Am Schluss möchte ich einen Perspektivenwechsel vornehmen: von den Kriegsenkeln zu den Kriegskindern. Stellvertretend kommt Gabriele Heinen* zu Wort, Pfarrerin, 1942 geboren. Ihre Geschichte konzentriert sich auf die Beziehung zu ihrem Sohn Bastian*. Seit ihrem Ruhestand lebt sie mit ihrem Mann wieder in der Landschaft ihrer Kindheit, in der holsteinischen Schweiz. Wie bei vielen Kriegskindern wirkt das Gesicht der 67-Jährigen überraschend jung. Nur beim Lesen braucht sie eine Brille. Dazu kommt eine immer noch robuste Gesundheit, an der sie nicht ganz unbeteiligt ist, da sie bis heute jeden Tag einige Kilometer läuft. Gabriele Heinens hochgestecktes Haar ist dezent braun gefärbt, gerade genug, um das Grau zu verdecken.
Während unseres Gesprächs trägt sie einen Jogginganzug und Laufschuhe. Sie will danach noch eine Runde um einen wunderschön gelegenen See drehen. Auf dem Tisch neben meinem Aufnahmegerät liegt ihr MP3-Player. Sie hört Rockmusik beim Joggen. »Eine Probe gefällig?«, fragt sie und hält mir die Kopfhörer hin: »Sympathy for the Devil« mit den Rolling Stones. Sie lacht über mein ungläubiges Gesicht und meint: »An der Musik unserer jungen Jahre hängen wir ein Leben lang.«
Und dies sind ihre Lebensstationen: in Pommern auf die Welt gekommen, Flucht, Kindheit in Schleswig-Holstein, Abitur, Studium der Theologie in Tübingen, Gemeindepfarrerin in einer mittelgroßen Stadt in Niedersachsen. Auch sie, die zu den Kriegskindern gehört, die noch relativ gut davon gekommen waren – die Flucht verlief vergleichsweise friedlich –, machte einschneidende Erfahrungen, die sie nur scheinbar verkraftete: der Verlust von engen Verwandten und der vertrauten Umgebung [292]als Kleinkind, bittere Not, Kälte und Diskriminierungen während des Überlebenskampfes im Westen, eine auf vielfache Weise überforderte Mutter, eine zerstrittene Verwandtschaft und Großeltern, die ihre Enkel mit Schlägen straften, dazu Vaterlosigkeit bis zu ihrem 10. Lebensjahr. Den Vater schildert sie als einen durch seine Verstrickung in die NS-Zeit und die Kriegsgefangenschaft gebrochenen Mann. Bis in die späten fünfziger Jahre hinein war ihre Familie arm. All das führte in ihrem späteren Leben, wie Gabriele Heinen heute weiß, zu einer ausgeprägten Stressanfälligkeit.
Die Pfarrerin betont, sie sei nicht nur protestantische Theologin, sondern vor allem auch feministische Theologin. In den siebziger Jahren hatte sie die ersten Tagungen dazu auf den Weg gebracht. An der Unruhe, die durch die feministische Theologie in die evangelische Kirche eindrang, war sie maßgeblich beteiligt. Darauf ist sie bis heute stolz. Als sie heiratete, war sie noch Studentin. Ihr Mann, ebenfalls Theologiestudent, bekam zuerst eine Pfarrstelle, obwohl sie eindeutig die besseren Examensnoten hatte. Sie fühlte sich diskriminiert und setzte sich heftig zu Wehr. So erwarb sie sich schon früh den Ruf einer streitbaren Kollegin. Für ihren Mann bestätigte sich im ersten Pfarrerjahr, was er schon während seiner Ausbildung als Vikar empfunden hatte: Er war für die Arbeit in der Gemeinde einfach nicht gesellig genug. Im Grunde empfand er sich als Privatgelehrter. Er wollte forschen und veröffentlichen. Daher meldete er der Kirchenleitung, er würde seine Pfarrstelle gern an seine Frau weitergeben, und so geschah es.
Ungewöhnliche Rollenverteilung
Eigentlich wollte Gabriele Heinen keine Kinder haben, weil sie wusste, wie schwer es für Frauen war, einen anstrengenden Beruf mit der Mutterrolle in Einklang zu bringen. Aber dann [293]wuchs der Kinderwunsch und sie bekam mit 28 Jahren ihren Sohn. Die Schwangerschaft habe sie sehr genossen, erzählt sie, auch die ersten Wochen mit ihrem Kind. Damals durften berufstätige Frauen, die entbunden hatten, nur acht Wochen ihrer Arbeit fern bleiben. Elterngeld gab es nicht.
Pfarrerin Heinen sorgte für das Familieneinkommen, sie musste es und sie wollte es. Während des ersten halben Jahres ließen sich Mutterschaft und Beruf noch recht gut vereinbaren. »Mein Kind hatte sich meinem Rhythmus angepasst. Es schlief tagsüber viel und war abends lange wach«, erzählt sie. »Wir hatten also die schönen gemeinsamen Abende.« Durch verschiedene Faktoren, die hier nicht weiter erwähnt werden, stieg die Arbeitsbelastung in der Gemeinde. Neue Aufgaben waren hinzugekommen. Gabriele Heinen beschreibt es als einen schleichenden Prozess. »Man merkt es erst nicht, dass man chronisch überlastet ist. Aber die Familie merkt es. Vor allem litt sie, weil ich zu Hause häufig in abwesende Zustände geriet. Ich war dann emotional nicht erreichbar.« Lange Zeit konnte sie entsprechende Klagen ihres Mannes nicht nachvollziehen. Sie dachte: Ich tue doch, was ich kann. Warum reicht ihm das nicht? »Erst viel, viel später«, erläutert sie mir, »wurde mir bewusst: Wenn ich Stress hatte, wenn ich mich beruflich überlastet fühlte, bin ich sozusagen verschwunden – aber nur zu Hause, nicht während der Arbeit. Ich war nicht etwa mit meinen Gedanken ganz woanders, sondern ich hielt mich im Nirgendwo auf. Man merkt es selbst nicht, und man glaubt es nicht, wenn andere es sagen. Darum kann man es auch nicht abstellen.«
Gabriele Heinen spricht in ihrem Fall von einem inneren Spaltungsprozess und erklärt mir den unbewussten Vorgang so: Da gab es das Ich der berufstätigen Frau, das gut funktionierte und sich auch weiter entwickelte. Pfarrerin zu sein empfand sie als Berufung. Als Seelsorgerin war sie sehr gefragt, vor allem auf Grund ihrer Wärme und ihres Einfühlungsvermögens[294]. »Aber der andere Teil, das andere Ich, ist bei Stress immer in Panik geraten«, berichtet sie. »Und diesen Teil hat leider meine Familie abbekommen.« Von der leichten Seite des Lebens kannte sie früher zu wenig. Sie konnte sich nicht gut entspannen und empfand eine regelrechte Abneigung gegen Spiele. Erst viel später, als Großmutter, lernte sie, wie vergnüglich und erholsam Karten- und Brettsspiele mit Kindern sein können.
Ihr unverarbeitetes Trauma belastete den Sohn
Auch wurde ihr von der Familie vorgehalten, sie sei oft unbegreiflich kühl und distanziert. »Aber ich fand den Vorwurf ungerecht«, sagt sie. »Ich konnte das damals nicht sehen, weil ich wusste, es stimmt nicht. Das Gegenteil wurde mir in meinem Berufsalltag ja immer wieder bestätigt. Dort hatte ich einen beruhigenden Einfluss auf Menschen.«
Darüber hinaus erfahre ich von Gabriele Heinen, sie sei über lange Zeit immer wieder depressiv gewesen – »aber funktionierend depressiv, sehr zuverlässig, nicht inaktiv« –, und auch hier habe es die Trennung von beruflich und privat gegeben: Von ihrer Verzweiflung sei nur ihre Familie belastet worden. Auch habe sie unzählige Ängste entwickelt, darunter die Angst, Aufzug zu fahren oder in einen Bus zu steigen. Das sei fast 20 Jahre lang so gewesen. In ihrem Beruf sei sie noch einigermaßen mit ihren Einschränkungen klar gekommen, die sie dann in ihrem Privatleben umso stärker behinderten, weshalb sie sich schließlich professionelle Hilfe geholt habe.
Mit Anfang Vierzig begann sie eine Psychoanalyse, in deren Verlauf sich ihre Ängste verabschiedeten. Damals wusste man noch wenig über die Auswirkungen von Traumata. Gabriele Heinen glaubt rückblickend, es habe noch weitere zehn Jahre gedauert, bis sie verstand, dass sie sich in ein funktionierendes und in ein häufig äußerst verzweifeltes Ich aufgespalten hatte. [295]Auf diese Weise habe ihre Psyche versucht, mit den frühen seelischen Verletzungen fertig zu werden, erklärt sie. »Das leistungsfähige Berufs-Ich hatte keine Verbindung zu dem zweiten Ich. Es hatte kein Verständnis für das Ich in Not.«
Die Wahrnehmung des Anderen anerkennen
Erst nach und nach habe sie begriffen, dass ihr unverarbeitetes Trauma, vor allem durch ihr »Nicht anwesend Sein« auch bei ihrem Sohn Bastian Spuren hinterlassen hatte. »Später, als er schon lange erwachsen war, erzählte er mir, wie sehr er unter dem Gefühl gelitten hatte, ich kann die Mutter nicht erreichen. Und ich habe ihm bestätigt: Ja, das war so. Es tut mir leid. Aber es war so.« Sie denkt einen Augenblick nach, dann fügt sie hinzu: »Für Bastian war es sehr wichtig, dass seine Wahrnehmung von mir anerkannt wurde. Es ist mir auch nicht schwer gefallen, das zu sagen.« Auf Grund ihrer Erfahrungen in der Seelsorge weiß sie, wie viel schneller seelische Verletzungen heilen, wenn Mutter und Vater in der Lage sind, ihren erwachsenen Kindern gegenüber zuzugeben, sie als Eltern hätten etwas falsch gemacht. Aber sie weiß auch, wie selten es geschieht. »Dabei würde es schon reichen, wenn Eltern sagen: Ja, du hast es schwer gehabt, und wir haben unseren Teil dazu beigetragen.«
Sie fügt hinzu, zum Glück sei sie früher nicht die einzige Bezugsperson ihres Sohnes gewesen. Ihr Mann, der zu Hause arbeitete, und auch ihre Schwester – beide lebensfroh und einfühlsam – hätten bei Bastian viele von Mutters Versäumnissen ausgleichen können. Aber eben nicht alle. Gabriele Heinen kommt auf eine entscheidende Einsicht zu sprechen: »Als die Ehe meines Sohnes immer schwieriger wurde, erkannte ich: Bastian hatte eine Frau geheiratet, die der Mutter seiner Kindheit glich. Seine Partnerin war depressiv und hatte massive Selbstwertprobleme, genau wie ich früher. Sie war zudem [296]enorm unterstützungsbedürftig. Auch hier ergibt sich eine Ähnlichkeit zu mir: Im Grunde hätte ich im großen Umfang Beistand und Hilfe gebraucht, nur habe ich es mir nicht eingestehen können.« Stattdessen baute sie beruflich das Bild der »Power-Frau« aus. Gabriele Heinen glaubt, es sei für ihren Sohn hilfreich gewesen, als sie ihn während seiner Ehetrennungsphase auf die Parallele zwischen seiner Frau und seiner Mutter hinwies.
Auch Bastian Heinen studierte Theologe, aber anders als seine Mutter entschied er sich für eine Hochschullaufbahn. Auf meine Nachfrage betont die Mutter, ihre Beziehung zum Sohn sei nie schlecht gewesen. Doch ihren Schilderungen entnehme ich: In dem Maße, wie es Gabriele Heinen gelang, Schritt für Schritt ihre traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten und sich damit seelisch zu entlasten, verbesserte sich die Mutter-Sohn-Beziehung. Gegenseitiges Verständnis und ihre gemeinsamen Interessen stehen heute im Vordergrund. Im vergangenen Jahr veranstalteten Gabriele und Bastian Heinen während einer Tagung sogar zusammen ein Seminar. »Von den Teilnehmern wurde gesagt, wie sehr es sie verblüfft, dass Mutter und Sohn so gut aufeinander eingespielt sind«, erzählt Gabriele Heinen nicht ohne Stolz. »Unsere Rollen waren genau aufgeteilt. Jeder hat sein berufliches Know-how eingebracht. Wir sind wirkliche Partner gewesen!«
Traumabehandlung mit 15 Jahren Verspätung
Gabriele Heinen ist in vieler Hinsicht eine Ausnahme: eine Frau, die schon in den sechziger Jahren in ihrer Familie die Ernährerrolle übernahm und in der Kirche als Feministin auftrat, und die sich professionelle Hilfe holte, damit ihre Seele heilen konnte. In kleinen Schritten über viele Jahre ist es ihr gelungen, sich von den Spätfolgen ihrer Traumata zu befreien. Angehörige [297]ihrer Generation haben nur selten Erfahrungen mit Psychotherapie. Und wenn doch, dann blieb der Gewinn oft hinter den Erwartungen zurück. Viele Kriegskinder wurden in ihrem späteren Leben immer wieder oder durchgängig mit Depressionen, Ängsten oder anderen psychosomatischen Erkrankungen belastet, ohne zu wissen, dass ihnen seelische Verletzungen aus dem Krieg zu Grunde lagen. Die Psychotherapeuten waren genauso ahnungslos. Leider wurden hierzulande die Erkenntnisse der Traumaforschung aus den USA lange ignoriert, so dass die neuen, viel versprechenden Behandlungsmethoden mit 15 Jahren Verspätung in Deutschlands Fachkreisen ankamen.
Auch heute kommt für die Angehörigen der Kriegskindergeneration Psychotherapie kaum in Frage. Gelegentlich wird ein solcher Schritt erwogen und dann wieder verworfen: Man fühlt sich dafür zu alt oder traut dem Procedere grundsätzlich nichts zu. Den meisten Kriegskindern reicht es, sich mit Gleichaltrigen über das gemeinsame Schicksal auszutauschen. Viele setzen sich hin und schreiben ihre Erinnerungen auf. Sie tun es für ihre Kinder und Kindeskinder. Vielleicht erhoffen sie sich für sich selbst eine gewisse Entlastung. Und womöglich erfahren auch solche Menschen eine Erleichterung, die dies gar nicht erwarteten. Ich möchte hier noch einmal das Zitat des Kriegskinder-Forschers Michael Ermann aus dem ersten Kapitel wiederholen: »Ohne Erinnerungsarbeit gibt es kein Gefühl der Kontinuität des eigenen Lebens – ohne diese gibt es keine positive Identität.« Darum also geht es vielen Kriegskindern, wenn sie sich im Alter ihren frühen Erinnerungen zuwenden: Sie wollen das eigene verunsicherte Lebensgefühl in eine positive Identität verwandeln. Sie spüren, dass sie diesen Weg gehen müssen, um in ihrem letzten Lebensabschnitt inneren Frieden zu finden. Manche alte Menschen nutzen das Aufschreiben ihrer Erinnerungen, um sich selbst gegenüber Rechenschaft abzulegen, auch hinsichtlich ihrer Beziehungen zu den Kindern. Bei ihnen darf man hoffen, dass sie sich in einer Weise auf ihre [298]Kinder zu bewegen werden, wie Gabriele Heinen es tat. Die große Mehrheit wird dafür keinen Grund sehen.
Mein Standpunkt ist: Kriegsenkel, die sich heute noch nicht wirklich abgenabelt haben, tun gut daran, sich von ihren Hoffnungen auf mehr Gemeinsamkeiten mit den Eltern zu verabschieden. Sie sollten sich nicht länger um mehr Nähe bemühen, sondern die Beziehung so akzeptieren wie sie ist. Es wäre für sie wichtig, im Umgang mit Mutter und Vater zwischen Rücksichtnahme und unguter Fürsorge zu differenzieren, mehr Initiative zu zeigen und sich entscheidenden Fragen zu stellen: Will ich beruflich noch einmal durchstarten und endlich mein Potenzial ausschöpfen? Will ich Familie und eigene Kinder? Wenn ja, wie gelingt es mir, mich nicht länger durch meine Fürsorge für die Eltern emotional aussaugen zu lassen? Wie kann ich mich stärker von Mutter und Vater abgrenzen, damit meine Kraft reicht, um die eigene Zukunft zu gestalten?
Eine gewisse Parallele zwischen einer Hemmung in privaten Dingen und gesellschaftlichen Belangen ist für mich unübersehbar: Die Generation der Kriegsenkel nimmt heute verantwortungsvolle Positionen des öffentlichen Lebens ein. Sie hält die Zügel in der Hand und nutzt ihren Einfluss doch viel zu wenig. Für die Generation ihrer Eltern, für die Kriegskinder, ist es von Vorteil, wenn sich gesellschaftlich möglichst wenig ändert – für die Generation der Kriegsenkel gilt das nicht. Von den Auswirkungen eines gigantischen Schuldenbergs oder miserabler Bildungschancen werden die Älteren während der ihnen noch bleibenden Jahre nicht viel spüren. Ganz anders die Kriegsenkel: Wenn auch sie in den Genuss einer ausreichenden Altersrente kommen wollen, wenn ihnen vor einem Sozialstaat amerikanischer Prägung graut, wenn ihnen die Aufrechterhaltung [299]sozialer Gerechtigkeit wichtig ist, wenn sie sich auch künftig auf die Gesellschaft verlassen wollen, dann reicht es nicht, die Zügel in der Hand zu halten und die Kutsche einfach weiter rollen zu lassen. Dann wird ihnen kaum etwas anderes übrig bleiben, als sich bewusst mit ihrer Generation zu solidarisieren und gemeinsam dafür zu sorgen, dass Deutschland wieder zukunftsfähig wird. Man kann die dafür nötigen politischen Entscheidungen mühelos aufschieben, wie es in den vergangenen 15 Jahren geschah. Man kann sie noch weiter aufschieben, womöglich mit der Begründung, als Staat habe man ohnehin keinen Gestaltungsspielraum mehr, sondern sei nur noch unkontrollierbaren globalen Kräften ausgesetzt. So reden vor allem Menschen, die sich nur noch für ihre eigene Lebensspanne interessieren, nicht aber für die Zukunft der Nachkommen.
Ob im Gesellschaftlichen oder im Privaten: Viele Kriegsenkel werden lernen müssen, sich selbst wichtig zu nehmen und notwendigen heftigen Auseinandersetzungen mit den Älteren nicht länger aus dem Weg zu gehen. Grenzziehungen verlaufen selten ohne Konflikte. Aber sie schaffen eindeutige Verhältnisse und einen klaren Blick auf Prioritäten.