Kauzig und kantig

Originale im Appenzellerland

Wie hingestreut liegen einzelne Bauernhöfe, Dörfer und winzige Ortschaften auf der saftiggrünen Hügellandschaft zwischen Bodensee und Säntis. In der Ostschweiz sieht man viele dieser sonnenverbrannten Holzhäuser, ein Bauernhaustyp, der noch aus dem 17. Jahrhundert stammt, mit den langen Sprossenfensterreihen und dem roten Geranienschmuck. Der Sage nach wollte der Säntis-Riese hier einst eine Stadt bauen. Er ließ sich im Montafon einen Vorrat an hübschen Häusern zimmern, steckte sie in einen groben Sack, warf ihn über die Schulter und machte sich auf den Heimweg. Als er den Alpstein überschritt, riss eine Felskante das Leinen auf. Die Häuser purzelten die Berghänge in die Täler hinunter, übersäten Böden und Hänge. Städte hat es im Appenzellerland nie gegeben.

Mit der Größe des Kantons ist kein Staat zu machen, eher mit seinen landschaftlichen Vorzügen. Fläche und Bevölkerung stellen gerade mal ein Prozent der Schweiz. »Klein, aber vollwertig«, sagen die Appenzeller selbstbewusst. Schließlich stelle auch Washington nur rund ein Prozent der Amerikaner. Auf diesem knappen Raum bietet das Appenzell Natur pur – und das soll auch so bleiben. Die Verantwortlichen der Kantonsregierung waren sich darin einig, auf Massentourismus zu verzichten. Weiche Höhenzüge umgeben sich mit schroffem Hochgebirge, Kulturlandschaft mischt sich mit Urlandschaft. Erst am Säntis steigt der grüne Voralpengürtel bis auf über zweitausendfünfhundert Meter zum Hochgebirge auf. Die höchsten Erhebungen des Alpsteingebirges, der Hohe Kasten (1795 Meter), der Kronberg (1643 Meter) und die Ebenalp (1664 Meter) sind als Paradies für Wanderer und Kletterer bekannt.

Wer zu den Appenzellern will, muss von allen Seiten her Steigungen überwinden. Früher kam über die unbequemen Berge nur, wer unbedingt musste. So stießen sich fremde Einflüsse lange an den Bergkuppen die Nase, und das Appenzell veränderte sich kaum. Den Lebenstakt bestimmten Heugabeln und Sensen. Brauchtum und Traditionen erwiesen sich als dauerhafter als anderswo. Tracht gehört zum Alltag, bei den Älteren sowieso, aber auch bei den Jüngeren. Beim rechten Mann hängt das Landauerli im Mundwinkel. Wenn es ausgeraucht ist, möglichst verkehrt herum. Dort bleibt die kleine schwarze Pfeife mit dem silbernen Deckel, bis sie wieder angezündet wird. Und manch Junger findet das kultig. Zusammen mit dem Ohrschuefe, dem goldenen Gehänge der Männer, zählt das Landauerli zu den unentbehrlichen Alltagsutensilien des typischen Appenzeller Bauern. Auch die sprichwörtliche Eigenwilligkeit lässt sich geografisch erklären. Selbst in der Schweiz gilt der Appenzeller als kauzig, kantig, verschroben, aber er ist auch mit einer gesunden Portion Humor ausgestattet – ein Original eben.

Zur Tradition gehörte noch bis zum ausgehenden 20. Jahrhundert, dass Politik reine Männersache war. Überall in Europa übten Frauen längst das Wahlrecht aus. In ganz Europa? Nein! Das kleine Appenzell sträubte sich. Jährlich versammelten sich die männlichen Stimmberechtigten zur so genannten »Landsgemeinde«, die über dem kantonalen Parlament stehend das oberste bestimmende Organ im Kanton ist. Sie stimmten unter freiem Himmel per Handheben über ihre Interessen ab. Frauenrechte interessierten nicht. Mit grimmiger Entschlossenheit hatte sich das starke Geschlecht über Generationen hinweg auf der Landsgemeinde alljährlich im April gegen das Stimm- und Wahlrecht von Frauen gewehrt und sie vom politischen Geschehen im Kanton ausgeschlossen. Wiibervolch auf der Landsgemeinde – das hielten viele in der Region für Frevel.

So kam der Kanton, der sich in Appenzell Innerrhoden und Appenzell Außerrhoden gliedert, zum Ruf eines »Volkstumsreservats« von frauenfeindlichen Querulanten. Erst 1989 führte der evangelische Halbkanton Außerrhoden das Frauenstimmrecht ein. Ein Jahr später unterwarf sich der katholische Bruderkanton Innerrhoden. Die letzte Schweizer Bastion der Männerherrschaft fiel. Allerdings nicht ganz freiwillig. Ein Bundesgerichtsentscheid zwang 1990 die letzten Widerständler, das 1971 auf eidgenössischer Ebene beschlossene Frauenstimmrecht einzuführen – gegen den erklärten Willen der männlichen Stimmbürger in Innerrhoden. Als wenig später gleich zwei Ministerposten am Herisauer Regierungssitz von Frauen besetzt wurden, kam das einer politischen Zeitenwende gleich.

Der Streit um die Damenwahl ist mittlerweile vergessen. Friedlich grast überall das Braunvieh auf den Wiesen. Das Gebimmel der Schellen ist kuhlängenweit zu hören. Beim Anblick des »melchigen« Grases denkt man unwillkürlich an den Duft von Käse, des Appenzellers. Doch von der fortschreitenden Zurückdrängung der Alpbewirtschaftung blieb auch das Appenzell nicht verschont. Kaum einer der Alpbauern verkäst noch oben am Berg die Milch. Die Metamorphose vom satten Gras bis zur endlosen Produktpalette im Supermarkt kann man im Appenzeller Volkskunde-Museum in Stein nachvollziehen. Eine nachgestellte Alpkäserei versetzt den Städter in die traditionelle Arbeitswelt der Sennen zurück. Gleich nebenan stellt sich die moderne Schaukäserei dem Vergleich. Statt Holztanze, Kessi und geküferten Käseformen regiert hier der sterile Edelstahl, statt der braunen Ladenhose der weiße Kittel. Strom hat die Holzfeuerung vertrieben. Hightech auf Knopfdruck. Die Romantik hat den Ansprüchen an Hygiene und Wirtschaftlichkeit Platz gemacht. Nur das Braunvieh wird noch wie vor siebenhundert Jahren jeden Sommer auf die Alpen gebracht. Ihre Milch bringt der Bauer in Kannen zum Stand an die Straße, wo Tankwagen sie abholen und in die modernen Käsereien bringen. Dort entstehen mehrere Millionen vollfette und viertelfette originale Appenzeller Käse.

Wie überall, wo man am Alten hängt, wird viel gefeiert. Folklore und Feste prägen immer noch den Jahreskalender. Höhepunkt im Leben der Sennen sind die Alpfahrten zweimal im Jahr. Der sommerliche Weidegang beginnt nach altem Brauchtum im Mai mit einem festlichen, choreografisch geordneten Aufmarsch. Vorneweg die Ziegen, die von einem Jungen in Senntracht getrieben werden. Der Senn folgt im Feststaat, einer schmucken roten, fein bestickten Tuchweste, weißem Hemd, knallgelben Knielederhosen und messingbeschlagenen Hosenträgern. Im rechten Ohr trägt er das Ohrschuefe, auf dem Kopf den schwarzen Fladenhut mit farbigen Bändern und Stoffblumen. Hinter ihm trotten die drei schönsten Kühe mit aufeinander abgestimmten Senntumsschellen, die an kunstvoll verzierten Riemen um den Hals baumeln. Den Abschluss bilden die Bauern, der Rest des Braunviehs, ein Pferdewagen mit den Alpgerätschaften und, zu guter Letzt, die Schweine. Ebenso prachtvoll wird die Alpabfahrt im Herbst zelebriert, wenn die Sennen mit ihrem Braunvieh Ende August von den Alpen ins Tal zurückkehren, um im Dorf zu überwintern.