dem Gebet und der körperlichen Arbeit bestand die Hauptaufgabe der Mönche bald darin, Nachtlager und Mahlzeit für müde Reisende bereitzuhalten. Könige, Bischöfe, Marketender, Legionäre, Wandermönche und Pilger stiegen bei den Benediktinern ab. Die Einsiedelei entwickelte sich zu einer Raststätte am Wege. Anfang des 10. Jahrhunderts löste sich das Männerkloster auf und wurde um 1100 in einen Nonnenkonvent umgewandelt. Doch mit der Reformation und der Verlagerung der Verkehrsströme verloren die Churer Bischöfe ihren Einfluss in Graubünden, und das Kloster, das im Tal allein die katholische Stellung hielt, verarmte.
Der damalige Verfall begründet seinen heutigen Wert. Anders als bei den meisten Klöstern in der Schweiz, die von eitlen, in den Fürstenstand erhobenen Prälaten in der Barockzeit und im 19. Jahrhundert grundlegend um- oder neugebaut wurden, blieb Müstair, wie es war. Das bedeutungslos gewordene Kloster überlebte fast vollständig in der Gestalt, die die Benediktinerinnen ihm im 15. und 16. Jahrhundert gegeben hatten: St. Johann blieb eine mittelalterliche Klosterburg.
Schon von weitem sieht man die wuchtige Wehrmauer mit dem markanten Planta-Turm. Der nach seiner Erbauerin Äbtissin Angelina Planta (1478–1509) benannte Fluchtturm mit schrägem Dach schützt Kirche, Wohn- und Wirtschaftsgebäuden mit dicken Mauern. Wie es sich für eine »Tankstelle« für Geist und Magen gehört, beanspruchte der Wirtschaftshof den größten Teil des Klosters. Mit Großküche, Vorratskeller, Refektorium, eigener Käserei und Bäckerei, großem Viehbestand, Knechtekammern, Pferdestallungen, Geräteschuppen und Kutschengaragen erfüllte es alle Qualitäten eines gutbesuchten Landhotels.
Wie einst sind die in St. Johann lebenden Nonnen Selbstversorgerinnen. Über den Hof läuft manchmal eine Klosterfrau in schwarzer Tracht und grauer Arbeitsschürze – immer in Eile, denn sie erfüllen ein unerbittlich strenges Tagesprogramm. Zwischen den obligatorischen Andachten ackern sie in den Gemüsegärten oder sticken die prächtigen Bündner Festtrachten, die sie selbst nie tragen dürfen.
Der dreigeschossige Mitteltrakt trennt den Wirtschaftshof von den Konventräumen. In den Äbtissinnenwohnungen, Nonnenzellen und Korridoren verbeugen sich die Arvenholzbalken vor dem Gewicht der Zeit. Die kostbaren Schnitzereien stammen teilweise noch aus der Gotik. Im Westflügel des Nordvierecks hatte sich der Churer Bischof Norbert im 11. Jahrhundert eine turmartige getäfelte und reich dekorierte Suite mit Saal und eine zweigeschossige Kapelle gebaut. Der »Norbertsaal«, die Ulrichskapelle und einige andere Räume sind als Museum zugänglich.
Trampelpfade führen quer über den Friedhof zum Kernstück der Anlage, der um 800 entstandenen schlichten Klosterkirche, einem der wenigen erhaltenen karolingischen Gotteshäuser. Man betritt scheinbar eine andere Welt. Die wenigen Fenster werfen lediglich Lichtpfützen in den zwölf Meter breiten Raum. Den vormals stützenlosen Kirchenraum ließen die Äbtissinnen 1492 mit einem auf mächtigen Rundpfeilern ruhenden Rippengewölbe versehen. Das Gebäude lässt den Besucher verstummen. Nur die Schritte hallen dumpf durch das Gemäuer. Ehrfurchtsvoll versucht man noch leiser zu gehen. Denn hinter den kalkmörtelverputzten Bruchsteinmauern beherbergt St. Johann seinen eigentlichen Schatz, die karolingischen Wandmalereien, die erst Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt wurden. Als die Renovierungsarbeiten 1950 begannen, legten staunende Restauratoren in der kleinen Kirche des Alpenklosters den frühmittelalterlichen Freskenzyklus frei. Die Szenen aus dem Leben Christi, Davids und Johannes des Täufers, die den Innenraum einst vollständig geschmückt hatten, waren in romanischer Zeit aus der Mode gekommen; man übertünchte sie einfach.
Seit der Restaurierung erstrahlen an allen Wänden wieder die ursprünglichen Malereien in ihren rötlich und gräulich schimmernden Erdfarben. Die Bilder visualisieren das Drama von Jesus Christus, dem die Müstairer Kirche geweiht ist. Johannes der Täufer taucht auf, denn er ist der Schutzpatron des Klosters. Erst verwirrt die Fülle der Allegorien, doch bei genauerem Hinsehen offenbart sich ein klug durchdachtes, harmonisches Gesamtgebilde. Die Reihe aus ursprünglich neunzig gerahmten Einzelbildern beginnt oben links an der Südwand und setzt sich über die West- und die Nordwand fort. Unter den zahlreichen Skulpturen aus dem frühen und hohen Mittelalter findet man auch eine Statue von Karl dem Großen. Die Nonnen sagen, man müsse das Kloster mit dem Herzen sehen, damit man es von innen erblicken könne.