Gruseln in Gruyères
Von Aliens mit Vorlieben zu Käse und Schokolade
Haben Sie den Film »Alien« gesehen? Vielleicht nicht jedermanns Geschmack, aber hundertsiebzehn Minuten Gruselstimmung sind garantiert. Unter Cineasten gilt er als einer der größten Science-Fiction-Klassiker der Filmgeschichte. 2009 lief der fünfte Teil der Horrorsaga aus dem Weltraum an.
Und ausgerechnet in der lieblichen Voralpenregion, in dem puppenstubenartigen Burgdorf Gruyères, kann man es sehen, das extraterrestrische Monster, das sonst auf einem öden, staubtrockenen Planeten haust, in Eiern heranwächst und in dessen Adern Säure fließt.
Vor gut fünfundzwanzig Jahren kam Alien erstmals in die Kinos, dieses unheimliche, intelligente, das von einem ausgeprägten Tötungsdrang beseelte Wesen. Sein Schöpfer ist der Schweizer Surrealist H. R. Giger. Der Maler, Bildhauer und Designer erhielt 1980 den Oscar für den Entwurf des Alien und die Spezialeffekte in dem von ihm erfundenen »biomechanischen Stil«. Doch der Zuschauer hat das Alien im Ridley-Scott-Streifen nie richtig zu Gesicht bekommen. Seit 1998 sind diese und andere Werke Gigers in seinem Museum Château St. Germain innerhalb der Mauern des Burgdorfs Gruyères zu sehen, darunter Designs zu den Filmen Alien 1 und 3, Poltergeist 2, Species und Dune, allesamt Gänsehaut-Movies. Wer nach der Besichtigung einen Drink braucht, kann in der Giger-Bar gleich gegenüber noch etwas nachgruseln. Sie vermittelt neugotisches Kathedralenflair, wenngleich die ausgestellten Skulpturen kein bisschen an himmlische Wesen erinnern.
So gestärkt, verdrängt die heimelige Szenerie des Burgdorfs den Zelluloid-Vielfraß in den Orbit. Über den Türmen der Grafenburg von Gruyères weht friedlich das Schweizer Kreuz auf rotem Grund, auf den Almen ringsum weiden seelenruhig braune Milchkühe. Statt schriller Alien-Schreie tönen lauschig Alphörner, am Eingang zum Schloss hüpft ein Narr von einem Bein aufs andere und bläst dazu die Flöte.
Wieso Giger sein grauenerregendes »Zentrum für Phantastische Kunst« wohl ausgerechnet in dem beschaulichen Gruyères eingerichtet hat? Twentieth Century Fox hätte hier genau so gut einen Historienfilm produzieren können. Die Ringmauern sind bestens erhalten, das Kopfsteinpflaster herrlich blank gewetzt, und mit dem übrigen Equipment kann der Schauplatz als Inbegriff einer kampferprobten Festung aus dem Mittelalter gelten. Auf dem hundert Meter hohen Felssporn besetzen Château Gruyères und Château St. Germain, Schlossgarten, Kirchlein, Wohnhäuser, Haupt- und Nebengassen, drei Tore und ein Brunnen das Areal von gut zehntausend Quadratmetern. Vor dem geistigen Auge erscheinen Ritter auf tänzelnden Rossen, Balladen schmetternde Minnesänger und verlumpte Marketender. Jährlich wird das Burgdorf deshalb von Tausenden Touristen gestürmt, womit es nach Chillon am Genfersee die meistbesuchte Ortschaft in der Alpenrepublik ist.
Die Greyerzer Grafen, die zu den bedeutendsten Geschlechtern der Westschweiz zählten, lieferten sich mit ihren Kollegen aus Bern und Fribourg so brutale Schlachten, dass selbst Aliens Respekt bekommen würden. Berühmt berüchtigt ist die Bataille von 1476, in der Graf Ludwig bei Murten gegen Karl den Kühnen ins Feld zog, weil jener Frankreich von der Nordsee bis nach Italien erweitern wollte. Auf den Gobelins und Wandgemälden im Greyerzer Schlossmuseum ist jede Menge blitzendes Eisen abgebildet: Rüstungen, Schilde, Lanzen und Schwerter von einem Kaliber, dass man schon ein rechter Alien-Predator sein muss, um sie schwingen zu können.
Heute ist das Château Gruyères zur kulturellen Erbauung da, mit wechselnden Kunstausstellungen und Konzerten. Sein Profil entstand in der Renaissance, als die Burg in ein Schloss verwandelt wurde. Die neuen Herren wendeten sich schöngeistigeren Dingen zu. Bis ihnen das Geld ausging, Gruyères 1798 seinen Status als Stammsitz verlor und fast in Vergessenheit geriet. 1848 kaufte die Genfer Künstlerfamilie Bovy die Immobilie und machte sie sich und ihren Künstlerfreunden zur Spielwiese. Darunter war auch der französische Maler Camille Corot, der im Corot-Saal vier Medaillons schuf. Im Musikzimmer steht ein echter Liszt-Flügel.
Es ist nicht überliefert, ob Aliens Käse mögen. Es ist aber auch nicht überliefert, dass Käse sie abwehrt, etwa wie Knoblauch die Vampire. Gruyères ist ja nicht nur Burg, sondern auch Hochburg des berühmten Käses Gruyère (französisch) oder Greyerzer (deutsch), der hier in fast jedem Geschäft zu haben ist. Er dient vor allem als Basisstoff für das Schweizer Fondue. Der Kanton Fribourg schwärmt für die Moitié-moitié-Variante, bei der fifty-fifty Gruyère und Vacherin in den Topf kommen. Kein Restaurant, in dem es nicht auf der Karte stünde. Die Schaukäserei unterhalb der Burg zeigt den Herstellungsprozess, wie aus Milch Gruyère-Käse wird.
Ebenso wenig ist bekannt, ob Aliens in Schokolade eine zarte Versuchung erkennen. Ob es sie womöglich zu den in Gruyères Nachbarschaft liegenden Schokomanufakturen ebenso zieht, wie die Erdenbürger. Es bleibt ein süßes Geheimnis. Der zartschmelzende Stoff ist nämlich die süße Seite von Gruyères. Den Süchtigen treibt es erst nach Broc, wo er das Nervenzentrum der Chocolaterie besuchen kann: Nestlé-Cailler, die älteste noch existierende Schokoladenmarke der Schweiz.
Ein bisschen fühlt man sich im benachbarten Ort La Roche dann wie im Film »Chocolat«, und man würde sich nicht wundern, träfe man in der »Pâtisserie de la Roche« Juliette Binoche. Zig Pralinés, Trüffel, Petit Fours und Osterhasen, alle handgefertigt, und die Lust ist kaum zu bändigen. Patissier Stéphane Vitali gibt Seminare zum Selbermachen von Schokolade. In seiner Manufaktur riecht es streng bitter-säuerlich nach der Kakao-Rohmasse. »Wollt ihr weiße, braune oder schwarze?«, fragt Stéphane. Je heller die Schokolade, desto weniger Kakao enthält sie. Schwarze Schoggi besteht zu siebzig Prozent aus dem »Gold der Maya«. »Wir nehmen nur echte Kakaobutter, nicht das billige Kokosöl«, betont der Chocolatier. Das ist doppelt so teuer, aber geschmacklich unschlagbar.
Stéphane hat die gut gerührte Schokomasse flüssig gemacht und kühlt sie auf zweiunddreißig Grad ab, damit sie in der Form haftet. Die meisten entscheiden sich für die Form »Schweizer Kuh«. Zusammengeklammert kommen die Hälften in den Kühlschrank. Danach lassen sie sich gut lösen und werden verziert. Wer weiß, vielleicht wird es ja auch mal einen Schoko-Alien geben. Nachweislich macht Süßes glücklich, und immer nur Menschen zu fressen, ist bestimmt kein Zuckerschlecken.